Die Debatte um Altersschwangerschaft und Mutterbilder

Vier gewinnt nicht

Zu alt? Zu selbstverliebt? Zu leichtsinnig? Der Fall einer 65jährigen, die mit Vier­lingen schwanger ist, sorgt in Deutschland für heftige Diskussionen und offenbart seltsame Vorstellungen von Mütterlichkeit.

Glückwünsche, gutgemeinte Ratschläge, Blümchen – so ähnlich sehen für gewöhnlich die Reaktionen aus, wenn eine Schwangerschaft bekannt wird. Im Fall von Annegret Raunigk verhält es sich anders. »Darf die das? Soll die das? Und was lernen wir daraus über uns? Die Antworten der Reihe nach: Nein. Nein. Nichts Gutes«, fragte und antwortete beispielsweise Jakob Augstein in seiner Kolumne »Im Zweifel links« auf Spiegel Online. In der vergangenen Woche nutzte er sie zur moralisierenden Schwangerschaftsberatung.

Der Grund für Augsteins Empörung: Annegret Raunigk ist 65 Jahre alt und hat bereits 13 Kinder. In einer Klinik in der Ukraine ließ die Berliner Lehrerin sich eine künstlich befruchtete, fremde Eizelle einsetzen, ein Verfahren, das in Deutschland nicht zulässig ist. Mittlerweile ist sie im fünften Monat schwanger – mit Vierlingen. Dem Fernsehsender RTL sagte sie: »Ich bin der Meinung, dass jeder sein Leben so leben sollte, wie er möchte.«
Das war offensichtlich zu viel für Augstein. Raunigk sei eine »Kapitalistin ihres eigenen Körpers«, der es um die »Profitmaximierung des Lebens« gehe wie einem »selbstausbeutenden Arbeiter im Unternehmen des eigenen Lebens«, urteilte er in seiner Anklageschrift. Zur Empö­rungsmaximierung war dem Kolumnisten diese Anhäufung ihres ursprünglichen Sinns ent­leerter Hohlfloskeln aus dem linken Sprachsteinbruch offenbar nicht genug. Als »ungewöhnliche Gebär-Mutter« bezeichnete er die Schwangere obendrein, eine ebenso große journalistische Meisterleistung wie der Satz: »Was Frau Raunigk mit ihrer Gebärmutter hat anstellen lassen, ist in Deutschland verboten.« So gelang es Augstein, in obsessiver Beschäftigung mit den weiblichen Fortpflanzungsorganen so etwas wie ein neues Genre zu erschaffen: die journalistische Moralpornographie. Und niemand fragte: Darf der das? Soll der das?
Über große öffentliche Aufmerksamkeit allein darf Annegret Raunigk sich dabei gar nicht beklagen. RTL und Bild haben sich die Exklusiv­rechte an ihrer Geschichte gesichert. Beide Medien sind nicht gerade für eine bedächtige Berichterstattung bekannt. Je schriller die Freakshow, desto höher die Zuschauer- und Verkaufszahlen, auf dieses Prinzip hat sich Raunigk eingelassen. Welche Summe die Schwangere für die Vermarktung ihrer Geschichte erhält, ist bislang nicht ­öffentlich bekannt. Aber angesichts von Vierlingen können Rücklagen keinesfalls schaden, auch Grundschullehrerinnen können weiter rechnen als bis 100.
Die Möglichkeit, dass die 65jährige derart pragmatische Entscheidungen getroffen haben könnte, schließen die meisten Diskutanten jedoch aus. Der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard bewertete Raunigks Zusammenarbeit mit RTL im Interview mit Spiegel Online so: »Kinderkriegen wird also als Vehikel zur Erfüllung anderer Sehnsüchte genutzt: etwa der, als Reality-TV-Star berühmt zu werden.« Zudem erstellte er eine psychologische Ferndiagnose: Der Fall zeige, dass »Kinderkriegen dank der Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin heute auch narzisstische Exzesse fördern kann«. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin zog nicht etwa in Erwägung, dass Raunigk sich nach einer rationalen Abwägung des Für und Wider zum Austragen der Vierlinge entschlossen haben könnte. Die Gesellschaft befand, die Schwangerschaft sei »ein Experiment am Leben« – beinahe so, als züchte ein ukrainischer Dr. Frankenstein mit Einwilligung der Frau ein Vierlingsmonster.

Doch nicht nur Kolumnisten, Kulturwissenschaftler und Mediziner melden sich zu Wort. »Ganz Deutschland diskutiert«, vermeldete die Welt. Auf Facebook fragte der Bundestagsabgeordnete Jens Spahn (CDU) sein Publikum: »Schwanger mit 65. Sollte man wirklich alles machen, was medizinisch möglich ist? Was denkt ihr?« Das Publikum zeigte sich mehrheitlich wenig empathisch: »Degeneriert«, »Ich find’s einfach bescheuert«, »Hier verkommt das Kind, in dem Falle vier, zu einem reinen Staussymbol«, »Das StGB muss um einen weiteren Strafparagraphen erweitert werden«. Nur wenige Diskutanten äußerten Verständnis für Raunigk.
Spahn postete die Fragen nicht aus reiner Neugier. Zuvor hatte er sich als gesundheitspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von CDU und CSU bereits zu dem Fall geäußert: »Auch wenn es medizinisch möglich ist, muss man sich fragen, ob es sinnvoll ist. Ich habe da große Zweifel.« Aus den Reihen des Koalitionspartners war Ähnliches zu vernehmen. »Ich halte das für ­einen sehr bedenklichen Fall. Eine solche Schwangerschaft kann und darf für niemanden ein Vorbild sein«, warnte Karl Lauterbach, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag und selbst Mediziner.
Dass sich exponierte Vertreter der Regierungs­parteien zur Schwangerschaft einer einzelnen Bürgerin äußern, derart missbilligend noch dazu, dürfte in der Geschichte der Bundesrepublik ein einmaliger Vorgang sein. Zwar hat sich Raunigk bereitwillig zur öffentlichen Person machen lassen. Doch mangelt es dem deutschen Privatfernsehen nicht an telegenen Schwangeren in außergewöhnlichen Situationen. Zu einer der »Teenie-Mütter« (RTL 2) hat sich jedoch bislang kein Mitglied der großen Koalition geäußert.
Warum also zu Raunigk? Treibt Spahn, Lauterbach und andere tatsächlich derart die Sorge um die Gesundheit von Mutter und Kindern um? Bei künstlichen Befruchtungen im hohen Alter sei das Risiko von Frühgeburten erheblich und die Wahrscheinlichkeit von bleibenden Schäden sehr hoch, hatte Lauterbach zu bedenken gegeben. Dann dürften er und andere angesichts der Zahl von Risikoschwangerschaften in Deutschland, von denen Raunigks nur eine ist, allerdings keine ruhige Minute mehr haben. Zudem steht es um die Gesundheit der Lehrerin und der Vierlinge nicht schlecht, wie ihr behandelnder Arzt der Berliner Zeitung vergangene Woche mitteilte: »Die Schwangerschaft verläuft erstaunlich gut.« Rhetorische Fragen wie »Sollte man wirklich alles machen, was medizinisch möglich ist?«, die etwa aus Diskussionen um die finanziell begründete Verweigerung neuer Hüftgelenke für alte Menschen bekannt sind, geben hingegen einen Hinweis darauf, dass Schwangerschaften im Alter auch als Kostenfaktor betrachtet werden. »Die denkt nur an sich und versucht, durch Medien Geld zu machen und durch öffentliche Mittel, die von Steuerzahlern kommen!« lautet eine Antwort auf Spahns Facebook-Umfrage: die ältere Schwangere als Kostenfaktor und Schmarotzerin.

Um die Aufregung um die Vierlingsschwangerschaft besser zu verstehen, ist es dienlich, Raunigks Lebensumstände noch einmal zu betrachten: 65 Jahre alt, ledig, alleinerziehende Mutter von 13 Kindern von fünf Vätern, schwanger mit Vierlingen, die aus der künstlichen Befruchtung einer fremden Eizelle stammen. Wo einem 65jährigen angesichts der Aussicht auf solchen Nachwuchs joviales Schulterklopfen sicher wäre, ist Raunigk für den größten Teil der Öffentlichkeit zu viel. »Alles hat seine Zeit!« schreibt eine Kommentatorin auf Spahns Facebook-Seite, zu alt ist die Lehrerin also. »Wo früher Schicksal war, soll totale Kontrolle sein«, schreibt Augstein. In solchen und ähnlichen Aussagen plaudern Raunigks Gegner ihr Bild von der Mutterschaft aus: Kinderkriegen soll auch in Zeiten der Reproduktionsmedizin eine unbeherrschbare Naturgewalt bleiben, der sich die Frau zu unterwerfen hat. Und wehtun soll es bitteschön auch. Dass »im Kampf gegen den Schmerz« nämlich »alle Macht der Wissenschaft« aufgeboten wird, entspringt für Augstein einer »Ideologie der Machbarkeit«. Solche reaktionären Vorstellungen von Mütterlichkeit, mit denen andere schwanger gehen, in der Diskussion um ihre Person hervortreten zu lassen, hat Raunigk trotz »totaler Kontrolle« wahrscheinlich nicht eingeplant.