Besuch bei einem Atheisten-Verein in Istanbul

Allein unter Grauen Wölfen

Atheisten in der Türkei leben gefährlich. Ein Besuch beim Atheismus-Verein in Istanbul.

Das Vereinslokal liegt in einem Häuserkomplex im Stadtteil Kadıköy auf der asiatischen Seite Istanbuls. Vom Anleger, an dem von der europäischen Seite kommende Fahrgäste der Bosporus-Fähren auf einem weiten Platz von fliegenden Händlern willkommen geheißen werden, sind es fünf Minuten zu Fuß. Kleine Ladenlokale umgeben den Sitz des »Atheismus-Vereins«. Onur Romano, der Medienbeauftragte des Vereins, sitzt mit einer Gruppe Mitglieder an einem langen Tisch, der das Vereinslokal fast ausfüllt.
Der Atheismus-Verein wurde am 16. April 2014 im Istanbuler Vereinsamt registriert. Er hat 200 Mitglieder, die sich keiner Religion zugehörig fühlen, auch wenn sie sich in ihrem Verständnis von Atheismus oft grundlegend voneinander unterscheiden. Pantheisten, Agnostiker und jegliche Gottesvorstellungen ablehnende Istanbuler treffen sich regelmäßig in Kadıköy, dem Viertel der Laizisten. In der Stadtverwaltung sitzt die Republikanische Volkspartei (CHP), viele ehemalige Mitglieder der Streitkräfte oder der kemalistischen Staatsbürokratie leben hier, aber auch viele Studenten und Künstler haben sich hier niedergelassen. »Ich kenne alle Ladenbesitzer hier auf dieser Etage«, sagt Onur Romano. »Hier fühlen wir uns sicher.« Es ist nicht ungefährlich, sich in der Türkei zum Atheismus zu bekennen. »Viele sogenannte Muslime, die meist wenig über ihre Religion wissen, glauben, es sei eine Todsünde, dem Islam zu entsagen«, erzählt Onur Romano. Der 31jährige hat selbst schon harte Konsequenzen aufgrund seiner Überzeugungen hinnehmen müssen. Anfang April wurde er gezwungen, seine Stelle an der Istanbuler Bilgi-Universität zu kündigen. Er hatte dort internationale Beziehungen unterrichtet. Romano war bereits zweimal abgemahnt worden. »Eine dritte Abmahnung konnte ich nicht riskieren, ich wäre dann fristlos entlassen worden und dürfte meine Lehrtätigkeit dort dann nicht einmal mehr in meinem Lebenslauf erwähnen«, erzählt er betrübt. Die Bilgi-Universität ist eine angesehene Privathochschule, die ein Joint Venture mit dem amerikanischen Bildungsträger »Laureate Education« betreibt. Viele internationale Konferenzen finden dort statt, das deutsche Orient-Institut, das ZKM in Karlsruhe und die Universität München sind nur einige der vielen internationalen Partner. Umso ungewöhnlicher sind die Gründe für Onur Romanos Abmahnungen an seiner früheren Arbeitsstelle. »Ich wurde beschuldigt, antireligiöse Propaganda zu machen, dabei hatte ich nur zugegeben, Atheist zu sein, als mich einer meiner Studenten danach fragte«, erzählt er. Eine oder einer der Studierenden muss den Hochschullehrer bei der Verwaltung angeschwärzt haben, vermutet er: »Wir haben viele religiöse Studentinnen, die auf dem Campus Kopftuch tragen dürfen. Da die Erlaubnis dafür im Ermessen der Hochschulleitung liegt, bevorzugen viele ihr Haar bedeckende Studentinnen Privathochschulen. Ich glaube, eine aus diesem Kreis hat mich verraten.«

Vor zwei Wochen wurde in der Türkei die Website des Atheismus-Vereins gemeinsam mit anderen »subversiven« Internetauftritten, wie dem der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, gesperrt. Das Gericht bezog sich bei seiner Entscheidung auf den Paragraphen 216, der die Herabsetzung der Religion und die Verletzung der religiösen Gefühle der Gläubigen und andere »Provokationen« mit Haftstrafen zwischen eine halben und drei Jahren bestraft. Mittlerweile ist die Seite wieder online, die türkische Justiz schafft es derzeit nicht, die umfassende Zensur des Internets durchzusetzen. Eine kleine Veränderung des Domain-Namens ermöglichte den Wiedereintritt in die virtuelle Welt. Dort, aber auch in Seminaren an der renommierten Bosporus-Universität betreibt der Verein seine Aufklärungsarbeit.
»Unsere Konflikte haben wir nicht so sehr mit der Religion, sondern mit den Fanatikern«, betont der Bildhauer Saner Atık. Der 49jährige kommt aus einer frommen sunnitischen Familie, die Mutter stammt ursprünglich aus Albanien, der Vater aus Damaskus. »Der Atheismus wurde mir nicht in die Wiege gelegt«, schmunzelt der nachdenkliche Mann. Es gab da durchaus Schlüsselerlebnisse. Anfang der Neunziger war er mit einer Gruppe von Kommilitonen während des Kunststudiums von der sozialdemokratischen Stadtverwaltung beauftragt worden, eine Ausstellung auf dem Sultanahmet-Platz in der Altstadt zu bestücken. Die Studenten fertigten unter anderem auch figurative Zeichnungen an, wie etwa eine Kopie von Leonardo da Vincis Mona Lisa. »Am Tag nach der Eröffnung fanden wir die Bilder beschmiert vor. Der Imam der Sultanahmet-Moschee hatte das veranlasst, er hielt die Mona Lisa für eine Darstellung der Mutter Maria, die auch im Islam als Heilige verehrt wird.«
Der Jüngste in der Runde ist der 24jährige Ali Kaplan. Er ist Verwaltungsbeamter an einem Gymnasium im religiösen Viertel Karagümrük. Seinen Facebook-Account musste er mittlerweile schließen. Mitglieder der Grauen Wölfe hatten ihn heftig bedroht. »Seitdem trage ich Pfefferspray bei mir«, erzählt Kaplan, der ebenfalls aus einem frommen sunnitischen Elternhaus stammt. Seine Mutter habe geweint, als er ihr von seinem Unglauben erzählte. In der Familie ist sein Atheismus jedoch inzwischen akzeptiert worden. »Aber das ist eine Ausnahme«, sagt Ali Kaplan. »Wenn Sie Atheismus googeln, erscheinen als erste Treffer Videos von Predigern wie Cübbeli Ahmet, dem Anführer einer ultrastrengen Sekte. Dort werden wir als Perverse diffamiert, die Drogen nehmen und Sexorgien feiern.« Alle lächeln, die Atheisten sehen sich als kleine, aufgeklärte Minderheit in einem Meer von naiver bis fanatischer Religiösität. »Im ostanatolischen Van gibt es seit kurzem einen Sharia-Verein‹«, berichtet Onur Romano. »Ihr Anführer droht uns offen mit dem Tode. Er werde persönlich herkommen und uns richten.« Niemand lacht mehr, die Drohung ist angesichts der fundamentalistischen Präsenz in Istanbul nur zu real. Der »Islamische Staat« hat eine Niederlassung in Istanbul, ganz in der Nähe von Ali Kaplans Schule.

Die Atheisten sind ein kleine, schwache Minderheit in der Türkei, international erfahren sie aber durchaus Anerkennung. Vertreter der EU etwa kommen regelmäßig, um mit Religionsvertretern über Religionsfreiheit zu diskutieren. Dort vertreten auch die Atheisten ihr Programm. Die Abschaffung des Blasphemie-Paragraphen 216 steht ganz oben auf ihrer Agenda, wichtige Forderungen sind auch die nach Einrichtung von Krematorien und der Freiheit, den eigenen Körper nach dem Tod für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung zu stellen. Das ist in der Türkei zwar formell nicht verboten, wird in der Praxis aber nicht zugelassen, weil das Amt für religiöse Angelegenheiten die Sezierung von Leichen für unislamisch hält. Auch die Einäscherung gilt als unislamisch, ein EU-Beschluss fordert die Türkei aber unmissverständlich dazu auf, Krematorien für diejenigen zu stellen, die sich eine Verbrennung wünschen. »Wir sind das einzige Land in Europa, das kein Krematorium besitzt«, sagt Onur Romano. Es geht um die Freiheit, sich auch nach dem Ableben nicht von theistischen Heilsvorstellungen vereinnahmen zu lassen. Bislang obliegt der Familie in der Türkei die letzte Entscheidung, was mit einem Verstorbenen geschieht. Auch eine ausdrückliche Verfügung des Einzelnen ändert nichts daran; es gibt keine Partei, die sich für Krematorien einsetzen würde. Ein Unding, findet Onur: »Wenn ein Staat sich als laizistisch definiert, dann haben wir und unsere Ansichten eine klare Existenzberechtigung angesichts der Bevormundung durch die religiös orientierte Mehrheit.«