Der Umgang der türkischen Regierung mit der Geschichte

Erdogan setzt auf Nationalismus

Die Hoffnung, die viele Armenier anfangs in die AKP gesetzt haben, ist verflogen. Statt auf Dialog und Annäherung setzt die türkische Führung weiterhin auf die hergebrachten Geschichtslügen.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan schalt ganz Europa einen Club fanatischer Gefolgsleute einer antiislamischen Verschwörung gegen sein Land. Das Europaparlament hatte die Türkei nach einer Abstimmung am 15. April aufgefordert, die Verfolgung von Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord anzuerkennen. Der Minister für die Beziehungen zur EU, Volkan Bozkır, echauffierte sich in einer schriftlichen Stellungnahme, es sei nicht die Aufgabe des Europapar­lamentes, die Geschichte zu verdrehen und zugunsten einer einseitigen Würdigung des Leidens der armenischen Bevölkerung die an der türkischen muslimischen Bevölkerung begangenen Gräueltaten zu missachten. Die Republikanische Volkspartei (CHP) und die Nationalistische Bewegungspartei (MHP) solidarisierten sich mit der ­islamisch-konservativen »Regierungspartei für Gerechtigkeit und Fortschritt« (AKP); alle drei verurteilen die Haltung der EU scharf.

Das Niveau dieser Debatte definierte erneut Erdo­ğan. Papst Franziskus hatte zu Ostern den Genozid an Christen im Osmanischen Reich als solchen benannt. Präsident Erdoğan drohte: »Verehrter Papst: Ich verurteile diesen Fehler und warne davor, ihn noch einmal zu begehen.« Politisch völlig verfehlt signalisierten daraufhin die führenden Parteien in der EU und in Deutschland, die Vorfälle am Rande des Ersten Weltkrieges künftig zwar als schrecklich und grausam, aber nicht als Genozid zu titulieren. Die Kritik des Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir, sie kuschten vor der Türkei, fiel da – angesichts dieser interessenge­leiteten Wortklauberei – noch zu harmlos aus. Immerhin wollen die Grünen und die Linkspartei bei der Gedenkfeier für die Opfer am 24. April im Bundestag von Völkermord sprechen. Auch CDU-Fraktionsvize Franz Josef Jung hat nun angekündigt, dass in den Formulierungsvorschlägen für die Abgeordneten das Wort »Völkermord« vorkommen könne.
Die islamisch-konservative Regierung der Türkei war vor 13 Jahren unter anderem angetreten, um »die Religionen miteinander zu versöhnen«. Doch stattdessen setzte die AKP die offizielle tür­kische Politik fort, die seit der Gründung der Republik den Völkermord leugnet. Während Armenien darauf pocht, dass der Tod von bis zu 1,5 Millionen Landsleuten während des Ersten Weltkriegs Resultat einer gezielten Vernichtungskampagne des Osmanischen Reiches war, spricht die Türkei lediglich von einigen Hunderttausend Toten auf beiden Seiten aufgrund Kämpfen, schlechten Wetterbedingungen und Hungersnöten. Das Europaparlament bezeichnet die Ereignisse bereits seit 1987 offiziell als Völkermord und schloß sich damit der Haltung zahlreicher Historiker und einiger EU-Staaten an. Erstmals wurde nun jedoch die Türkei zur Anerkennung aufgefordert, die ihrerseits auf weiteren historischen Forschungen besteht. Präsident Erdoğan forderte die armenische Diaspora auf, vor dem 24. April, dem Tag des Gedenkens an den Beginn des Genozids, in die Türkei zu kommen, um ihre historischen Beweise vorzulegen.

Die armenische Regierung wurde zu den türkischen Gedenkveranstaltungen der Opfer des Ersten Weltkriegs nach Çanakkale eingeladen; doch dort werden am 24. April Passionsspiele für die Gefallenen der Schlacht von Gallipoli zelebriert, ein Spektakel, das bislang immer am 25. April stattgefunden hatte. Die armenische Seite lehnte ab und lud die türkische Regierung ein, zu der Gedenkveranstaltung der Opfer des Völkermords nach Eriwan zu kommen. Dabei hatte es eine Zeitlang Anzeichen eines Dialogs zwischen Armenien und der Türkei gegeben. Doch ähnlich wie der Friedensprozess mit den Kurden wird auch die Aussöhnung mit den Armeniern innenpolitischen Konflikten geopfert. Am 7. Juni wird in der Türkei ein neues Parlament gewählt. Angesichts der Aussichten der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP/HDP), dieses Mal über die Zehn-Prozent-Hürde zu gelangen und damit das Wahlergebnis zu Ungunsten der AKP zu verändern, setzt diese auf Nationalismus. Vor den Wahlen fürchten sowohl Kurden als auch Armenier Provokationen. »Es ist klar, dass viele Armenier und andere Minderheiten dieses Mal für die Kurden stimmen«, unterstreicht Aris Nalcı, einer der Herausgeber des mehrsprachigen Magazins Van Times, das die multikulturelle Vergangenheit Ost- und Südostanatoliens thematisiert. Die meisten Armenier wurden ab 1915 aus diesen Provinzen deportiert. In türkischen Schulbüchern steht bis heute, die Armenier hätten im Ersten Weltkrieg mit Feinden paktiert. Eine historische Lüge, der Großteil der Armenier fühlte sich als Osmanen, bis ins 19. Jahrhundert waren sie eine Bevölkerungsgruppe unter vielen. Sie stellten als reli­giöse Minderheit zwar Untertanen zweiter Klasse dar, waren aber keiner besonderen Verfolgung ausgesetzt. Dies änderte sich unter dem Eindruck der Modernisierung und des aufkommenden Nationalismus. Der antiosmanische Nationalismus auf dem Balkan, der Verlust des Großteils der europäischen Gebiete des Osmanischen Reichs und der koloniale Zugriff europäischer (christlicher) Mächte auf das osmanische Territorium rückten sie plötzlich in den Ruch der Kollaboration mit dem Feind.

Bis heute hat sich an der offiziellen Politik wenig geändert. Neuerdings will Erdoğan 100 000 Arbeitsmigranten abschieben, weil sie Armenier sind. Nur noch etwa 50 000 Armenier sind in Besitz der türkischen Staatsbürgerschaft. Ursprünglich war allein die Istanbuler Gemeinde so groß. In der kleinen Galerie direkt am Istanbuler Galata-Turm hängt melancholische Malerei. Frauenportraits in Pastell, die Gesichter von Schmerz, Trauer und Wut verzerrt, schweben wie Madonnen auf blassen Hintergrundfarben. Der Titel »Zwischen Feuer und Schwert« scheint auf den ersten Blick nicht recht zu passen. Auf den zweiten sind Pistolenmündungen und Gewehrläufe an den Rändern der Bilder zu erkennen. Der Titel wurde von den Schilderungen der Massaker in Kilikien 1909 inspiriert. Zwischen 17 000 und 21 000 Menschen, vor allem Armenier, aber auch assyrische und griechische Christen wurden in der heutigen Provinz Adana von osmanischen Soldaten und der einheimischen Bevölkerung niedergemetzelt. Die Schilderungen stammen aus der Feder der 1878 in Istanbul geborenen armenischen Lyrikerin und Schriftstellerin Zabel Jesajan, die als einzige Frau 1915 auf einer Todesliste mit 300 armenischen Intellektuellen stand. Jesajan konnte noch rechtzeitig nach Bulgarien fliehen. Alle anderen wurden am 24. April verhaftet, deportiert und verschwanden, sprich wurden ermordet.
Aret Gıcır, der Maler der melancholisch-entrückten Pastellbilder in der Galerie Öktem & Aykut, zeichnet in der armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos als Karikaturist seit 2009 eine satirische Serie unter dem Titel »Seit 1915«. In seinen ersten Zeichnungen machte sich Gıcır noch über die Orthodoxie der armenischen Diaspora lustig. »Diaspora, es sind jetzt 95 Jahre vergangen« untertitelte er seine zweite Zeichnung am 31. Dezember 2009. In jenem Jahr lag zwar die Ermordung des armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, des ehemaligen Herausgebers von Agos, bereits zwei Jahre zurück. Doch immer noch galt die islamisch-konservative Regierungspartei als Hoffnungsträgerin. Das ist in diesem Jahr nicht mehr so. Am 31. März kommentierte Gıcır seine Zeichnung mit den Zeilen: »Wenn doch Hrant Dink noch leben würde und Taniel Varujan (1915 ermordeter Dichter, Anm. d. Red.)«. Ja wenn, dann würde das Heute wohl anders aussehen. Doch tatsächlich wurden sie alle ermordet und sind damit Opfer des Genozids an Armeniern in der Türkei.