Menschenversuche in Guatemala während des Kalten Krieges

Gezielte Infizierung

Zu Beginn des Kalten Kriegs ließ die US-Regierung Menschenversuche in Guatemala durchführen. Gegen die daran beteiligte John Hopkins University wird nun geklagt.

Mit den Worten »Der Zweck heiligt alle Mittel« verteidigte der Mediziner John Cutler ein Experiment, das er in den Jahren 1946 bis 1948 in Guatemala leitete. Der aufsteigende US-Forscher infizierte 1 308 Prostituierte, Häftlinge, Soldaten, Patienten psychiatrischer Anstalten und Kinder in katholischen Waisenhäusern ohne deren Wissen und Einverständnis mit damals noch nicht heilbaren Geschlechtskrankheiten. Initiiert und finanziert wurden die Menschenversuche vom US-Gesundheitsministerium.
Den guatemaltekischen Opfern wurden Erreger von Syphilis und Gonorrhöe unter die Haut, ins Rückenmark, in die Augen und auf die Schleimhäute vorsätzlich verletzter Genitalien gespritzt. Ministerium und Forscherteam hielten die »Studie« einvernehmlich im Verborgenen. Doch verlässliche Untersuchungsergebnisse blieben in Guatemala aus. Cutler wurde in die USA zurückbe-rufen, wo er zum oberster Berater des Gesundheitsministeriums aufstieg und in den sechziger Jahren an der sogenannten Tuskegee-Studie beteiligt war: 400 an Syphilis erkrankten afroamerikanischen Männern wurde über Jahrzehn-te kein Penizillin verabreichte. Beide Fälle verschwanden in den Archiven der Pittsburgh University, wo sie im Jahre 2010 zufällig von der Historikerin Susan Reverby entdeckt wurden.

US-Präsident Barack Obama entschuldigte sich nach den Enthüllungen bei seinem damaligen guatemaltekischen Amtskollegen Álvaro Colóm. Dieser bezeichnete die Versuche als »Verbrechen gegen die Menschheit«. Eine erste Klage gegen die USA auf Schadenersatz scheiterte zwei Jahre später. Das US-Gesundheitsministerium sagte allerdings außergerichtlich die Zahlung von 1,8 Milli-onen Dollar an Guatemala zu. Nun liegt in den USA eine neue Klage gegen die John Hopkins University vor. Die Kläger sind nicht nur Überlebende der Experimente. Die meisten sind Partner, Kinder und Enkelkinder, die sich infolge der Experimente mit Geschlechtskrankheiten infizierten oder denen diese vererbt wurden. Viele der Opfer sind längst tot, die meisten sind gestorben, ohne je die Ursache ihrer lebenslangen Leiden zu erfahren.
In der Anklageschrift werden auch die Rockefeller-Stiftung und die Vorgängerunternehmen des Pharmakonzerns Bristol-Myers Squibb erwähnt. Letztere lieferten Penizillin, das damals noch ein neues Medikament war. In Guatemala sollte seine Wirksamkeit gegen Geschlechtskrankheiten, vor allem Syphilis, erforscht werden. Diese hatte seit der Heimkehr der GIs aus dem Kampf gegen Na-zideutschland in den USA weite Verbreitung gefunden. Doch das Penizillin wurde den Opfern der medizinischen Experimente in Guatemala nur zeitverzögert oder gar nicht verabreicht. Manche von ihnen wurden mehrmals infiziert, wissentlich ihren Tod in Kauf nehmend. Cutlers Unterlagen zufolge starben 83 seiner »Freiwilligen«, die Mehrzahl litt ihr Leben lang an den verheerenden Langzeitfolgen von Syphilis, die unbehandelt sämtliche Organe befällt.
Der guatemaltekische Staat hat bis heute keine Stellung bezogen. Eine Entschädigung für die Opfer bleibt aus. Der damalige Präsident Juan José Arévalo war über die Experimente informiert. Das Forschungsteam um Cutler hatte ihm ein modernes Labor, die Förderung guatemaltekischer Ärzte und Gratisrationen von Penizillin für das Militär versprochen.
Eine Einverständniserklärung sollte für medizinische Probanden heutzutage weltweit Standard sein. Doch noch 1996 geriet der Pharmakonzern Pfizer in die Schlagzeilen, weil er eine Hirnhautentzündungsepidemie in Nigeria ausnutzte, um 200 Kindern ein noch nicht getestetes Antibiotikum zu verabreichen. 2012 verklagte ein argentinisches Gericht den britischen Pharmakonzern Glaxo-Smith-Kline, der 2007 und 2008 teilweise ohne Einverständnis der Eltern Tausenden von Kleinkindern einen Impfstoff gegen Lungen- und Ohrenentzündung injizieren ließ. In Indien sterben jährlich einige Hundert von rund 150 000 Probanden. Die meisten von ihnen können weder lesen noch schreiben.