Nukleare Normalität

Zunächst war es nur Jakob Augstein. Die »iranische Bombe ist nicht mehr zu verhindern«, schrieb er in seiner Kolumne auf Spiegel Online, und das ist der »Anfang vom Ende einer Anomalie: Israel wird in absehbarer Zeit nicht mehr die einzige Atommacht im Nahen Osten sein«. Warum sollte man den Ayatollahs die Bombe nicht gönnen? »Es gibt keinen Anlass, die Machthaber von Teheran für verrückter zu halten als ihre Pendants in Washington und Jerusalem.« Augstein mal wieder, mochte man denken, der 2012 errungene neunte Platz bei den »Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs« des Simon Wiesenthal Center genügt ihm wohl nicht. Aber man muss die Angelegenheit wohl ernster nehmen, denn der international wesentlich einflussreichere Noam Chomsky äußert sich ähnlich: »Selbst wenn der Iran über eine Atombombe verfügen würde, wieso sollte das den Vereinigten Staaten Sorgen bereiten? (…) Ein Iran mit Atomwaffe wäre nur eine Abschreckung gegen Israels Aggressivität in der Region.«
Wir erinnern uns: Dass der Iran ein militärisches Atomprogramm verfolgt, wurde bis vor kurzem noch als von Neocons und Mossad-Agenten verbreitetes Hirngespinst abgetan. »Es ist nicht bewiesen, dass der Iran wirklich an der Atombombe arbeitet«, behauptete Augstein 2012. Warum der Sinneswandel? Recherche können wir ausschließen, eher dürfte es sich um ein putin­eskes Manöver handeln. Der russische Präsident leugnete lange, dass seine Truppen vor dem Referendum auf der Krim aktiv waren, im April 2014 bestätigte er dann deren Einsatz mit einer Selbstverständlichkeit, als habe er nie etwas anderes behauptet. Auch im Fall Augsteins und Chomskys kann man bezweifeln, dass sie jemals an den friedlichen Charakter des iranischen Atomprogramms geglaubt haben. Zweifellos aber würden beide den Vorschlag, die Ukraine nuklear zu bewaffnen, um die Anomalie zu beenden, dass Russland die einzige Atommacht in Osteuropa ist, vehement ablehnen, obwohl eine solche Forderung schlüssiger wäre. Schließlich hat Russland Teile der Ukraine annektiert, Israel hingegen erhebt keine Ansprüche auf iranisches Territorium. Auch mit der »islamischen Bombe«, den Atomwaffen Pakistans, mögen sich die beiden nicht zufriedengeben. Das Militär des Landes ist mit Indien vollauf beschäftigt und zeigt zu geringes Interesse an Israel. Mit sicherem Instinkt überträgt man die Aufgabe, ein Gegengewicht zu Israel zu schaffen oder dessen »Aggressivität« entgegenzutreten, jenem Staat, dessen Militär am Samstag in Teheran mit dem Banner »Tod Israel« paradierte. Da die sogenannte Friedensbewegung bereits im Ukraine-Konflikt den Pazifismus durch die Geopolitik ersetzt hat, muss befürchtet werden, dass die Nonproliferation durch die Ansicht abgelöst wird, den armen Ayatollahs bliebe gar nichts anderes übrig, als sich nuklear zu bewaffnen.