Boko Haram als Teil des globalen Jihad

Dem Kalifen verpflichtet

Die Terroristen von Boko Haram in Nigeria erklären sich zum Partner des »Islamischen Staats«. Derweil formiert sich eine regionale Koalition gegen die Islamisten.

Der Horror nimmt kein Ende. Am 5. April, einem Sonntag, tauchten die Islamisten bei Sonnenuntergang im Dorf Kwajaffa auf, das im südlichen Teil des Bundesstaats Borno liegt. Die Einwohner dachten, die Männer seien lediglich gekommen, um zu predigen. Doch dann schossen sie auf die Dorfbewohner, töteten zwei Dutzend Menschen und brannten Häuser nieder. Bereits am Freitag zuvor hatten mutmaßliche Boko-Haram-Kämpfer sieben Menschen getötet, die sich auf dem Weg zu einem Markt im Süden des Nachbarlandes Tschad befanden.
Die zwei Mordanschläge zeigen zum einen, wie schrecklich normal das Wüten der Islamisten von Boko Haram im Nordosten Nigerias inzwischen geworden ist. Die Angriffe schafften es nicht einmal in die Kurznachrichten der westlichen Welt. Mittlerweile scheint man sich an die Anschläge, Morde, Vertreibungen und Entführungen in Nigeria gewöhnt zu haben und will das Publikum nicht langweilen. Zum anderen erweist sich, dass trotz einer zu Jahresbeginn gestarteten massiven Offensive der nigerianischen Armee im Verbund mit dem Militär aus Kamerun, dem Niger und dem Tschad das Problem Boko Haram keineswegs kleiner geworden ist.
Auf den neugewählten Präsidenten Nigerias, den General Muhammadu Buhari, warten immense Aufgaben. Die Wirtschaft des Landes schrumpft – auch wegen des niedrigen Ölpreises. Unter seinem Vorgänger Goodluck Jonathan bereicherten sich Oligarchen aus öffentlichen Geldern, und Buhari muss einen Ausgleich finden zwischen den Herrschaftsansprüchen der Oligarchie aus dem Norden und der des Südens, wo das Erdöl und Erdgas gefördert wird. In seiner ersten Fernsehansprache kündigte er einen kompromisslosen Umgang mit Korruption aller Art an.
Doch ganz oben auf der Agenda Buharis dürfte das Vorgehen gegen Boko Haram stehen, deren Stärke auf 4 000 bis 9 000 Kämpfer geschätzt wird und die 2009 den bewaffneten Kampf zur Errichtung eines Gottesstaats aufgenommen. Ziel der Terroristen ist es, gemäßigte Muslime zu radikalisieren und die bereits bestehenden Konflikte zwischen Christen, die ungefähr 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen, und Muslimen anzuheizen. Buhari will es besser machen als sein Vorgänger, der seine Wählerbasis vor allem in seinem Herkunftsgebiet im Niger-Delta hatte und dem das Wohlergehen der Bevölkerung im Nordosten des Landes offenbar ziemlich gleichgültig war.
In den vergangenen Wochen drangen verschiedene interessante Details der Offensive der nigerianischen Armee im Nordwesten Nigerias vom Januar und Februar an die Öffentlichkeit. Neben französischen und US-amerikanischen Beratern, die sich im Tschad aufhalten, sollen nach übereinstimmenden Medienberichten auch »mehrere Hundert« Söldner aus Südafrika, der Ukraine und Russland auf der Seite der Regierung kämpfen. Sie fliegen angeblich des Nachts Angriffe in Helikoptern südafrikanischer Herkunft; am Morgen rücken reguläre Einheiten der nigerianischen Armee nach. Auch Truppen des Tschad und Kameruns operieren gelegentlich auf dem Gebiet Nigerias.
Die Internationalisierung des Konfliktes, die auch mit dem Beschluss über den Einsatz einer Eingreiftruppe der Afrikanischen Union – bestehend aus Soldaten des Tschad, Kameruns, des Niger und Benins – vorangetrieben wurde, ist wegen des grenzüberschreitenden Charakters des Krieges unvermeidbar und dringend erforderlich zugleich. Doch Nigeria, das sich als militärische Ordnungsmacht in der Region und auf dem gesamten Kontinent begreift, zierte sich lange, Nachbarländer oder gar Söldner auf seinem Gebiet operieren zu lassen.
Dass Südafrikaner oder Ukrainer in Nigeria kämpfen, wird derzeit von der Regierung nicht kommentiert. Angeblich – so das Magazin Foreign Policy – kam der Einsatz der südafrikanischen Söldner zustande, weil sich die USA weigerten, Helikopter an Nigeria zu liefern und auch ihren Einfluss auf Israel dahingehend geltend gemacht hätten, keine Angriffshubschrauber der Marke Cobra an das westafrikanische Land zu exportieren. Die USA würden sich mit der Lieferung von Kriegsgerät schwertun, weil der nigerianischen Armee regelmäßig Menschenrechtsverletzungen im Kampf gegen Boko Haram vorgeworfen werden, hieß es.
Tausende Menschen haben seit 2009 im Krieg zwischen den Islamisten und der Armee ihr Leben verloren. Wie viele Tote auf das Konto von Boko Haram gehen und wie viele Menschen den Bombardements der Regierung oder dem Treiben der mit ihr verbundenen Milizen zum Opfer gefallen sind, ist nicht bekannt. Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass sich zahlreiche »Sicherheitsberater« und hochrangige Militärangehörige aus dem Verteidigungsbudget bedient haben und die Bodentruppen oft ohne ausreichende Munition in den Kampf schickten. Dutzende Soldaten wurden bereits im vergangenen Jahr wegen Befehlsverweigerung zum Tode verurteilt, da sie es zurückwiesen, ohne angemessene Ausrüstung in eine Auseinandersetzung mit Boko Haram zu ziehen.
Nicht nur die Koalition gegen die Islamisten internationalisiert sich. Auch Boko Haram sieht sich inzwischen als Teil des globalen Jihad gegen den Westen und dessen angebliche Verderbtheit. Anfang März erklärte der Anführer der Gruppe, Abubakar Shekau, in einer Audiobotschaft seine Loyalität gegenüber der Terrorarmee »Islamischer Staat« (IS). Kurz darauf akzeptierte ein Sprecher des selbsternannten Kalifen des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, die Loyalitätserklärung und forderte seine Gefolgschaft auf, nach Westafrika zu reisen und Boko Haram bei der Errichtung eines islamischen Gottesstaats zu unterstützen.
Was diese Terrorpartnerschaft konkret bedeuten wird, ist ungewiss. Bisher waren vor allem Verbindungen zwischen al-Qaida und Boko Haram angenommen worden. Mit der zunehmenden Bedeutung des IS, der weite Teile Syriens und des Iraks beherrscht, erhofft sich Boko Haram zunächst offensichtlich propagandistischen Auftrieb. Doch wegen der zunehmenden Stärke des IS in Libyen und der ungebrochenen Präsenz von extremistischen Islamisten im Norden Malis besteht die Gefahr, dass sich ein Bürgerkriegsbogen vom Norden Nigerias über den Tschad und den Niger bis hin nach Libyen bilden könnte. Eine Anzahl von Boko-Haram-Kämpfern beteiligte sich am Aufstand der Tuareg und der Islamisten 2012/2013 in Mali, und auch im Irak beziehungsweise Syrien schlossen sich einzelne nigerianische Terroristen dem IS an.
Dass die militärische Führung Nigerias mittlerweile zu akzeptieren scheint, dass sie ohne fremde Hilfe dem Terror nicht Einhalt gebieten kann, ist ein gutes Zeichen. Denn der Jihad im Nordosten des Landes macht nicht an Grenzen halt, und neben Kämpfern aus dem Tschad oder Niger zieht er auch Freiwillige aus Kamerun an, wie die Nachrichtenagentur Irinnews berichtete. Lokale Behörden aus dem Norden des Landes bestätigten, dass Hunderte, vielleicht Tausende Männer zwischen zehn und 45 Jahren sich von Boko Haram rekrutieren haben lassen.
Angesichts einer Arbeitslosigkeit von 75 Prozent, des sich auch wegen des Terrors verschärfenden Hungers und der gewalttätigen Drohungen der Islamisten ist es ein Leichtes, junge Männer zu werben. Der zu erwartende Monatslohn, sofern man einen Job hat, liegt im Norden Kameruns, so Irinnews, bei 72 US-Dollar. Die Islamisten versprechen den Rekruten einem Augenzeugen zufolge zwischen 600 und 800 US-Dollar monatlich. Wer sich weigert, wird ermordet oder muss fliehen.
Die Leichtigkeit, mit der Boko Haram neue Mitglieder gewinnt, verweist darauf, dass der religiöse Extremismus seine Wurzeln in der jahrzehntelangen Vernachlässigung der afrikanischen Peripherie hat. Der Norden Kameruns und der Nordosten Nigerias wurden in der Entwicklungsplanung und der Allokation finanzieller Mittel immer stiefmütterlich behandelt. Die Bundesstaaten Adamawa, Borno und Yobe, in denen Boko Haram bisher besonders aktiv war und zeitweilig beträchtliche Gebiete kontrollieren konnte, zählen zu den ärmsten Nigerias.
Dem Terror den Boden zu entziehen ist eine Aufgabe, die nicht rein militärisch zu lösen sein wird. Gefordert ist nicht weniger als eine Revolution in der Verteilung der Gelder aus dem Ölgeschäft, die bewirkt, dass der Hauptteil dieser Finanzen nicht wie gehabt in die Taschen der Oligarchen und ihrer Gefolgschaft fließt, sondern gerecht unter den Bundesstaaten aufgeteilt wird und auch den Bürgern zugute kommt. An Betätigungsfeldern für einen Entwicklungsschub des Nordostens Nigerias mangelt es nicht: Infrastruktur und Landwirtschaft liegen dar nieder, das Schulsystem muss modernisiert und neue Jobs geschaffen werden.
Etliche Beobachter haben die Hoffnung, dass der neue Präsident Buhari, der Ende Mai sein Amt übernimmt, sensibler für diese Probleme sein wird als sein Vorgänger. Schließlich kommt er selbst aus dem Norden und kennt die dortigen Herausforderungen. Die Entwicklung der Region wird kein Projekt für einige Jahre sein, sondern dürfte Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Doch die Alternative ist das Heranwachsen einer weiteren Generation von perspektivlosen Nigerianern, für die die Beteiligung an bewaffneten Aufständen jeglicher Art attraktiver ist als ein Leben am Rande der Gesellschaft.