Sascha Lange im Gespräch über antifaschistische Jugendgruppen der dreißiger und vierziger Jahre

»HJ bedeutete Masse«

Der Historiker Sascha Lange hat sich mit ehemaligen Mitgliedern von Jugendgruppen der dreißiger und vierziger Jahre unterhalten, die sich bewusst von der Hitlerjugend unterscheiden wollten.

In Deutschland entstanden zwischen 1933 und 1945 verschiedene Jugendgruppen, die nicht dem NS-Regime unterstanden und stattdessen ihre eigenen Rituale pflegten. Kann das Motto »Den antifaschistischen Selbstschutz organisieren!« als kleinster gemeinsamer Nenner für diese Gruppen gelten?
Nein. Der Spruch kam in den frühen Dreißigern aus dem linken Arbeitermilieu. Von den Jugendcliquen, um die es in meinem Buch geht, sind die ersten ab Mitte der Dreißiger aktiv geworden. Die hatten keine persönlichen Erinnerungen an die Zeit vorher und die wenigsten waren im linkssozialistischen Milieu verwurzelt.
Verbindet diese Gruppen der Druck durch die Hitlerjugend?
Wir haben heute oft eine nebulöse Vorstellung von der NS-Zeit. 1933 wurden alle Jugendorganisationen verboten wie die linkssozialistische Jugend, zwangsaufgelöst wie die bündische oder zwangseingegliedert in die HJ wie die evangelische. Die katholische Jugendorganisation hatte noch einige Jahre eine Sonderstellung inne. Durch die Eingliederung bekam die HJ – mit bis zu 100 000 Mitgliedern war sie zuvor eine Splittergruppe – eine Millionenbasis. Aber die omnipräsente Jugendorganisation, wie wir das heute aus Dokumentationen kennen, war sie nie. 1935 war zwar auf dem Papier die Hälfte der Jugendlichen zwischen zehn und 18 Jahren formal Mitglied. Aber es gab gar nicht genug Führer und Kapazitäten, um die alle zu organisieren. Für Jugendliche, die sich aus verschiedenen Gründen nicht für die HJ interessierten, gab es Möglichkeiten, sich vor ihr zu drücken. Die Mitgliedschaft war bis 1939 freiwillig, auch wenn es natürlich sozialen Druck gab. Bei Kriegsbeginn wurden zudem die älteren HJ-Führer eingezogen, daher bestanden viele Gruppen nur auf dem Papier und Jugendarbeit fand nicht statt. Das machte die wilden Cliquen noch interessanter, zumal sich dort Mädchen und Jungen trafen.
Was waren das für Cliquen?
Es gab Cliquen, die an irgendwelchen Ecken im Viertel herumlungerten – nicht nur in den Großstädten. Zu denen stießen die Arbeiterjugendlichen fast zwangsläufig. Für Tanzpaläste und Kino fehlte ihnen das Geld. Am Wochenende ging es dann zum Zelten hinaus in die Natur, wo man sein ungezwungenes Jugendleben führen konnte. Um sich von der HJ und den Erwachsenen abzugrenzen, nutzte man bestimmte Kleidung. Das waren kurze Hosen und karierte Hemden, sozusagen sportliche Bergsteigerklamotten. Bestimmte Abzeichen wie Totenköpfe, Edelweiß oder rote Halstücher kamen noch dazu. Man hob sich damit klar von der HJ ab, was schnell zu Konflikten führte.
Meuten, Blasen, Piraten: Sie listen eine verwirrende Flut von Namen auf. Sind das Selbstbeschreibungen der Gruppen?
Die Cliquen haben sich in den wenigsten Fällen selbst Namen gegeben. Die wurden ihnen von außen durch HJ und Gestapo aufgedrückt, wie auch der Begriff »bündische Jugend«. Die gab es gar nicht mehr, aber das Wort geisterte als Mythos herum und wurde auch zur Eigenbezeichnung: »Ich bin nicht HJ, also muss ich bündisch sein.« Wichtiger als die Namen waren aber die Treffpunkte für den Zusammenhalt.
Dann gab’s noch die Swings?
Parallel zu den Arbeiterjugendcliquen trafen sich bürgerliche Jugendliche. Auch dort stellte man sich die Frage: Was mache ich jenseits der HJ? Da bot sich für viele amerikanische Jazz- und Swingmusik als Fluchtpunkt an. Dieser modernere Lifestyle war bei Tanzveranstaltungen und in Kinos präsent, es gab bis Ende der dreißiger Jahre diese Platten zu kaufen. Jugendliche wollen sich ja immer auch von der Masse abheben und HJ bedeutete Masse. An schmutzigen Ecken wie die Arbeiterjugend wollten die bürgerlichen aber nicht abhängen, da war der gepflegte Kleidungsstil und der Habitus der Filmstars attraktiver.
Ist das vergleichbar mit der Konkurrenz zwischen Punks und Poppern?
Könnte man sagen. Die Meuten und Edelweißpiraten waren eher proletarisch-punkermäßig orientiert, man prügelte sich auch schnell mal mit der HJ. Den Swings ging es vordergründig um die Pflege ihrer Kultur, man traf sich in Tanzlokalen. Es war die erste Jugendkultur der Moderne, die sich um Musik, Tanz, Kleidung und Attitüde drehte.
Waren auch Frauen dabei?
Die Quellenlage ist schwierig, aber ein Viertel bis die Hälfte der Mitglieder war weiblich. Manchmal wurde ihnen eine etwas passivere Rolle zugewiesen, aber nichtsdestoweniger fanden sie in der Regel dort als gleichberechtigte Mitglieder ihre soziale und kulturelle Heimat und gestalteten sie mit. Die NS-Verfolger sahen in ihnen gemäß ihrem Frauenbild nur Lockvögel, die dazugeholt wurden, um andere Jungs anzuziehen. Deswegen wurde gegen sie oftmals nur wegen Kuppelei ermittelt.
Welche Sanktionen mussten diese Jugendlichen befürchten?
Viele Jugendliche gingen in der Anfangszeit mit der drohenden Verfolgung geradezu unbekümmert um. Sie glaubten ja nicht, etwas Verbotenes zu tun, wenn sie sich zum Tanz trafen oder in kurzen Hosen auf Fahrt gingen. Klar, man suchte die Provokation, war aber nicht unbedingt darauf aus, strafrechtlich belangt werden zu können. Aus heutiger Sicht scheint es überraschend, wie viel Freiraum sie sich genommen haben.
Wie sahen Opposition und Widerstand aus?
Die von mir verwendete Widerstandsdefinition nach dem Historiker Detlev Peukert ist eng gefasst und bleibt lediglich politisch bewussten Aktionen vorbehalten, die sich fundamental gegen den NS gerichtet haben. Das finde ich auch gut so, damit nicht alles, was nicht NS-konform war, gleich Widerstand genannt wird. Man braucht gerade für Deutschland abgeschwächtere Begriffe wie Opposition und Nonkonformität, weil es einen breiten Widerstand wie etwa in Frankreich oder Osteuropa nicht gegeben hat. Unter Opposition und Nonkonformität fallen eben die Jugendcliquen. Dort hat es teilweise fließende Übergänge gegeben, es gab Ansätze zur Konspiration, wie Pläne zur Sabotage oder zum Flugblätterverteilen. Dann wird aus Jugendopposition eine Widerstandshandlung. Es gab in Köln Graffiti, HJ-Schaukästen wurden in Leipzig zerstört. Das waren dann Dinge, wo es den Jugendlichen nicht mehr nur darum ging, in Ruhe gelassen zu werden. Die Schikanen durch die HJ, die Vorladungen, das zwangsweise Haareabschneiden, all das führte zur Politisierung. Das gab den Betroffenen noch mehr Grund, die HJ abzulehnen. Das ist bislang zu wenig gewürdigt worden, dass es neben der Weißen Rose und den anderen viel zu wenigen Jugendlichen aus dem Widerstandsmilieu eben tausendfach eine jugendliche Verweigerungshaltung gegeben hat.
Woher rührt diese Nichtbeachtung?
Einerseits aus einem ideologischen Widerstandsbegriff. In der DDR hat man mehrere Jahrzehnte nur die Kommunisten, in Westdeutschland nur die Weiße Rose und Stauffenberg gewürdigt. Hier gab es erst ab den späten Siebzigern die Erkenntnis, dass auch Oppositionshaltungen und -handlungen existierten. In der Wissenschaft sind oppositionelle Jugendgruppen seit den Achtzigern bekannt. Dass ihnen trotzdem kaum Aufmerksamkeit zuteil wird, liegt auch daran, wie Medien funktionieren. Hast du einen Zeitzeugen, der eine berührende Geschichte erzählen kann? Hat man ein niedliches Foto von Sophie Scholl, an dem man zeigen kann, was für ein hübsches Mädchen von den Nazischergen hingerichtet worden ist, oder hat man so etwas nicht? Es gibt halt keinen Filmschnipsel von einer Edelweißpiraten­clique, die sich an einem See trifft. Stattdessen zeigt man uns die HJ-Aufmärsche. Zudem glauben viele Medienmacher, dass jugendkulturelle Themen die breite Masse nicht interessieren.
Warum fühlte sich der NS-Staat durch die Jugendgruppen so herausgefordert?
Die ganze Jugend hatte in der HJ zu sein. Aber viele wollten lieber ihr eigenes Ding machen. Darum hat man alle Mittel des Zwangs genutzt, zum Beispiel Einweisungen in Arbeits- und Konzentrationslager. Es gab zahllose Prozesse gegen oppositionelle Jugendcliquen, 1938 in Leipzig sogar vor dem Volksgerichtshof wegen »Vorbereitung zum Hochverrat«. In Köln führte die Gestapo eine Kartei mit 3 000 Namen von Edelweißpiraten. Nach dem NS-Verständnis helfen ja einzig harte Strafen, was natürlich Unsinn war. Keiner dieser inhaftierten Jugendlichen ist überzeugter Nazi geworden. Man hat sie vielleicht für eine Zeit eingeschüchtert, aber nicht ihre Einstellung geändert.

Sascha Lange: Meuten, Swings & Edelweißpiraten. Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus. Ventil-Verlag, Mainz 2015, 224 Seiten, 17 Euro