»Ausprobiert«: Spazierengehen

Sobald es anstrengend wird, hat man verloren

»Ausprobiert«, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fernsehen faszinieren. Teil 7: Spazierengehen – der große Gegenentwurf zum Joggen.

Es gibt keine Sportart, die ich mit besonderer Konsequenz verfolge – bis auf das Spazierengehen. Nein, nicht mit Nordic-Walking-Stöcken in den Pfoten oder in lächerlichen bunten Strampelanzügen. Auch nicht mit Musikknöpfen im Ohr oder der Zeitung unterm Arm. Mit Arbeit hat Spazierengehen nichts zu tun, ja die Abschaffung von Arbeit ist sogar das ganze Ziel der Übung. Spazierengehen ist in erster Linie ein Denksport – handelt es sich doch um die gedankliche Organisation von Zwecklosigkeit. Natürlich hat man ein Ziel – eine bestimmte Gegend ansehen, ein gutes Wetter oder eine momentan aufgehellte Stimmung ausnutzen. Aber das alles hat gleichsam zufällig zu erfolgen. Karten und Navi sind tabu, ebenso Wege, die querfeldein führen. Dagegen muß viel gerastet, geguckt und gebrotzeitet werden. Sobald es anstrengend wird, hat man verloren. Ganz allgemein ist man verpflichtet, sich so zu bewegen, als wäre man von einer fremden Macht auf einem neuen, viel angenehmeren Planeten ausgesetzt worden, den man in aller gebotenen Zurückhaltung erkundet.
Ich möchte ein gutes Beispiel für eine klassische Spazier-Partie schildern. Vor einer Weile hörte ich von einem mir bis dato unbekanntem Frankfurter Park, dem Huthpark. Aus zweierlei Gründen war ich von diesem Ziel wie verzaubert. Erstens allein durch den Umstand, daß mir nach mittlerweile sieben Jahren Wohnhaft in Frankfurt die Existenz einer kompletten Parkanlage verborgen geblieben war. In meiner Phantasie gewann die Anlage den Reiz eines Bermuda-Dreiecks, eines versunkenen Aztekentempels. Das zweite war der Name: Der Volks­park auf dem Huth, wie er ursprünglich hieß, weckte wiederum gedankliche Bilder von betuchten Damen mit übergroßen Hüthen, die promenierten oder gar lustwandelten – aber auch ein Park, in dem man auf der Huth sein muß, vor Räubern, Gelichter oder streunenden Homosexuellen, wirkte sehr anziehend auf mich. Also fuhr ich los, nahm versehentlich den falschen Bus, landete in der Nähe des ebenfalls sehr reizvollen Campus Westend, schlenderte dort eine halbe Stunde herum, kaufte mir ein Schleckeis und ging hochzufrieden nach Hause. Massive Projektionsleistung bei minimalem körperlichen Einsatz – kein Wunder, daß mir dieser Spaziergang später den zweiten Preis bei den hessischen Regionalmeisterschaften einbrachte.
Die Einsparung körperlicher Arbeit ist für das Spazieren so essentiell, daß ich es mit dem Joggen für unvereinbar erklären möchte – wobei ich zum Joggen allerdings eine besondere Beziehung unterhalte. Eine Zeitlang joggte ich tatsächlich, und wirklich gern, nämlich im Team mit einem Kumpel aus der Nachbarschaft. Jedenfalls war es dies, was wir seiner Frau erzählten. In Wirklichkeit war »Joggen« ein Codewort für »im Park einen Zwitschern gehen«. Unsere Selbstbeherrschung war wirklich erstaunlich. Zwei-, dreimal in der Woche gingen wir joggen, bei schönem Wetter sogar viermal. Oft kamen wir dabei bis an unsere Leistungsgrenzen, entsprechend zerschlagen fühlten wir uns am nächsten Tag. Wir joggten und joggten, bei Regen und bei Sonnenschein, es war schier nicht mehr auszuhalten. Schließlich merkten wir, dass wir uns überschätzt, uns zu hohe Ziele gesetzt, unsere Körper überfordert hatten. Auch der Umstand, dass wir statt rank und schön immer klopsiger wurden, machte uns zu schaffen. Schließlich ließen wir es mit dem Joggen bleiben und trafen uns künftig wieder ganz normal zum Biertrinken.
Denn in Wirklichkeit ist Joggen ja eine ziemlich traurige Sache. In den allermeisten Fällen sind Jogger bloß verhinderte Spaziergänger – arme Seelen, die nicht zugeben können, dass sie nur die Schönheit der Welt und der Menschen genießen wollen, sondern in grenzenlosem, zähnefletschenden Nutzen- und Leistungsdenken den Aufenthalt im Freien zusammen mit ihrem verwelkten Leib rigoroser Disziplin unterwerfen. Und wenn es nur dabei bliebe, wenn sie ihr Körperregime nur auf den eigenen Leib beschränkten! In den schlimmeren Fällen diszipliniert der Jogger nämlich nicht nur sich selber, sondern alle um sich herum. Sein ganzer Habitus signalisiert: Hier geschieht etwas außerordentlich Wichtiges. Ich bin produktiv, ich liege der Gesellschaft nicht auf der Tasche, ich reduziere meine Pflegebedürftigkeit, meine Krankenkassenprämie. Macht Platz dem fleischgewordenen Bruttosozialprodukt! Schnaufend werden Spaziergänger aufgescheucht, keuchend Kinder auseinandergetrieben wie Taubenschwärme. Der interesselos Schlendernde wird dem Jogger zum lästigen Hindernis, missbraucht dieser doch die Stätten, die zur Stärkung der Volksgesundheit geschaffen wurden. Spaziergänger sind für ihn die Hartz-IV-Empfänger unter den Parkbesuchern: Er missgönnt ihnen schon ihre blanke Existenz, ihre Lust am Atmen und bloßen Dasein.
Der Pilger ist der schlimmste von ihnen. Denn der Pilger ist ein religiöser Jogger. Der Jogger glaubt wenigstens noch, seinem Körper etwas Gutes zu tun, seine Kraft, seine Lebenserwartung, im weitesten Sinne also seine Genussfähigkeit zu steigern. Der Pilger hingegen ist entweder religiös verblendet, verausgabt sich also in sinnloser Erwartung jenseitigen Heils, oder er macht den Kerkeling, sieht die ganze Chose »spirituell« und erwartet Erleuchtung. Meist kommen die Leute aber nicht klüger oder stiller von ihren Pilgertrips, sondern erweisen sich als besonders renitente und schamlos schwatzsüchtige Touristen, die eben nicht mit ihren Urlaubsfotos, sondern auch mit ihrem inneren Erleben renommieren und einem Eindrücke aus ihren verrotteten Seelen­leben unter die Nase reiben, neben dem jedes Bild des Eiffelturms originell aussieht.
Der Spaziergänger verweigert sich in hohen Graden der Erlebnis- und Informationsgesellschaft. Er strebt nicht an, ein Abenteuer zu erleben. Auf keinen Fall soll beim Spazieren etwas Berichtenswertes entstehen – wenigstens darf dies nicht die primäre Absicht sein. Wer mit dem Ziel in den Wald aufbricht, einen lange verschollenen Hinkelstein aufzuspüren, nur um seine Kollegen damit voll schwätzen zu können, ist vieles, aber sicher kein Spazierer. Tatsächlich spaziert man am besten, wenn man so wenig wie möglich weiß und dabei gleichzeitig überhaupt nichts Neues erfährt. Mit zwei Freunden brach ich einmal von der Roten Mühle in Bad Soden auf. Erst gingen wir Richtung Wald, dann fiel uns am Horizont eine Burgruine auf, die wir dann in einigen Stunden erklommen – um schließlich durch ein Fachwerkdörfchen den Weg zurück anzutreten. Tatsächlich waren wir wie durch Zufall einer beliebten und bestens dokumentierten Wanderstrecke gefolgt – da wir aber nichts davon wussten, erschien uns alles neu und charmant, da andererseits die Strecke der Welt bestens bekannt war, gab es auch keine großartigen Berichte zum Besten zu geben, hatte kein Kollege auf der Welt großspurige Erlebniserzählungen zu befürchten. Auch ein sportliches Interesse konnten wir erfolgreich ausschließen, da wir die verbrannten Kalorien im Gasthaus sofort durch diverse Biere ausglichen. In der Bilanz war dieser Spaziergang völlig sinn- und zwecklos – und damit perfektes Kunstwerk.
Wie es immer weniger öffentliche Plätze gibt, also solche, die keinem besonderen Zweck unterworfen sind, wie etwa dem Konsum, dem Sport oder der privaten Nutzung, so wird es schwieriger, überhaupt spazieren zu gehen. Das Handicap steigt unaufhörlich. Sogar ein gewisser politischer Widerstandswille lässt sich dem Spazieren inzwischen unterschieben. Nicht umsonst melden Demonstranten jeder Couleur überall nur mehr »Spaziergänge« an – unter schwerster Polizeibewachung. Ich kann solche Bemühungen nur belächeln. Mehr als Politjogging ist das nämlich nicht.