Neue Überwachungsgesetze in Frankreich

Das sechste Auge

In der französischen Nationalversammlung wurde in erster Lesung ein Gesetz verabschiedet, das umfangreiche Überwachungsmaßnahmen ermöglicht.

Das nennt man einen geschickten politischen Schachzug. Während seines Fernsehauftritts am Sonntag beim Privatsender Canal + kündigte Frankreichs Staatspräsident François Hollande an, er selbst werde wegen eines der umstrittensten Gesetzestexte, die sich in dieser Legislaturperiode im Abstimmungsverfahren befinden, das Verfassungsgericht anrufen. Das ist ein Novum. Noch nie hat ein amtierender Präsident einen Gesetzentwurf der ihm unterstellten Regierung den Verfassungsrichtern zur Prüfung vorgelegt.
Es geht um das geplante Gesetz zum Nachrichtendienstwesen und zur Nachrichtenerfassung, das in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag voriger Woche in erster Lesung von der französischen Nationalversammlung angenommen wurde. Verabschiedet wurde es mit nur 25 Ja- bei fünf Neinstimmen nach einer Debatte, die tagelang vor beinahe leeren Parlamentsbänken – die Nationalversammlung zählt 577 Abgeordnete – stattgefunden hatte. Das ist erstaunlich angesichts der Wellen, die die Diskussion um diesen Entwurf in der Gesellschaft und in vielen Medien schlägt.
Verfassungsbeschwerden durch Bürgerinnen und Bürger sind in Frankreich erst seit einer Reform von 2008 möglich, zuvor war dies dem Parlament und den Spitzen der Exekutive vorbehalten. Doch in diesem Fall scheint sich bereits eine Vielzahl einzelner Rechtsbeschwerden anzubahnen. François Hollande will nun gewissermaßen vorbeugend den Druck mindern. Unklar ist derzeit noch, ob die konservative Opposition ihre eigenen Pläne für eine parlamentarische Verfassungsklage aufrechterhalten wird.
Der Gesetzentwurf hat es in sich. Er legalisiert viele technische Gerätschaften, die, wie die Befürworter als Argument anführen, zum Teil ohnehin bereits im Einsatz sind, nunmehr jedoch auch einem Mindestmaß an Kontrolle unterstellt werden. Doch beruhigt das Argument, vieles sei bislang ohnehin illegal gemacht worden, die meisten Kritikerinnen und Kritiker nicht gerade.

Auch andere Argumente von Seiten der Regierung und anderen Befürwortern haben nicht die ruhigstellende Wirkung, die wohl von ihren Urhebern erhofft worden war. So hielt Innenminister Bernard Cazeneuve den Gesetzesgegnern im Parlament entgegen, der Text greife »in keines der Grundrechte ein, in kein einziges Grundrecht, wohl aber greift er ins Privatleben ein«, wenngleich – wie er hinzufügte – in kontrolliertem Ausmaß. Doch das Recht auf eine geschützte Privatsphäre zählt selbstverständlich zu den Grundrechten, wie die Opponenten sofort geltend machten. Cazeneuve rief, angesprochen auf einen kritischen Artikel in der Internetzeitung Rue89, im Parlament auch aus: »Ich glaube grundsätzlich nicht, was in den Medien geschrieben steht.« Diese pauschale Herabsetzung der Medien stieß ebenfalls auf Kritik.
Zu den meistdiskutierten Gesetzesartikeln zählt der Paragraph 2 des Entwurfs, der Internetprovider zwingt, so genannte boîtes noires (black boxes) zu unterhalten und den gesamten Datenverkehr durch diese Vorrichtungen laufen zu lassen. Anhand von wiederkehrenden Stichwörtern oder Wortkombinationen soll dann heraus­gefiltert werden, welche Userinnen oder User künftig einer Observation durch die Nachrichtendienste unterzogen oder zumindest in ihrem ­Internetverhalten beobachtet werden. Die Journalistin, die zum »Islamischen Staat« (IS) recherchiert, droht dabei jedoch viel eher im ausgelegten Netz hängenzubleiben als der Jihadist, der einschlägige Websites nicht von zu Hause aus besucht, sondern als anonymer Gast in Internet­cafés und bei der Kommunikation mit Gleichgesinnten vereinbarte und unverdächtig klingende Codeworte benutzt.

Kritisiert wird von den Gegnern des Gesetzentwurfs, dass grundsätzlich jeglicher Datenverkehr auf diese Weise überwacht werden soll, unabhängig von einem Anfangsverdacht. Zwei Provider, die die bislang vor allem für Kollektivnutzer wie Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und NGOs interessanten Dienste Eu.org und Altern.org anboten, haben Anfang dieser Woche angekündigt, sich nun aus Frankreich zurückzuziehen und sich lieber in »die Grundrechte stärker respektierenden Ländern« anzusiedeln. Erst kurz zuvor hatte Altern.org noch 40 Millionen Dollar in der nordfranzösischen Krisenstadt Roubaix investiert.
Frankreich, das die Vorratsdatenspeicherung für zwölf Monate bereits 2006 einführte, würde sich mit dem neuen Gesetz weiter den sogenannten Five Eyes annähern, dem geheimdienstlichen Bündnis, dem die USA, Kanada, Großbritannien, Australien und Neuseeland angehören, die für ihre technisch hochentwickelte Überwachungspraxis im Datenverkehr bekannt sind.
Der Entwurf enthält aber noch andere brisante Vorhaben. So soll den Polizei- und Nachrichtendiensten die Nutzung sogenannter IMSI-Catcher erlaubt werden. Dabei handelt es sich um mit einem Bildschirm ausgestattete Geräte, die tragbar sind und sich unerkannt in den Funkverkehr zwischen einem Mobiltelefon und einer Relaisstation einschalten, die International Mobile Sub­scriber Identity (IMSI) entschlüsseln und entweder den Inhalt von Gesprächen aufzeichnen oder »nur« die Verbindungsdaten oder den Standort des Nutzers registrieren. Eingesetzt werden könnte das Gerät am Tatort eines Verbrechens. Möglich ist aber auch der Einsatz bei einer Demons­tration, wo Teilnehmer ohne mühseliges Filmen identifiziert und deren Gespräche und Verabredungen abgehört werden könnten.

Eine der Besonderheiten des IMSI-Catchers ist es, dass das Gerät nicht registriert, welche Anfragen an es gerichtet wurden, also welchen Gebrauch Polizeibeamte oder Nachrichtendienstler davon machten. Jegliche Missbrauchskontrolle ist damit unmöglich. Lediglich der Preis – bislang kostet ein solcher Apparat 375 000 Euro – dürfte von einer allzu flächendeckenden Nutzung abhalten. Innenminister Cazeneuve versicherte, wegen des hohen Missbrauchsrisikos würde die Speicherung aller Nutzungsdaten für die Geräte zentralisiert und ausschließlich beim Amt des Premierministers angesiedelt. Nur leider hatte derselbe Minister zuvor in einer Parlamentskommission eingeräumt, bislang sei die Technologie für eine solche Zentralisierung »noch nicht entwickelt«.
Im Jahr 2009 haben die damals oppositionellen Sozialdemokraten gegen vergleichbare Vorhaben der Rechtsregierung noch protestiert. Derzeit sind es die oppositionellen Konservativen, die sich in die Pose der Verteidiger bedrohter Bürgerrechte aufschwingen, weswegen es zu seltsamen Koalitionen im Parlament zwischen ehemaligen konservativen Ministern wie Hervé Morin und sozialdemokratischen Linksabweichlern gekommen ist. Ähnlich argumentiert theoretisch auch der Front National, dessen Abgeordnete in der Praxis jedoch einfach der Abstimmung fern blieben. Eine Ausnahme bildet der rechtskonserva­tive Abgeordnete Éric Ciotti von der Côte d’Azur, der bislang noch jede rechtspolitische Vorlage verschärfen wollte und aus Prinzip für eine Verstärkung repressiver oder überwachungsstaatlicher Maßnahmen eintritt.
Die französische Gesellschaft zeigt sich gespalten. In einer Umfrage sagten zwar 68 Prozent, dass sie verschärfte Gesetze im Kampf gegen den Terror für »notwendig« hielten, 63 Prozent stimmen grundsätzlich auch »der Einschränkung von Grundrechten« zu. Doch 69 Prozent erklärten sich am Sonntag über den Entwurf »besorgt«.