Probleme und Proteste im katalanischen Gesundheitssektor

Sparen bis zur Patientenrebellion

Im spanischen Gesundheitssystem herrschen katastrophale Zustände. Es gibt seit langem Widerstand dagegen, nicht zuletzt in Katalonien, aber der dort populäre Separatismus lenkt davon ab.

10. April: »65 Patienten warten auf ein Bett, einige den dritten oder vierten Tag. 28 warten länger als 24 Stunden. Einer qualitätsvollen Behandlung unwürdig.« 9. April: »74 Patienten warten auf Aufnahme, viele Kranke warten seit mehr als zwei Tagen in der Notaufnahme und wir haben freie Betten, die aber abgeriegelt sind!!!« 8. April: »Unsere Voraussagen werden Realität: 82 Patienten in der Aufnahme, 18 Kranke mehr als 48 Stunden.« Über das Twitter-Konto @adjuntosdeurgen melden sich täglich Angestellte der Notaufnahme des Vall d’Hebron, des größten Krankenhauses von Barcelona, in der Patienten ständig in Betten auf den Gängen liegen müssen. Die Angestellten protestieren gegen die Haushaltskürzungen, die seit Jahren zu Personaleinsparungen und Stationsschließungen führen.
Seit 2011 gibt es in den Krankenhäusern Barcelonas Proteste gegen Budgeteinsparungen, Prekarisierung der Angestellten und Privatisierungen. Sie begannen noch vor dem Einsetzen der 15-M-Bewegung. Seit Ende 2010 das wirtschafts­liberale Parteienbündnis Convergència i Unió (CiU) wieder an die Regierung kam, wird in Katalonien privatisiert. Der katalanische Gesundheitsminister Boi Ruiz war zuvor seit 1994 bei der Vereinigung der privaten Krankenhäuser Kataloniens beschäftigt, zuletzt als deren Präsident. Seinen Behördenleiter Josep Padrosa brachte er zusammen mit anderen Spitzenkräften gleich mit in die Regierung.

Ruiz strich den staatlichen Krankenhäusern sofort erhebliche Geldsummen. Schon für 2011 gab er für den Gesundheitshaushalt ein Sparziel von zehn Prozent vor. Aufgrund der reduzierten Krankenhauskapazitäten werden viele Patienten in den privaten oder teilprivatisierten Sektor umgeleitet, oder sie gehen wegen der rasant angewachsenen Wartelisten selbst dorthin. Da in Katalonien aus historischen Gründen der teilprivate Krankenhaussektor besonders groß und ins öffentliche Versorgungsnetz eingebunden ist, werden viele verlagerte Behandlungen dennoch vom Staat bezahlt – nur dass das Geld nun auch an privatwirtschaftliche Akteure geht.
Eine ähnliche Politik führte 2014 auch in anderen Teilen Spaniens zu Widerstand. In Madrid gab die Regionalregierung nach Protesten und einem entsprechenden Gerichtsurteil im Januar 2014 den Plan zur Privatisierung von sechs Krankenhäusern vorläufig auf.
Mitte März veröffentlichte Spaniens größte Tageszeitung El País Statistiken auf der Basis von Ministeriumsdaten. Demnach gingen die staatlichen Gesundheitsausgaben von 2009 bis 2013 um fast 14 Prozent zurück. Die Zahl der Menschen, die auf eine Operation warteten, stieg hingegen um über die Hälfte an, die Durchschnittswartezeit ebenso. Umfragen des Gesundheitsministeriums zu den Einschätzungen der Leistungen zufolge verdreifachte sich im selben Zeitraum ­jeweils der Anteil der Menschen, die sagten, dass sich die Behandlung und Unterbringung verschlechtert und die Wartezeiten verlängert hätten.
Die Konkurrenz für das öffentliche Kranken­haussystem wächst unterdessen. Im Sommer 2014 vereinigten sich die beiden führenden Firmen Quiron und IDC Salud. Allein die beiden Krankenhäuser von IDC Salud, die für das katalanische Gesundheitssystem Dienstleistungen erbrachten, konnten die Auftragssummen von 64 Millionen Euro im Jahr 2010 auf 127 Millionen Euro im Jahr 2012 verdoppeln. Besonders einfach ist die Überweisung an private oder teilprivate Einrichtungen, wenn diese sich nur ein paar Gänge weiter in stillgelegten Stationen staatlicher Krankenhäuser eingemietet haben.

Freilich füllen die Privatfirmen nur Lücken, die profitträchtig sind. Im Vall d’Hebron ist die Notaufnahme seit Jahren überlastet. Da es vor allem im Sommer wegen der ferienbedingten Schließungen von Stationen und Operationssälen kritisch wird, wurde das Thema im vergangenen Jahr im Regionalparlament behandelt. Dabei ging es auch um ein anderes großes Krankenhaus im Ortsteil Bellvitge der mit Barcelona verschmolzenen Stadt L’Hospitalet. Die dortige Notaufnahme war ebenfalls mehrmals überlastet, so dass Menschen oft tagelang in den Gängen lagen.
Im Juni gab es dort aber eine kleine Rebellion. Als wie jeden Sommer Stationen geschlossen werden sollten, weigerten sich einige Patienten, in andere Zimmer verlegt zu werden. Einer von ihnen blockierte noch einen Monat später eine Stationsschließung und konnte nur in der Narkose nach seiner Operation verlegt werden. Vorangegangen war eine Aufklärung der Patienten und ihrer Familien durch Mitglieder der Nachbarschaftsvereine von L’Hospitalet. Auch bei anderen Krankenhäusern Barcelonas organisieren traditionelle Nachbarschaftsvereine die Proteste mit. In Bellvitge waren die Protestierenden misstrauisch, da sich Sommerschließungen ihnen zufolge teils in dauerhafte verwandelt hatten.
Diese Zustände sind längst kein Geheimnis mehr, wenn auch viele große Medien sich nicht allzu sehr darum kümmern. Hinzu kommt die Situation des Personals. Kataloniens Regierung hat den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in den vergangenen Jahren noch mehr Geld gestrichen als die Zentralregierung. Zudem hat sie die Arbeitszeit im Gesundheitssektor stark erhöht. Der zum Teil immense Personalabbau vollzieht sich dadurch etwas unauffälliger, dass in mehreren Krankenhäusern viele befristete Verträge vergeben werden, oft nur für einen Tag.

Trotz allem waren die Proteste zwischen 2011 und 2014 abgeflaut. Einige Protestierende beklagen, dass die Medien und viele Menschen zu sehr mit der Separatismusdebatte beschäftigt seien. Verglichen mit den Massen bei den separatistischen Aufläufen ist es tatsächlich geradezu bestürzend, wie wenig gegen die Kürzungspolitik im Gesundheitssektor protestiert wurde. Immerhin ist der Druck so sehr gestiegen, dass am 9. April die Abgeordneten aller Oppositionsfraktionen im Regionalparlament aus Protest gegen Gesundheitsminister Ruiz den Saal verließen, weil er ihrer Meinung nach gegen einen Parlamentsbeschluss handelte, indem er den Verkauf anonymisierter Patientendaten sowie die Schaffung eines weiteren öffentlich-privaten Konsortiums weiter vorantrieb.
Die in den vergangenen Jahren sehr erstarkte linksnationalistische Republikanische Linke Kataloniens (ERC) teilt die Kritik, ihre Abgeordneten blieben aber im Saal. Sie stützen die CiU-Regierung, seit diese 2012 die absolute Mehrheit verlor. Die ERC hat die CiU erfolgreich in Richtung Separatismus getrieben, verzichtet aber im Gegenzug weitgehend auf Proteste gegen Sozialkürzungen. Der katalanische Ministerpräsident Artur Mas kann mit seiner nationalistischen Politik und dem offenen Konflikt mit der Zentralregierung gut die lokalen Härten und die Interessenpolitik seiner Partei übertünchen.
Mittlerweile gibt es nicht nur sozialpolitische oder moralische Beweggründe für Kritik an der spanischen Gesundheitspolitik. Dass sich im Oktober eine Madrider Krankenpflegerin mit Ebola ansteckte, lässt sich den Einsparungen zuschreiben (was fast alle deutschen Medien unterschlagen haben). Bereits im Sommer hatte es Proteste dagegen gegeben, das Krankenhaus, in dem sie arbeitete, zur Ebola-Spezialklinik zu ernennen, da es dafür schlecht ausgerüstet schien. Später wurden Warnungen und sogar Anzeigen seitens des Personals aus der Zeit vor der Aufnahme des ersten Ebola-Patienten bekannt. Die Pflegerin war zwei Wochen lang in Madrid unterwegs, ­bevor ihre Infektion erkannt wurde. Ein großes europäisches Land riskierte also durch die Kürzungen im Gesundheitssektor eine gefährliche Epidemie.