Besuch in Ghana auf einer der größten Elektroschrottdeponien Afrikas

Ein perverser Kreislauf

In Accra, der Hauptstadt Ghanas, befindet sich eine der größten Elektroschrottdeponien Afrikas. Der Ort gilt als einer der verseuchtesten weltweit. Auf den Spuren des globalen Elektro-Zyklus im Stadtteil Agbogbloshie.

Daniel hebt und senkt die rostige Metallstange und klopft damit immer wieder auf das brennende Gehäuse einer Klimaanlage. Dann stochert er im zeitweise grünlich aufflackernden Feuer herum, um an das wertvolle Kupfer und an Alumi­niumreste zu kommen. Der Wind dreht sich leicht und bläst ihm den dichten, schwarzen Rauch ins Gesicht. Daniel verzieht keine Miene und geht unbeirrt seiner Arbeit nach.
Geboren ist er in einem kleinen Dorf im armen Norden Ghanas. Sein Alter weiß er nicht, wie viele Jahre er diese Arbeit nun schon macht ebenso wenig. Der Wochentag spielt für ihn auch keine Rolle. Er ist jeden Tag hier, fast rund um die Uhr. Daniel schläft gemeinsam mit seinem Bruder und vier weiteren Jungs aus seinem Heimatdorf, die alle zwischen 13 und 18 Jahre alt sein dürften, nur wenige Meter entfernt in einem Holzverschlag. Er verdient im Schnitt zehn ghanaische Cedi pro Tag, umgerechnet knapp drei Euro.
Der Stadtteil Agbogbloshie in der ghanaischen Hauptstadt Accra ist auch im Ausland bekannt, weil sich hier eine der größten Elektroschrottdeponien Afrikas befindet. Die Bewohner Accras besuchen das Viertel zumeist wegen des Gemüsemarkts, der unmittelbar an die Deponie grenzt. Im benachbarten Slum Old Fadama leben Schätzungen zufolge zwischen 50 000 und 100 000 Menschen, ungefähr 5 000 arbeiten auf der Deponie.
Hunderte Quadratmeter, so weit das Auge reicht, nichts als zerlegte Fernseher, Kühlschränke, Klimaanlagen, Automotoren, dazu Exkremente, Plastikflaschen und -tüten, Verpackungen, zerquetschte Kartons, Stofffetzen, ein beißender Gestank und ein bösartiger, alles überdeckender Qualm, der die Haut brennen, die Augen tränen und die Lunge rasseln lässt. Kühe, die auf der Suche nach dem letzten Halm inmitten des Schrotts weiden, und Menschen über Menschen, zehnjährige Kinder, junge Mütter mit ihren Babys auf dem Rücken, alte, humpelnde Männer, viele barfuß oder nur in Flip-Flops, die durch die mit Scherben und spitzen Metallteilen übersäten Müllberge stapfen. An einigen Stellen dienen alte Autoreifen als Hilfe, um über ein feindselig gurgelndes Gebräu aus Brackwasser, Fäkalien und Müll hinwegzusteigen. Nach Angaben einer Studie des Blacksmith Institute ist die Elektroschrottdeponie in Agbogbloshie einer der zehn verseuchtesten Orte der Welt, neben Tschernobyl und dem Niger-Delta in Nigeria.

Schrott, Verkaufsstände, Qualm, Scherben, Zwiebeln, Yamswurzeln, improvisierte Latrinen und Wohnfläche gehen unmittelbar ineinander über, vermischen sich, bieten keinen Raum für eine Flucht vor der bedrückenden Realität. Vor 15 Jahren war dieser Ort noch eine tropische Lagune und ein Vogelbrutgebiet. Statt Flamingos staksen hier mittlerweile nur noch Jugendliche und junge Erwachsene in Kinderkörpern herum. Das Gift hat ihr Wachstum unterbunden.
»Wir kommen klar. Wir haben genug zu essen. Wir können ein bisschen Geld sparen«, sagt Daniel. Er hat Schwierigkeiten, seine Gedanken in Worte zu fassen, wirkt abwesend, benebelt, seine Augen bleiben träge an einem Vogel hängen, der die Elektroschrottdeponie überfliegt. Die brennende Haut merke er kaum noch. »Besser als verhungern«, sagt er dann und beendet damit das Gespräch über die Gesundheitsrisiken.
Daniel und seine Kollegen tragen lange Hosen und vor allem feste Schuhe. Die etwa zehn- bis 15jährigen Jungs, die 20 Meter weiter, durch Isolierschaum angeheizt, einen Fernseher verbrennen, sind hingegen barfuß. Fast alle haben Schnittwunden an Füßen und Händen. Das eigene Husten scheinen sie nicht mehr wahrzunehmen. Sich fotografieren zu lassen, lehnen sie kategorisch ab. »Ich will nicht, dass meine Mutter erfährt, was genau ich hier mache«, sagt Gibril. Er hat sein Heimatdorf in der Upper-West-Region, nahe der Grenze zu Burkina Faso, vor drei Jahren verlassen, mit dem Versprechen, mit viel Geld wieder nach Hause zu kommen. Gibril verdient zwei Euro am Tag.
Der globale Elektro-Zyklus beginnt mit der Ausbeutung von Rohstoffen wie Kupfer, Kobalt und Platin häufig in Afrika. In den industriellen Zentren werden diese für technologische Geräte gebraucht, die dann, wenn nicht mehr funktionstüchtig oder veraltet, wieder nach Afrika verschifft werden. Der beschädigte Fernseher wird, wenn möglich, repariert und landet daraufhin als Second-hand-Ware in einem ghanaischen oder togolesischen Wohnzimmer. Ist der Kühlschrank, der von Deutschland bis nach Ghana verfrachtet wurde, aber wirklich nur noch Schrott, dann wird er bald den Weg vom größten ghanaischen Hafen in Tema nach Agbogbloshie finden, wo Daniel und seine Kollegen ihn auseinandernehmen, um erneut an die wertvollen Rohstoffe zu gelangen.
Dabei dürften derartige Geräte gemäß der von 181 Staaten ratifizierten Basler Konvention gar nicht erst in die afrikanischen Häfen gelangen, da Elektroschrott nicht exportiert werden darf. Es ­geschieht dennoch, massenweise wird Schrott als gebraucht und funktionstüchtig deklariert. Nicht selten landen die in Agbogbloshie aus den kaputten Fernsehern, Kühlschränken oder Klimaanlagen herausgelösten Rohstoffe dann über Zwischenhändler direkt wieder bei den Herstellerfirmen in Europa oder den USA. Ein perverser Kreislauf, in dem Agbogbloshie sowohl Anfangs- als auch Endpunkt ist.

Steht beim ersten Besuch auf der Deponie der Schock im Vordergrund, so helfen drei weitere Rundgänge in den kommenden Wochen, um mehr über die Produktionsketten, Familienrollen und Hierarchien zu erfahren. Die Arbeiter sind für verschiedene Firmen tätig, die für viele der Minderjährigen als Ersatzfamilien herhalten müssen, die aber auch in erbittertem Konkurrenzkampf untereinander stehen. »Was denkst du denn? Dass an einem Ort wie diesem alle zusammenarbeiten?«, sagt der 28jährige Rashid, der bei den Rundgängen stets dabei ist, und lacht. Er ist in Old Fadama geboren und nimmt seit Jahren eine leitende Position auf der Deponie ein. Rashid trägt lässige Jeans, mal ein weißes, mal ein schwarzes Muscle-Shirt und hat stets ein Lächeln im Gesicht.
Das Problem des Nord-Süd-Gefälles besteht im Kleinen auch in Agbogbloshie, nur dass es hier der Norden ist, der nichts zu sagen hat. »Die Leute aus dem Norden kommen aus schwierigen Verhältnissen, haben kaum Bildung. Daher müssen sie hier die unangenehmen Jobs machen. Das ist doch überall so, oder?«, sagt Rashid.
Sein Kumpel Bijan betreibt die orange angestrichene Bar inmitten des giftigen Qualms, der Müllberge und des Gestanks. Die Hauswand ist mit den Fahnen Ghanas, Jamaikas, Großbritanniens und der USA bemalt. Bijan hat einen aufgeklappten Laptop vor sich stehen, aus dem laute Reggae-Musik dröhnt. Hier verkehren nur Leute, die in Old Fadama geboren sind, versichert er. Ab den späten achtziger Jahren siedelte die ghanaische Regierung Tausende Menschen in das heutige Old Fadama um, die vor Stammeskonflikten im Norden geflüchtet waren. Der jetzige Slum ist also ein ehemaliges Flüchtlingsdorf. Auf Nachfrage erzählen Rashid und Bijan, dass ihre Eltern auch aus dem Norden kommen.
Bei einem kalten Bier und einem kreisenden Joint erklärt Rashid dann die Hierarchien auf der Deponie. Über allen schwebt »Capito«, der Captain, der von jedem respektiert oder vielmehr gefürchtet wird. Ihm folgt der Governor mit seinen Leuten, dann die Handwerker, die Händler, diejenigen, die mit dem Hammer die Elektrogeräte demontieren und schließlich, am unteren Ende der Hierarchie, Kinder und Jugendliche wie Daniel, die für das hochgiftige Schmelzen zuständig sind.
Der Tag beginnt in Agbogbloshie mit den verschiedenen Fahrzeugen, die morgens ein wildes Müllgemisch auf der Deponie abladen. Von überall her kommen auch überwiegend Jugendliche mit ihren Handkarren zur Halde. Sie sind mit kaputten Fernsehern und anderen Geräten beladen, die sie an diesem Morgen bereits gekauft haben. Ein defekter Fernseher kostet in Accra bereits im Einkauf gut einen Euro.
Insbesondere Kinder sind für das Wühlen im Müllberg zuständig. Sie suchen in den großen Ladungen nach den Elektrogeräten und bringen diese dann in den nächsten Abschnitt der Deponie, in dem die meisten Menschen tätig sind. Hier werden die Geräte, meist mit einem Hammer, zerlegt und vor allem auf Kupfer untersucht. Die unbrauchbaren Teile werden einige Meter weiter weggeworfen, zum Teil auch verbrannt, um Platz zu schaffen. Ein Pfund Kupfer bringt im Verkauf gut einen Euro ein, ein Pfund Aluminium etwa 30 Cent. Gekauft werden die Rohstoffe von Händlern, die sie an Zwischenhändler weiterverkaufen. »Das sind fast immer Ausländer, vor allem Libanesen, aber auch Amerikaner und Deutsche«, sagt Rashid.
Victor freut sich, als wir seine »Firma« besuchen. Zu viert sitzen seine Kollegen und er im Kreis und hämmern unablässig vor allem auf alte Radios ein. Er stellt eine Bedingung für das Gespräch: eine Strähne blondes Haar. Zwei weitere Strähnen für ein Foto. Auf die Frage, wozu er die Haare brauche, sagt er: »Für einen Zauber, damit ich nicht mein ganzes Leben hier sitzen muss.«
Insbesondere Kabel, aber auch Monitor- und Fernsehergehäuse oder Klimaanlagen werden anschließend zu den Gruppen von Jugendlichen weitergeleitet, die für das Verbrennen zuständig sind. Ihre Feuer bringen nicht nur den Kunststoff und das Plastik zum Schmelzen. Sie zerstören vor allem auch die Gesundheit. Lungenschäden durch die Inhalation der toxischen Dämpfe, Nierenerkrankungen, Zerstörung der roten Blutkörperchen und geistige Behinderungen sind unmittelbare Folgen der Arbeit in der hochgiftigen Umgebung. Während eines Rundgangs kommt ein Junge angestolpert und hustet einen Klumpen Blut auf den Boden.
»So etwas kann doch überall passieren«, sagt Rashid und meint es wohl auch so. Das erschreckendste Anzeichen für die konstante Vergiftung der hier Arbeitenden sind die Augen. Gelblich verfärbt, eine trübe Schicht scheint auf ihnen zu liegen, die Blicke wirken häufig abwesend – was auch mit den grassierenden Drogenproblemen zu tun haben mag.

Einer UN-Studie zufolge hat sich die Zahl der insgesamt importierten Elektrogeräte in Ghana zwischen 2003 und 2008 fast verdreifacht, Tendenz steigend. Auch wenn in manch einem Büro Pläne zum nachhaltigen Recycling geschmiedet werden – in Agbogbloshie sind keine Änderungen in Sicht. Besuche bei den zuständigen Behörden – der Stadtverwaltung und der Umweltschutzbehörde – enden oft in Wartebereichen auf langen, undurchsichtigen Gängen oder in hohlen Phrasen.
»Alle paar Jahre rückt die Stadtverwaltung gemeinsam mit vielen Polizisten hier ein und sagt uns, wir hätten eine Woche, um unsere Sachen zu packen und zu verschwinden. Egal, denn wirklich passiert ist noch nie etwas«, erzählt Rashid, lacht und schüttelt den Kopf.
»Die Stadtverwaltung verweigert den Menschen hier die Befriedigung jeglicher Grundbedürfnisse, also Hygiene, Gesundheitsversorgung, Bildung, und verweist auf die angebliche Gesetzlosigkeit der Wohn- und Arbeitssituation hier. Sie war es auch, die sich den Namen Sodom und Gomorrha für den Slum überlegt hat, der uns als biblische Sünder darstellen soll und nun von Menschen und Medien in Ghana und der ganzen Welt benutzt wird«, sagt Abdallah Alhassan Ibn. Der 26jährige ist vor zehn Jahren aus ­einem armen Dorf in der Nähe der im Norden gelegenen Stadt Tamale nach Accra gekommen. Seine Mutter war gestorben, der Vater konnte die acht Kinder nicht ernähren. Sechs Jahre lang stand Abdallah früh morgens und spät abends auf der Deponie und verbrannte Kabel, Klima­anlagen und Fernseher. Vormittags ging er zur Schule. Die fälligen Gebühren bezahlte er mit dem in Agbogbloshie verdienten Geld. Nach der Schulzeit besuchte er die Universität, studierte Betriebswirtschaftslehre. Auch die Studienkosten verdiente er sich auf der Deponie. Seit seinem Abschluss vor vier Jahren arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität. In seiner Freizeit leitet er die NGO Slumunion, die den Menschen in den Slums Accras und ganz Ghanas die Möglichkeit zum Dialog untereinander geben will, Gemeindezentren aufbaut sowie an der Renovierung von Häusern beteiligt ist.
»Ich war der einzige von uns Teenagern auf der Deponie, der es dort raus geschafft hat. Nun will ich etwas zurückgeben«, sagt Abdallah. »Und irgendjemand muss bei den Problemen zwischen den Slums und den Autoritäten vermitteln.«
Spannungen gibt es auf der Deponie auch zwischen den einzelnen Firmen. Lautstarke Diskus­sionen, Beleidigungen, vereinzelt kommt es zwischen Rashid und anderen fast auch zu Handgreiflichkeiten.
»Weißer, verpiss dich«, heißt es hier und da. Genau das will ich in diesen Momenten dann auch tun. »Kommt nicht in Frage«, sagt Rashid. »Du willst diesen Ort doch richtig kennenlernen.« Er lacht. Dann folgt ein kräftiger Klaps auf die Schultern: »Sei nicht so zimperlich. Das kannst du dir hier nicht leisten.« Bevor es zu ernsthaftem Streit kommt, schreitet der Chef ein, erklärt er mir.
Beim vierten Besuch ist es dann endlich so weit: Capito höchstpersönlich erklärt sich mit einem kurzen Gespräch einverstanden. Er hat in sein Büro mitten auf der Deponie geladen. Der um­gebaute Wohnwagen bietet Platz für drei Ledersessel, zwei Ventilatoren und einen – funktionierenden – Fernseher. An den Wänden hängen Bilder nackter Frauen. Capito ist Mitte 50, massig, er trägt ein golden glänzendes Hemd, schwarze Jeans und Lederschuhe. Drei Smartphones liegen vor ihm auf dem kleinen Holztisch und klingeln pausenlos. Neben Capito sitzt die Nummer zwei, der Governor. Er sieht aus, als käme er gerade vom Dreh eines Gangsta-Rap-Videos. Acht funkelnde Ringe, drei Goldketten und eine goldene und eine silberne Armbanduhr schmücken ihn.
»5 000 Arbeiter, über 100 Firmen, aber nur ein Boss und das bin ich«, sagt Capito. Nach zwei kurzen Telefongesprächen fährt er fort: »Das ist mein Land. Ich vermiete es an die Firmen und Arbeiter für einen fairen Preis, dafür garantiere ich ihre Sicherheit.« Klingt nach Mafia. Ist es auch. Das System und die Besitzansprüche fußen offensichtlich auf Einschüchterung. Allein 15 Mitarbeiter unterstehen Capito direkt für diese vermeintliche Sicherheitsgarantie. Acht Jahre ist Capito nun schon der Chef, zuvor hat er fast 20 Jahre in Agbogbloshie in verschiedenen Positionen gearbeitet. Sieben Tage die Woche ist er hier, nur zum Schlafen geht er in seine Wohnung, die außerhalb des Viertels liegt.
Nach dem Gespräch tritt Capito aus dem Wohnwagen und lässt seinen Blick über die Müllberge, die emsig arbeitenden Menschen und die Rauchwolken schweifen. Dort, wo die Feuer lodern und der dunkle Qualm aufsteigt, war er schon seit Jahren nicht mehr. »Jeder, der hart arbeitet, kann hier aufsteigen«, sagt er.
Doktor, Polizist, Lehrerin: Das sind einige der Berufe, von denen die Kinder auf der Deponie nach eigenen Aussagen träumen. Rashid wollte immer Fußballprofi beim FC Chelsea werden. Seine Umgebung bestätigte ihm stets großes Talent. Richtige Fußballschuhe, die er für ein offi­zielles Training gebraucht hätte, konnte ihm aber niemand finanzieren. Noch immer spielt er manchmal abends mit seinen Freunden. »Früher konnte ich zwei Stunden durchrennen, heute fange ich aber schon nach zehn Minuten an zu keuchen«, sagt er.