Das Symposium »Richtige Literatur im Falschen – Schriftsteller – -Kapitalismus – Kritik«

Schreiben, bis die Syntax bricht

Auf einer Autorentagung im Berliner Brechthaus wurde Grundsätzliches diskutiert: Kann es richtige Literatur im Falschen geben?

In Berlin trafen sich am 17. und 18. April auf dem Symposium »Richtige Literatur im Falschen? Schriftsteller – Kapitalismus – Kritik« Schriftsteller und Wissenschaftler, um sich drängenden Problemen der Gegenwart zu widmen. Das von dem Literaturwissenschaftler Enno Stahl und dem Politikwissenschaftler Ingar Solty organisierte Treffen war zunächst als Werkstattgespräch unter Ausschluss der Öffentlichkeit geplant. Erst in der Vorbereitung entschied man sich dafür, einen Publikumstag sowie öffentliche Abendveranstaltungen mit Podiumsdiskussionen und Lesungen abzuhalten. Der Charakter des Werkstattgespräches wurde glücklicherweise beibehalten, so dass im Literaturforum im Brechthaus in der Mitte des Raumes 18 Stühle um Tische herum gruppiert waren, auf denen die geladenen Gäste, Schriftsteller sowie Literatur- und Politikwissenschaftler saßen; außen sammelte sich die interessierte Öffentlichkeit. Diese Form der Diskussion bietet sowohl den Diskutanten wie dem Publikum die Möglichkeit, an der Entwicklung eines längeren Gesprächs teilzuhaben, in dessen Fortgang sich verschiedene Analysen und Urteile deutlich konturieren – und gleichzeitig nach Verbindendem und Gemeinsamem gesucht wird. So resümierte Enno Stahl am Ende der Veranstaltung, dass die Erfahrungen des Wochenendes bei allen Beteiligten das Bedürfnis verstärkten, auch in Zukunft den gemeinsamen Austausch zu verfolgen; in welcher Form, mit welchem Grad der Organisation, müsse sich in dem Prozess noch zeigen.
In was für einer Welt leben wir eigentlich? Was ist die Rolle von Schriftstellern im globalen Kapitalismus? Derlei Fragen und weitere mehr wollte man auf der Tagung diskutieren. Und es zeigte sich, dass sich die Antworten trotz einer von allen Teilnehmenden geteilten Skep­sis gegenüber dem Unrecht der kapitalistischen Produktionsweise deutlich unterschieden. Der Literatur komme die Aufgabe zu, die Wärme in Zeiten der beschleunigten Automatisierung und der Utopien technischer Machbarkeit des Silicon Valley zu verteidigen, bemerkte Thomas Wagner. Globalisierung! Digitalisierung!, prangerte der Schriftsteller Norbert Niemann an. Aber sei denn nicht das Problem, dass das Elend nicht nur in seinen krassen Erscheinungsformen besteht, sondern sich durch Verinnerlichung als Zerstörung der Subjekte darstelle, fragte der Romancier und Politikwissenschaftler Raul Zelik. Angst und Traurigkeit im Kapitalismus seien Themen der Zeit. Die Lyrikerin Monika Rinck merkte an, dass Sprachkritik eine der möglichen und wichtigen Funktionen von Literatur sei – Kritik der Phrasen und Euphemismen. Die realistische Darstellung ergebe sich aus der Haltung, sagte die Lyrikerin und Dramatikerin Kathrin Röggla. Das Motiv des Realismus sei der Protest. Die permanente Werbung, die endlose Rede der Ideologie führe zum Verschließen der Ohren und der Augen von Menschen, sagte die Lyrikerin Ann Cotten; diese Weltabschottung müsse literarisch durchbrochen werden.
Wie verhält man sich als Literaturschaffender zur Welt? Diese Frage ist nicht zu trennen von der Funktion der Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft. Engagement ist vorstellbar als öffentliches Auftreten des Autors. Er ist in diesem Moment Staatsbürger, citoyen, in der Tradition von Emile Zolas »J’accuse«. Doch rührt dieses Auftreten nicht an die Trennung von citoyen und bourgeois. Die im Brechthaus versammelten linken Schriftsteller tendierten zu der Ansicht, man müsse an den Grundlagen der Gesellschaft rütteln, an der Sphäre der Ökonomie ansetzen. Was habe das noch mit Literatur zu tun, wandte Ingo Schulze ein, gute Literatur sei differenziert und stets konkret, erlaube einen neuen Blick auf vermeintlich Bekanntes und werfe einen staunenden Blick auf die Welt.
Bei allen Unterschieden gab es doch auch Gemeinsamkeiten, über die zügig Einigkeit erreicht wurde. Selbstverständlichkeiten seien verloren gegangen, das Publikum sei unbekannt, eine umfassende politische Bewegung nicht in Sicht. Die Welt, also die Gesellschaft, sei komplex geworden, nahezu undurchschaubar. Die Krise mache alles noch schlimmer. Der neoliberale Kapitalismus integriere auch die Kritik – und seien nicht überhaupt die Schriftsteller als freischaffende Repräsentationsspezialisten im herrschenden Zirkus ein Vorbild neoliberaler Subjektkonstitution und Arbeitsverhältnisse? Die erhobene Klage war aber nicht in jedem Aspekt zielführend, um das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft zu klären; ist es doch so, dass offenkundige politische Missstände beseitigt werden wollen, nicht bedichtet.
Der Literaturwissenschaftler Helmut Peitsch und der Kulturwissenschaftler Jan Loheit skizzierten kulturpolitische und ästhetische Debatten des 20. Jahrhunderts – vom Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller über Hans Mayers 1948 gehaltenen Vortrag »Der Schriftsteller und die Krise der Humanität« bis zu den Debatten zwischen Adorno, Sartre und Lukács. In der DDR setzte sich Werner Mittenzwei, ganz im Sinne Brechts, der zu seiner Zeit die Vielfalt realistischer Schreibweisen verteidigte, erfolgreich für die Anwendung moderner Kunstmittel – innerer Monolog, Stilwechsel, Montage, Verfremdung – in der Literatur ein. In der BRD gründete sich die Gruppe 61 und der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, dessen langjähriger Sprecher Erasmus Schöfer ebenfalls an der Tagung teilnahm. Autoren-Editionen veränderten das Verhältnis der Produzenten zum Produktionsprozess und zum Produkt, so zum Beispiel die Bertelsmann-Autoren-Edition, die Ende der siebziger Jahre wegen angeblichen Sympathisantentums mit der RAF eingestellt wurde.
Im Hinblick auf die von Florian Kessler 2014 in der Zeit ausgelöste und auch in der Jungle World geführte Debatte über die vermeintliche Bravheit und Mittelschichtsfixiertheit der deutschen Gegenwartsliteratur (»Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!«) erneuerte Enno Stahl seine Forderung nach einem neuen Realismus, den er auch »analytischen« oder »akzelerationistischen Realismus« nennt. Gegen die Vergangenheitsfixierung der deutschen Literatur müsse man das Tempo der Gegenwart beschleunigen, der Zukunft zugewandt sein, um die Statik der gesellschaftlichen Konventionen ins Wanken zu bringen – wenn nötig bis zum Zerbrechen der Syntax. Man müsse sich radikal moderne Mittel wie in der amerikanischen Gegenwartsliteratur aneignen; Harmonie und Ornament seien zu meiden. Doch es steht zu befürchten, dass man sich mit solchen Forderungen eher von der Grammatik als vom Kapitalismus befreit. Möglicherweise ist das Programm Stahls auch nicht einfach zu verallgemeinern. Dass es für seine literarische Methode funktioniert, hat er mit seinem neuesten Roman »Winkler, Werber«, erschienen im Verbrecher-Verlag, bewiesen. Stoffe, so führte Stahl aus, lägen auf der Straße, für jeden sichtbar, greifbar, man müsse nur den Literaturbetrieb und seine angegliederten Institutionen verlassen.
Der literarische Fokus hat sich im Laufe der Zeit immer wieder verschoben. War in der Nachkriegszeit die Literaturdebatte maßgeblich durch die Erfahrung des Nationalsozialismus und durch die Kritik von Adorno, Mayer und Celan geprägt, so hat sich schon in der Sechzigern und Siebzigern die Debatte der Kritik der Arbeits- und Alltagswelt zugewandt und hat heute vor allem den sogenannten Neoliberalismus und seine Ausbeutungs- und Herrschaftsmethoden zum Gegenstand. Das hängt auch mit einer Erinnerungsliteratur zusammen, die Helmut Peitsch als Enkelliteratur bezeichnete. Deren Merkmal sei der Bericht einer Generation, die sich emotional an die Eltern und Großeltern gebunden fühlt, aber kognitiv deren Vorurteile überwunden zu haben meint. Der geschilderte Konflikt läuft auf individuelle Befreiung von der unangenehm empfundenen Herkunft und der Vergangenheit der Nation heraus – dementsprechend ist das Thema die geläuterte Nation. Diese Literatur übernimmt die künstlerische Assistenz der herrschenden Ideologie freiwillig.
Im Verlauf der Tagung wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass sich bestimmte Probleme für bestimmte Gattungen sehr verschieden stellen. Die Lyrik, die Dramatik und die Prosa haben nicht nur eine Tradition ihrer jeweiligen Kunstmittel und Formensprache, sie haben auch unterschiedliche funktionale Verfahren. Die Lyrik kann beispielsweise die Extremmontage in einer Weise einsetzen, die der Dramatik, die im weitesten Sinne auf eine personale Handlung angewiesen ist, so nicht zur Verfügung steht. Der Roman, den Hegel und Lukács als das bürgerliche Medium schlechthin bezeichneten, ist in seiner Form der Erzählung von Subjekt und Welt der Struktur der Gesellschaft ähnlich – doch das löst das Problem der Erzählung nicht. Denn die Einsicht Adornos, das sich zentrale Aspekte der Gesellschaft wie des Individuums der Erzählbarkeit entziehen, teilten auch viele der anwesenden Autoren der Tagung.
Literatur versucht das Exemplarische zu verdichten, im Individuellen das Allgemeine deutlich zu machen, die großen Tendenzen der Zeit in einer Figur, einer Handlung, einem Stoff zu fassen. Zugleich ist es der Literatur möglich, abstrakte Vorgänge als mit Erfahrung gesättigte, erlebte Welt darzustellen. Dass 50 Prozent der spanischen Jugendlichen ohne Arbeit und ohne Perspektive auf ein selbständiges Leben unter den jetzigen Bedingungen existieren, kann von einer Information zu einem Erfahrung werden – durch Literatur. Die Verwandlung der Welt, die anverwandelnde Aneignung des Weltgeschehens, ist der Modus der Literarisierung. Doch ist die Literatur damit schon eine kritische? Muss sie sich nicht den sozialen Auseinandersetzungen der Gegenwart gegenüber solidarisch verhalten, ihre politische Haltung ausdrücken? Nun ist eine realistische Kunst nicht Naturalismus; ein Messingnapf machte um 1900 keinen realistischen Roman und heute verhält es sich ebenso mit einem in den Text eingebauten Verweis auf neoliberale Arbeitsverhältnisse. Realitätseffekte können kein realistisches Verfahren ersetzen, denn das Verfahren, wie auch immer es im Detail beschaffen ist, bedeutet oder deutet die Welt, der Realitätseffekt stiftet nur den Schein von Authentizität. Schlichte Unmittelbarkeit ist kein Realismus.
Die Dialektik des Kunstwerks ist, die Welt noch einmal zu sein, aber anders, also das Wirkliche der Wirklichkeit zu bedeuten. Georg Lukács hat es treffend formuliert, indem er die künstlerische Gestaltung als doppelte Arbeit begriff, durch die »eine neue, gestaltet vermittelte Unmittelbarkeit (entsteht), eine gestaltete Oberfläche des Lebens, die, obwohl sie in jedem Moment das Wesen klar durchscheinen lässt (was in der Unmittelbarkeit des Lebens selbst nicht der Fall ist), doch als Unmittelbarkeit, als Oberfläche des Lebens erscheint.« Die Kunst beleuchtet die Einzeltatsachen in einem anderen Zusammenhang. Die Synthese der Gestaltung, mit ihren historisch entwickelten wie gegenwärtig innovativen Kunstmitteln, fasst die Welt also sowohl nach der Seite ihrer Rückständigkeit und Bedürftigkeit, aber auch nach der Seite ihrer Veränderbarkeit zur Utopie hin auf. »Indem Kunst Unbefriedigendes auf ­zufriedenstellende Weise abbildet, ist sie selbst das entzeitlichte Abbild des Verhältnisses von Aufgabe und Lösung«, schreibt Peter Hacks.
Letztlich zeigte sich, dass eine verbindliche Definition dessen, was kritische Literatur und was ein kritischer Literat sei, kaum möglich ist. Die Lesungen, die an zwei Abenden stattfanden, machten einmal mehr deutlich, dass in dem je individuellen gelungenen Griff nach Welt auch das Begriffene verkörpert ist. Stefan Schmitzer, bekannt geworden mit seinem Band »scheiß sozialer frieden«, trug Gedichte mit beißendem Sarkasmus und antikatholischem Furor vor; Joachim Helfer, der bei aller Protest- und Widerstandssehnsucht mahnte, die Kritik des Antisemitismus nicht zu vergessen, las aus einem Roman, der ein Immobiliengeschäft detailreich schildert; Ann Cotten lieferte Auszüge aus ihrer Arbeit an einem Versepos, in dem Formstrenge sich mit Sprachwitz vereint; Enno Stahl las aus seinem Roman über den Niedergang eines Werbetexters in der Kreativbranche und Monicka Rinck präsentierte Gedichte voll Witz und Sprachgefühl.
Die Realisten machen den Realismus. Das hat sich historisch, von Shakespeare über Balzac bis Brecht und Heiner Müller, Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard so verhalten. Warum sollte es heute anders sein. Humor, Phantasie, Freude am Ausdruck, Wirklichkeitstreue sind einer kritischen Literatur sicher zuträglich; vor allem aber einer guten Literatur, die dann gleichfalls kritisch ist, indem sie die Welt, wie sie ist, in ihrer Zurückgebliebenheit beleidigt einer besseren, zukünftigen zuliebe.