Der neue Streit um »Charlie Hebdo«

Seid verflucht, ihr Millionen!

Die finanzielle Situation der französischen Wochenzeitung Charlie Hebdo ist besser denn je. Weniger werden die Probleme dadurch jedoch nicht.

Den Grund für die jüngste Kontroverse in der Redaktion von Charlie Hebdo lieferte Anfang des Monats ausgerechnet die gute finanzielle Situation, mit der die Wochenzeitung erstmals in ihrer Geschichte konfrontiert ist. Die euphorisierende Wirkung der breiten Solidarität, welche die Zeitung nach dem Massaker mit zehn Toten in ihrer Redaktion am 7. Januar erfuhr, ist weitgehend verflogen. Der Alltag ist zurückgekehrt, und wenn auch die große Mobilisierung zu Demonstrationen und Kundgebungen vom Jahresanfang unvergessen ist, so erwies sich doch die Behauptung »Nichts ist mehr wie vorher« als nicht richtig.
Die sozialdemokratische Regierung, deren Popularitätswerte sich in den Tagen nach den terroristischen Attacken in Paris, als sie der Trauer und dem Zorn einen staatsoffiziellen Ausdruck verlieh, verdoppelt hatten, ist erneut auf ihrem Rekordtief von kurz vor dem Attentat angelangt. Die politische Rechte von Nicolas Sarkozy bis Marine Le Pen hat wieder Aufwind, während Charlie Hebdo sich auch nach dem Anschlag stets von ihnen abgrenzte. Nur die rechtskatholische Website, die sich den wohlklingenden Namen »Liberté politique« gegeben hat, ist noch über den »Geist von Charlie« besorgt. Abwägend schreibt sie Ende März, dass es einerseits zwar gut sei, dass die Anschläge vom Januar Abwehrreaktionen gegen Islam und Immigration hervorgerufen hätten, diese andererseits aber eher einer laizistischen als einer christlichen Definition französischer Identität zugute zu kommen drohten. Um mit den Worten zu enden: »Eine weitere Schwächung unserer Tradition hätte den zu befürchtenden Effekt, die französische Gesellschaft, die dadurch libertärer und weniger christlich würde, in den Augen der jungen Muslime noch verachtenswürdiger zu machen. Und dadurch das spirituelle Vakuum noch zu stärken, das der islamischen Propaganda einen fruchtbaren Boden bereitet.«
Zumindest die offiziellen Reaktionen von Staat und Politikern werden derzeit nachträglich diskreditiert. So sind in den sozialen Medien vielerorts Verlautbarungen zu finden, dass der jihadistische Mord im kenianischen Garissa, dem 148 Menschen zum Opfer fielen, keine auch nur annähernd vergleichbaren internationalen Reaktionen hervorgerufen habe. Auch in der sozialdemokratischen Tageszeitung Libération fand diese Kritik ausführlich Raum. Während auch afrikanische Präsidenten wie Ali Bongo aus Gabun und Idriss Déby aus dem Tschad – Diktatoren aus Staaten der französischen Einflusszone – zur Charlie-Demonstration nach Paris gereist waren und François Hollande umgekehrt am 29. März infolge des Attentats im Bardo-Museum Tunis aufgesucht hatte, gab es keine Staatsbesuche und keine offiziellen Reisebewegungen infolge des jihadistischen Massakers in Garissa. Jene, die von Anfang an den am 11. Januar in Paris versammelten Staatsoberhäuptern und Regierungschefs Heuchelei vorwarfen oder auch die Demonstrationen generell ablehnten, sehen sich bestätigt.
Aber auch andere Stimmen wundern oder sorgen sich um die extrem ungleichen Reaktionen. Caroline Fourest, eine frühere Mitarbeiterin von Charlie Hebdo, war eine der ersten, die im Internet zumindest mehreren der Opfer von Garissa ein Gesicht und einen Namen verliehen. Zu den schärfsten Kritikern der ungleichen Reaktionen zählt auch der aus Algerien stammende Zeichner Ali Dilem, der seit kurzem regelmäßig für Charlie Hebdo arbeitet. In einer seiner jüngsten Karikaturen kratzt sich ein Jihadist am Kopf und grübelt, wie unterschiedlich die Reaktionen auf die neuesten Schandtaten ausfallen, je nachdem, ob sie in Afrika oder anderswo stattfinden: »Du zerstörst eine Statue und die ganze Welt reagiert – du massakrierst 148 Studenten und der Welt ist es wurscht.« Vor diesem Hintergrund wird die Debatte um die finanzielle Situation von Charlie Hebdo in weiten Teilen der Medienlandschaft ausgebreitet und je nach Standpunkt mit Hohn und Spott, Achselzucken oder Bedauern quittiert.
Die satirische Wochenzeitung, die noch vor einigen Monaten ums wirtschaftliche Überleben kämpfen musste, konnte in kürzester Zeit insgesamt rund 30 Millionen Euro einnehmen. Über zehn Millionen brachte ihr allein die »Ausgabe der Überlebenden« vom 14. Januar ein, es war die erste nach dem mörderischen Anschlag. In den folgenden vier Wochen wurden weitere zwei Millionen Euro von rund 25 000 Personen über eine Internetplattform gespendet. Diese Einnahmen wollen die Mitarbeiter von Charlie Hebdo allerdings weitergeben: an die Familien der Opfer sowie einen zu gründenden Fonds für Pressezeichner, die in repressiven Staaten bedroht sind.
Zu den 8 000 regulären Abonnements sind über 200 000 neue hinzugekommen und es stellt sich die Frage: Wohin mit dem Geld und wer soll es verwalten? Bislang beruhte die Finanzstruktur von Charlie Hebdo auf informellen Grundlagen, zumal es in der Regel nichts zu verteilen gab. Zwei Redakteure besaßen je 40 Prozent des Eigenkapitals der Zeitung, einem weiteren gehörte ein 20 prozentiger Anteil. Einer von ihnen, der frühere Chefredakteur Charb (Stéphane Charbonnier), ist nun tot und seine Anteile wurden von Familienangehörigen übernommen. Die beiden anderen sind der derzeitige Chefredakteur Riss (Laurent Sourisseau), der immer noch mit einer Schussverletzung an der Schulter im Krankenhaus behandelt wird, und der Finanzverwalter der Zeitung, Eric Potheault.
Der Zeichner Luz (Rénald Luzier), der den Mord in den Redaktionsräumen überlebte  – er war zum Zeitpunkt des Attentats nicht anwesend –, schlug den Vorschlag aus, die Anteile des ermordeten Redakteurs zu übernehmen, und regte stattdessen an, eine Genossenschaft zu gründen. Transparenz solle herrschen und Außenstehenden die Möglichkeit gegeben werden, Anteile zu zeichnen.
Der Vorschlag wurde jedoch nicht umgesetzt. Daraufhin ging ein Kollektiv von Redaktionsmitgliedern am 1. April mit einem gemeinsam gezeichneten Gastbeitrag in Le Monde an die Öffentlichkeit. Unter dem Titel »Für eine Neugründung von Charlie Hebdo« greifen die Unterzeichner den Vorschlag auf, eine Genossenschaft einzurichten. Sie betonen, es gehe ihnen nicht darum, als Anteilseigener Geld zu verdienen, sondern um eine kollektive Verwaltung der Einnahmen für Investitionen in die Zukunft »in zehn, 20 oder 30 Jahren«. Da sich das Risiko einer Mitarbeit an der Zeitung im Januar auf grausame Weise manifestiert habe, wolle man aber auch Mitspracherechte auf der Höhe des eigenen Engagements, um sich voll in das Projekt einbringen zu können. Die 15 Unterzeichner, zu denen etwa die Karikaturisten Luz und Willem, der Notarzt und Charlie-Chronist Patrick Pelloux, die französisch-marokkanische Journalistin Zineb el-Rhazoui – die vor kurzem im Internet mit dem Tode bedroht wurde – oder die Attentatsüberlebende Ségolène Vinson gehören, betonen, »keinerlei persönliche Ambition« zu hegen.
Dennoch wurde ihr Ansinnen zum Teil negativ kommentiert und als eine Art Streit um die Beute dargestellt; unter anderem von Richard Malka, dem Anwalt der Wochenzeitung. Er vertrat Charlie Hebdo wiederholt vor Gericht, ist aber zugleich umstritten. Malka vertrat auch die in Luxemburg ansässige Finanzgesellschaft Clearstream gegen den französischen Journalisten Denis Robert. Robert bezeichnete die Gesellschaft als Geldwäscheanstalt und Clearstream versuchte ihn zu zensieren. Richard Malka, der auch den früheren IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn zu seinen Klienten zählte, verglich die Debatte bei Charlie Hebdo öffentlich mit einem »Streit unter den Erben um die Juwelen der frisch beerdigten Großmutter, noch auf dem Rückweg vom Friedhof«.
Zumindest eine Personalie sorgt unterdessen bei Charlie Hebdo für weitgehende Einigkeit. Als vor kurzem der ehemalige Chefredakteur der Zeitung, Philippe Val, Interesse an seiner Rückkehr bekundete, reagierte die Redaktion abweisend. Val war früher ein Antiautoritärer, der seit Jahren ins neokonservative Fahrwasser abdriftet. Seine Unterstützung für den Nato-Krieg gegen Serbien 1999 spaltete damals die Redaktion, sein Führungsstil wurde zunehmend autoritärer. Nicolas Sarkozy beförderte ihn 2009 zum Chef einer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt, wo Val im folgenden Jahr die kritischen Komiker Didier Porte und Stéphane Guillon feuerte. 2014 musste er selbst den Hut nehmen. Die Rückkehr Vals zu Charlie Hebdo wurde zwar in den Medien erörtert, dürfte aber in der Redaktion nicht durchsetzbar sein. Inzwischen hat Val auch erklärt, er verzichte, »außer wenn man mich ruft«.
Stéphane Guillon, der wegen seiner Bekanntschaft mit Val kein sonderlicher Befürworter von Charlie Hebdo ist, trat seinerseits mit einer ironischen Anregung an die Öffentlichkeit. Er schlug der Redaktion der Zeitung vor, wenn sie ihre Sorgen loswerden wolle, solle sie »die 30 Millionen doch an die restaurants du coeur« – ein Pendant zur »Tafel« für Arme und Obdachlose in Deutschland – »spenden, danach wird sie wieder ihre Ruhe finden«. Auch dieser Vorschlag dürfte allerdings kaum auf Begeisterung stoßen.