Die Debatte in Armenien über die Gedenkfeierlichkeiten zum Völkermord

Umstrittene Gedenkfeiern

In Armenien wird mit einer Mischung aus Trauerspektakel und Volksfest begangen, dass sich der Beginn des Völkermords zum hundertsten Mal jährt. Nicht alle macht das glücklich.

Für viel Begeisterung sorgte Kim Kardashian in Armenien in der Vergangenheit nicht. Als Prostituierte wurde die Reality-TV-Darstellerin aus den USA geschmäht. Ein im Netz aufgetauchtes Sex-Tape, ihr eingeölter Hintern auf dem Cover des in New York erscheinenden Magazins Paper, eine Schande für die Nation sei das alles, ereiferten sich Nutzer in den sozialen Netzwerken. Dass auch im konservativen Armenien die vermeintliche Hure innerhalb weniger Tage in den Stand der Heiligen erhoben werden kann, demonstrierte Kardashians Reise nach Eriwan Anfang April. Für ein paar Tage stand das kleine Land im Südkaukasus Kopf. Schaulustige und Paparazzi verfolgten jeden Schritt der auf rätselhafte Weise zu Ruhm gekommenen und derzeit wohl bekanntesten Diaspora-Armenierin. Ministerpräsident Howik Abrahamjan persönlich nahm Kardashian in Empfang; ihr Gang zum Völkermorddenkmal auf dem Hügel Zizernakaberd sorgte bei vielen im Land für Genugtuung. »Ihr Besuch hat mehr internationale Publicity und Aufmerksamkeit für das Jahrhundertgedenken gebracht, als es die Regierung jemals hätte erreichen können«, sagte der politische Analyst Richard Giragosian der BBC.
Auch wenn Kardashian das Land inzwischen wieder verlassen hat, laufen die Vorbereitungen auf den 24. April weiter auf Hochtouren. Der Tag, an dem 1915 in Istanbul armenische Intellektuelle auf Geheiß der osmanischen Führung verhaftet und deportiert wurden, markiert für viele den Beginn des Genozids. Jedes Jahr marschieren am Trauertag Zehntausende Armenier zum Zizernakaberd. Dann schlägt auch die Stunde der Dias­pora. Aus den großen armenischen Gemeinden in Moskau, Los Angeles, Paris, Teheran oder Beirut werden dieses Jahr noch mehr Besucher als sonst anreisen.
Dutzende Veranstaltungen widmen sich Teil­aspekten des Massenmords. Armenischstämmige Prominente wie der französische Chansonnier Charles Aznavour oder die Band System Of A Down werden erwartet, Gastronomen und die Tourismusindustrie wittern das größte Geschäft seit Jahren. Die Preise für Hotelzimmer liegen in Eriwan zurzeit ein Fünftel über dem normalen Niveau. Wie in einem Mantra beschwören Marketing und verschiedenen Kampagnen die nationale Identität der Armenier als Nachfahren der Genozidüberlebenden. Eine lilafarbene fünfblättrige Blüte, versehen mit dem Motto »Forget me not«, ist von der staatlichen Planungskommission für die Gedenkfeiern als offizielles Symbol auserkoren worden. Derzeit ist es als Aufkleber an fast allen Schaufenstern, Autoheckscheiben und öffentlichen Gebäuden des Landes präsent. Ein anderer Ansatz wird von der »#AG Campaign« verfolgt: Leute kleben sich die Buchstaben A und G auf die Handrücken, als Akronym für »Armenian Genocide«, fotografieren sich damit selbst und schreiben in den sozialen Medien, wie der Völkermord das Leben ihrer Vorfahren und ihr eigenes Leben verändert hat.
Shant Meguerditchian ist einer dieser Armenier. Geboren in Kuwait, wuchs er in Kalifornien auf, wo er später für einen armenischen Lobbyverband arbeitete. Seit zwei Jahren lebt er in Eriwan, eine nicht untypische Diasporabiographie. »Die ausländischen armenischen Communitys haben immer hart für die Anerkennung des Völkermords in ihren Ländern gekämpft«, sagt der 27jährige Meguerditchian. Für die Organisation »Birthright Armenia« hat er die Internetkampagne ins Leben gerufen. Die Familiengeschichten hinter den historischen Ereignissen sollen nicht in Vergessenheit geraten. Wie die seines eigenen Urgroßvaters, der im Ersten Weltkrieg als Freischärler gegen türkische Verbände kämpfte und der als einziger in seiner Familie die Massaker und Vertreibungen überlebte. Jetzt verteilt Shant Meguerditchian die Klebebildchen in Cafés, Bars und Bildungseinrichtungen in der Stadt. Damit mehr Menschen ein Selfie machen und noch mehr Familien­erinnerungen online archiviert werden. Trifft das die Gefühlslage des Landes? Meguerditchian streicht sich nachdenklich über das kurzgeschorene Haupt. »In der Diaspora lernen wir hauptsächlich über die Zeit vor und während des Völkermords«, sagt er. Über die Geschichte des östlichen Armenien im Südkaukasus, das über 70 Jahre Teil der Sowjetunion war, wissen Armenier aus Nordamerika oder Westeuropa oft wenig. »Sie sind sehr losgelöst von dem, was hier alltäglich passiert.«

Das, was hier alltäglich passiert, ist ein schleichender Niedergang. Seit der Unabhängigkeit 1991 wurden viele der Wahlen in Armenien von internationalen Beobachtern als frei und fair anerkannt. Tausende Einwohner verlassen das Land, meist um als Arbeitsmigranten nach Russland zu gehen. Die Bevölkerungzahl liegt mittlerweile unter drei Millionen. Viele Familien sind in hohem Maße von Überweisungen der im Ausland lebenden Verwandten abhängig, mindestens 35 Prozent der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Vom Beitritt des Landes zur von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion versprechen sich die meisten Ökonomen kaum Wachstumsimpulse. Hinzu kommt der ungelöste Konflikt mit dem Nachbarn Aserbaidschan: Die umstrittene Region Bergkarabach wird von Armeniern bewohnt, die nach dem Waffenstillstand von 1994 auf aserbaidschanischem Staatsgebiet eine eigene Republik ausgerufen haben. Bei Schusswechseln an der Grenze sterben auf beiden Seiten jährlich Dutzende Soldaten, viele befürchten eine Fortsetzung des Kriegs. Die mit Aserbaidschan verbündete Türkei hat als Reaktion auf den Konflikt die Grenze zu Armenien geschlossen.
Die internationale Anerkennung des Genozids ist eines der of­fiziellen außenpolitischen Ziele des Landes. Luisa Pogosjan hält das für einen Fehler.« Diese Politik der Anerkennung hat in den letzten 50 Jahren nichts gebracht, sie ist nichts weiter als eine nationalistische Idee«, sagt sie. Pogosjan gehört zu den wenigen, die sich in dem eingefahrenen Konflikt mit Aserbaidschan für eine Aussöhnung einsetzen. Jedes Jahr organisiert sie mit anderen Friedensaktivisten ein Treffen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern in dem georgischen Dorf Tekali. Es sind herzliche und zum Teil schmerzhafte Begegnungen zwischen Menschen, die in Sowjetzeiten als Nachbarn zusammenlebten und seit Kriegsbeginn selten miteinander sprechen können. »Anstatt nur über den Genozid zu reden, sollten diese Armenier aus der Diaspora lieber den Friedensprozess unterstützen. Und die Demokratie in unserem Land.« Luisa Pogosjan raucht Kette. Nach jedem Satz, in dem sie über das armenische Selbstmitleid schimpft, nimmt sie zur Beruhigung einen langen Zug. Aus ihr spricht Verachtung für die Nationalisten, die jedes Jahr aufs Neue vor der Eriwaner Oper türkische Fahnen verbrennen und Hassparolen gegen das Nachbarland skandieren. Damit gebe man den türkischen Medien nur das, was sie haben wollten. »Irgendwann wird die Regierung in Ankara den Völkermord schon anerkennen. Aber was wird uns das konkret bringen? Reparationen? Sollen die türkischen Bürger für etwas bezahlen, das ihre Urgroßeltern verbrochen haben?«

Alexander Jenikomschjan wollte die Nachfahren der Täter mit ihrem Leben bezahlen lassen. Im Libanon geboren, schloss er sich 1980 der »Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia« (Asala) an, die in den siebziger und achtziger Jahren Mordanschläge auf türkische Diplomaten und deren Familien verübte. Damit wollte die Guerillatruppe die Anerkennung des Völkermords und die Preisgabe ehemals armenischer Gebiete im Westen der Türkei erzwingen. Jenikomschjans Karriere als Terrorist währte nur kurz: Noch im Jahr seines Einstiegs bei der Asala verlor er in einem Genfer Hotel durch einen Unfall beim Bau einer Bombe die linke Hand und sein Augenlicht. 1996 emigrierte er nach Armenien. »Der 24. April ist für uns kein Tag der Trauer, sondern ein Tag des Kampfes«, sagt Jenikomschjan.
Mit »uns« meint er seine außerparlamentarische Oppositionsgruppe »Founding Parliament«, die noch am Abend des Gedenktags einen Protestmarsch in Eriwan plant, der das komplette Land umwälzen soll. Das System um Präsident Sersch Sargsjan mit dem schwachen Parlament hält Jenikomschjan für unreformierbar. Eine »kriminelle Oligarchie« sei das, die den Staat in vollständige Abhängigkeit von Russland manövriert habe. Deshalb will die Gruppe ein Schattenparlament aufbauen, das durch eine anwachsende Protestbewegung an Legitimität gewinnen und die verknöcherten politischen Strukturen schließlich ersetzen soll. So die Revolutionstheorie.
Dass diese noch diffuse Gegenbewegung von der politischen Führung des Landes ernst genommen wird, zeigte die Festnahme von sechs führenden Mitgliedern, denen die Anstiftung zu Massenunruhen vorgeworfen wird. Das war am 7. April, dem Tag, an dem Kim Kardashian anreiste und beinahe die gesamte Medienaufmerksamkeit auf sich zog. Jenikomschjan sagt, von der politischen Führung habe man nichts anderes erwarten können. Die Gedenkveranstaltungen zum Genozid hält er für eine Farce, in der jetzigen Situation könne ein so schwaches Land wie Armenien keine Forderungen an die Türkei stellen. »Wir müssen zuerst an uns selber arbeiten, unsere Würde zurückerobern. Gerechtigkeit von außen kann nur dann erfolgen, wenn wir auch im Inneren gerechte Verhältnisse haben.«
In Alexander Jenikomschjans Büro hängt eine Karte Großarmeniens. Ein imaginiertes Gebiet, das neben dem heutigen Staatsterritorium auch Teile Aserbaidschans, der Türkei und Georgiens umfasst und bis an die Küste des Schwarzen Meers reicht. Gebiete, die den Armeniern aus historischen Gründen zustünden, ein nie erloschener Traum vieler Nationalisten. 100 Jahre nachdem das Osmanische Reich damit begann, seine armenische Bevölkerung auszulöschen, ist man in Eriwan von solchen Expansionszielen weiter entfernt denn je. Die Antinationalistin Luisa Pogosjan sagt: »Zum Glück.«