Die Türkei will drei AKW bauen 

Alles im Griff

Die türkische Regierung plant den Bau von drei Atomkraftwerken. Die Energieversorgung könnte jedoch auch anders sichergestellt werden.

Um etwa halb elf ging am 31. März plötzlich das Licht aus. Ungewöhnlich ist das nicht in Istanbul. Doch kaum jemand in der Stadt ahnte, dass der Stromausfall fast das ganze Land lahmlegte. In Istanbul kam der U-Bahn- und Straßenverkehr zum Erliegen, Reisende saßen in den Waggons fest. Auch in Ankara stoppten die Bahnen, in Fabriken musste die Produktion eingestellt werden. 80 von 81 Provinzen waren betroffen. Seit dem schweren Erdbeben von 1999 hat es in der Türkei keinen ähnlichen Vorfall gegeben.
Die Erklärungen sind beunruhigend. Zunächst schloss die Regierung auch einen Anschlag nicht aus. Das Energieministerium bildete einen Krisenstab. Der Energieminister Taner Yıldız mutmaßte, auch ein Cyberanschlag sei denkbar. Nach etwa anderthalb Stunden meldete der türkische Netzbetreiber Teias, in jeweils 15 Prozent von Istanbul und Ankara sei die Stromversorgung wiederhergestellt worden. Weite Teile des Landes mussten jedoch weiter ohne Strom auskommen. In manchen Stadtteilen Istanbuls brannten bis spät in die Nacht Kerzen in den Wohnhäusern. Insgesamt sei ein Schaden von mindestens 700 Millionen Dollar entstanden, erklärte Yıldız. Nur im ostanatolischen Van gab es Strom, dort kommt die Energie aus dem Iran.

Angesichts der staatlichen Ratlosigkeit erstaunte die Erklärung, die erst zwei Tage später die Öffentlichkeit erreichte. Ein sogenannter Dominoeffekt soll verantwortlich gewesen sein. Bereits in der Nacht auf Dienstag habe es um ein Uhr morgens einen Ausfall in einem Kraftwerk bei İzmir an der Ägäis-Küste gegeben. Dann fiel um zehn Uhr am Dienstag das Thermalwerk in der südostanatolischen Provinz Hatay an der syrischen Grenze aus, 40 Minuten später versagte das Wasserkraftwerk am Tigris. Der Verband Euro­päischer Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E) soll mitverantwortlich sein, das System habe sich bei dem Absturz des gesamten türkischen Stromnetzes ausgekoppelt, teilte das türkische Energieministerium mit.
ENTSO-E ist ein organisatorischer Zusammenschluss von verschiedenen Übertragungsnetzbetreibern, das allerdings keineswegs die Funktion eines automatischen Notstromaggregats einnimmt. Elektrische Energie zwischen den verschiedenen Verbundnetzen kann nur in vergleichsweise geringem Umfang ausgetauscht werden. Warum aber das gesamte türkische Netz komplett ausfiel, konnte niemand wirklich erklären. Auf Facebook und Twitter fragten sich viele Nutzer, wie denn die Türkei die geplanten zwei Atomreaktoren sicher betreiben wolle, wenn nicht einmal das konventionelle System überschaubar sei. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hingegen verkündete noch am Tag des Stromausfalls, die Türkei müsse aufgrund ihres großen Bedarfs noch ein drittes Atomkraftwerk bauen.
Der Stromverbrauch im Land hat sich im vergangenen Jahrzehnt von 130 Milliarden auf 240 Milliarden Kilowattstunden nahezu verdoppelt. Damit ist die Türkei nach China das Land mit dem zweithöchsten Nachfragewachstum bei Erdgas und Strom. Einen Tag nach dem Stromausfall stimmte das türkische Parlament für die Errichtung der zweiten Atomanlage in Sinop an der Schwarzmeerküste. Damit ist die rechtliche Grundlage für den Bau gegeben, mit dem vor zwei Jahren ein japanisch-französisches Konsortium beauftragt wurde.
Das Kraftwerk in Akkuyu an der Mittelmeerküste wird ausgerechnet von Rosatom gebaut, dem umbenannten russischen Nachfolger des sow­jetischen Atomministeriums, das für die Katastrophe von Tschernobyl verantwortlich war. Türkische Atomkraftgegner atmeten auf, als Ros­atom Ende März mitteilte, das Kraftwerk werde nicht vor 2023 fertig gestellt werden.

Das türkische Nuklearprojekt ist höchst umstritten. Der Verband der türkischen Umweltingenieure bemängelte im Dezember vergangenen Jahres, die Entsorgungsfrage beim ersten geplanten Atomkraftwerk des Landes in Akkuyu sei ungelöst. Die Brennstäbe für das Kraftwerk sollen aus Russland geliefert werden, sie müssten nach ihrem Einsatz in Akkuyu aber fünf bis zehn Jahre zwischengelagert werden, bevor sie wieder nach Russland zurück transportiert werden können. Es sei völlig unklar, wo und wie die Brennstäbe in dieser Zeit gelagert werden sollten und ob Russland die Brennstäbe wirklich wieder zurücknehmen werde, stellten die Umweltingenieure fest.
Das Kraftwerk in Akkuyu soll über vier Reaktoren mit einer Gesamtleistung von 4 800 Megawatt verfügen. Atomkraftgegner protestieren seit Jahren gegen das Projekt mit einem Volumen von 20 Milliarden Dollar, ohne bei der Regierung Gehör zu finden. Das türkische Umweltministe­rium hatte anlässlich eines Besuchs des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Ankara am 1. Dezember vergangenen Jahres die Umweltverträglichkeit des Vorhabens bestätigt. An der Mittelmeerküste vertraut kaum jemand darauf.
Tief im Süden der Türkei, nur 270 Kilometer Luftlinie von der Touristenhochburg Antalya entfernt, liegt das Dorf Akkuyu. Nur 25 Kilomter entfernt verläuft eine Verwerfungslinie durch das Mittelmeer. Das ist eine Spalte im Meeresgrund, an der es verstärkt zu tektonischen Bewegungen kommt. Immer wieder bebt die Erde direkt vor der Küste von Akkuyu. Der Geologe Sinan Özeren von der Istanbuler Technischen Universität hält den Bau eines Atomkraftwerkes dort für Wahnsinn: »Es besteht ein erhöhtes Erdbebenrisiko an der Küste gegenüber der Insel Zypern. Die Insel hat eine elliptische Form, fast wie ein U-Boot. Diese Form in dieser Lage leitet Tsunami-Wellen ganz besonders an diesen Teil der Küste.«
Ein Tsunami träfe in Akkuyu, wo das Atomkraftwerk entsteht, auf eine ungeschützte Küste. Ros­atom hat zwar bereits einen Schutzwall um das Gelände gebaut. Tsunami-Wellen würden sich im Falle eines starken Bebens allerdings um Zypern herum ausbreiten und die Küste samt Schutzwall überschwemmen. Ein Ausfall der elektrischen Kühlung, wie in Fukushima, könnte eine Kernschmelze auslösen. Sinan Özeren fürchtet, ein Unfall könnte Folgen für das gesamte östliche Mittelmeer haben: »Das ganze Gebiet bei Akkuyu, aber auch die Ägäis bis hinauf zur Straße von Messina vor Süditalien, würden belastet. Das Mittelmeer ist ja topographisch fast wie ein geschlossenes Becken.«
Die Türkei braucht keine Atomenergie. Wenn es um Stromerzeugung geht, bestehen fast unbegrenzte Möglichkeiten. Es gibt kaum ein Land auf der Erde mit einem so großen Potential an erneuerbaren Energiequellen. In Akkuyu etwa scheint dreimal so viel Sonne wie an den wärmsten Orten Deutschlands. Auf der Dorfmoschee haben die Bewohner von Akkuyu eine Solaranlage installiert. Sie profitiert von durchschnittlich 3 000 Stunden Sonne im Jahr und erzeugt Strom und warmes Wasser. Rund 7 000 Kilometer Küste bieten der Türkei zudem ein enormes Windpotential.
An der Marmara-Universität in Istanbul werden die Möglichkeiten erneuerbarer Energien erforscht. Der Atomphysiker Tanay Sıdkı Uyar ist als Kenner der Gefahren von Nuklearenergie strikter Befürworter einer Alternative. »Ich habe 1989 das Potential für Windenergie in der Türkei berechnet. Wir können das Doppelte des Energiebedarfs der Türkei nur mit Windenergie erzeugen. Ein Erdbebengebiet zu sein, bietet den Vorteil, viele geothermale Quellen zu haben. In Deutschland müssen Sie vier Kilometer bohren, um an heiße Quellen zu kommen. In der Türkei haben Sie schon nach 100 Metern Quellen von 130 Grad Hitze. In 800 Meter Tiefe finden sie Wasserdampf, der über 200 Grad heiß ist.«
In Geothermalwerken wird Wasserdampf eingesetzt, um über Turbinen Strom zu erzeugen. Die hohe tektonische Aktivität in der Türkei erzeugt Erdwärme. Bei Bohrungen schießt heißer Wasserdampf aus der Erde, der zur Stromerzeugung genutzt werden kann. Bislang gibt es nur viel zu wenig davon. Neun Geothermalwerke stehen bislang vor allem in der Westtürkei, 14 weitere werden zurzeit gebaut. Nach offiziellen Angaben belaufen sich die schon bereitstehenden Geothermalkapazitäten im Lande auf insgesamt 334 Megawatt. Das technische Potential der Geothermalenergie für die Stromerzeugung in der Türkei wird auf rund 2 000 Megawatt beziffert.

Wie viele andere Länder ist auch die Türkei derzeit auf Energieimporte angewiesen. Sie bezieht 73 Prozent ihres Energiebedarfs aus dem Ausland. Der größte Teil wird in Form von Erdgas, Erdöl und Kohle verbraucht. Die fossilen Energieträger kommen vor allem aus dem Iran und aus Russland, nur die besonders umweltschädliche Braunkohle kommt aus der Türkei. Sie deckt 16 Prozent des Energiebedarfs. 25,3 Prozent werden mit Wasserkraft erzeugt. Nur 0,6 Prozent des Energiebedarfs werden aus anderen regenerativen Energien wie Windkraft und Sonnenenergie gewonnen.
Angesichts des Potentials ist Präsident Erdoğans Vision, die Türkei zu einem Energieexporteur zu machen, nicht, wie von ihm behauptet, von Atomenergie abhängig. Der Ausbau von Windenergie, geothermaler Energie und Wasserkraft in der Türkei würde ausreichen, um 20 Prozent des gesamteuropäischen Energiebedarfs zu decken, betont Tanay Sıdkı Uyar. Die Triebkraft hinter den Plänen der Regierung seien die Bestrebungen, mit der auch militärisch nutzbaren Atomenergie eine politisch noch einflussreichere Regionalmacht zu werden und vor allem dem Rivalen Israel nicht nachzustehen, glaubt er. Der Stromausfall am 31. März habe jedoch vor allem gezeigt, wie fragil die staatliche Kontrolle über die Energieversorgungstechnologien ist.