Käsekuchen ist der leckerste Kuchen

Mit Obst im Stand der Sünde

Käsekuchen ist der Kuchen an und für sich. Alles andere ist akzidentiell, wenn nicht überflüssig.

Um hier mal mit einem Missverständnis aufzuräumen: Es gibt überhaupt nur einen Kuchen, der auf einer festlichen Kaffeetafel regelmäßig gestattet ist, und das ist der Käsekuchen. Das heißt, der Käsekuchen gehört zum Grundangebot, es braucht ihn so unbedingt wie Tassen und Teller – und Kaffee, natürlich. Alle anderen Kuchenformen sind lediglich potentielle Ergänzungen, Akzidentien zum Essential, und das ist der Käsekuchen. Obst- und Schokoladenkuchen können hinzutreten, genauso wie Kandis zum weißen Zucker treten darf; ohne einen Käsekuchen hingegen ist der ganze Nachmittag ruiniert. Weder Anhänger des britischen high cake noch Vertreter der traditionellen japanischen Kuchenzeremonie werden Gastgeber, die es wagen, auf Käsekuchen zu verzichten, jemals wieder eines Blickes würdigen.
Der Käsekuchen ist die älteste vollständige Form des Kuchens überhaupt, in der erstmalig alle Grundsubstanzen moderner Kuchen zusammentreten. Rezepte sind uns von den Römern überliefert, die sie wiederum von den Griechen hatten; die Griechen jedoch hatten sie ägyptischen Priestern gestohlen. Zwar gab es zuvor schon Süßgebäck – doch mit dem Zusammentreten der Produkte von Milchwirtschaft, Weidewirtschaft und Hühnerwirtschaft, das nur eine fortgeschrittene Zivilisation zustande bringt, haben diese Vorformen nichts zu tun. Im Kuchen drückt sich vielmehr das gesamte technologische Potential einer Gesellschaft aus, und der erste Kuchen, der diesem Anspruch genügte, war nun einmal der Käsekuchen.

Das deckt sich im Übrigen mit neueren philosophischen Erkenntnissen. Im Käsekuchen findet die platonische Idee des Kuchens als solche ihren reinsten Ausdruck. Käsekuchen ist hier gewissermaßen prima materia, natura naturans und conditio sine qua non einer allgemeinen Kuchizität. Alle anderen Zugaben sind nur Permutationen der einen reinen Idee, gewissermaßen materielle Verunreinigungen eines zeitlosen, unsterblichen Seins. (Das fängt bei den Rosinen an und hört dann bei dem Bastardprodukt Käsesahnetorte auf; dies jedoch nur am Rande.) Ein Beweis dafür ist die Steigerbarkeit. Käsekuchen lässt sich in sich selbst potenzieren, sein Käsekuchensein also in sich selbst reflektieren, oder, auf Laiendeutsch: Käsekuchen kann immer noch käsekuchiger gemacht werden. Der »New York Cheesecake« zum Beispiel ist ein mehrfaches Destillat eines einfachen Käsekuchens, die wiederholte Selbstanwendung des »Prinzips Käsekuchen«. Er ist so käsekuchig, daß man es schier nicht glauben kann, so dicht, so rein, dass die Raumzeit selbst sich krümmt, alle anderen Kuchen daneben wie fahle Imitationen wirken. Ähnliches ist mit Obstkuchen nicht möglich, die Steigerbarkeit von Obst ist ein Unding.
Die Perfektion des Käsekuchens lässt sich auch darin erkennen, dass sie Vergleichbarkeit herstellt. Und nicht nur Vergleichbarkeit, sondern auch menschliche Maßstäbe. Ohne weiteres lässt sich einer wie Stefan Raab als Käsekuchengesicht bezeichnen, ein Blaubeerkuchengesicht ist hingegen sprachlich ungebräuchlich. Interessant am Käsekuchen als Metapher ist dabei, dass er mit Reizlosigkeit, Glätte und Langeweile assoziiert wird. Es ist wahr: Die einfachsten Formen des Käsekuchens sind kein Spektakel. Sie sind vielmehr der Kammerton, das weiße Rauschen, die einfache Sinus-Funktion, ohne die schlechterdings kein Leben möglich wäre. Der Käsekuchen schreit nach Ergänzung, nach Kaffee, Schlagobers und einer Prise Zimt; er ist das Blochsche »Noch-Nicht«, das endlos ergänzungsbedürftige bloße Sein. In seinem ihm je schon innewohnenden Streben nach Höherem legitimiert der Käsekuchen den Kaffeeklatsch als in sich selbst geschlossene Systemzentrifuge.

Folgen wir dem Kuchozentrismus in seine letzten logischen Verzweigungen, finden Kaffee­nachmittage nur deswegen statt, damit der Käsekuchen nicht so allein ist, damit er nicht in trauriger Perfektion einsam durch den Kosmos tingelt. Der Käsekuchen musste deswegen auch den Hunger auf sich selbst hervorbringen, weil begehrt zu werden, gefuttert werden zu wollen, Teil seiner Perfektion ist. Ein unappetitlicher Käsekuchen wäre damit also gar keiner, deswegen ist die Existenz eines solchen auch a priori ausgeschlossen
Wir müssen dem Käsekuchen also dankbar sein, dass er den Tisch, das Porzellan und das gute Silber geschaffen hat, und dass er uns Augen gegeben hat, seine Käsigkeit zu schauen, und Münder, seine Cremigkeit zu kosten. Wer unbedingt Obst dazu braucht, kann das selbstverständlich auch haben. Er muss nur wissen, dass er dann im Stand der Sünde lebt.