Die Digitalisierung der Arbeitswelt

Digital ist nicht besser

Nicht nur Arbeitsministerin Andrea Nahles geht mit dem Schlagwort »Arbeit 4.0« hausieren. Während Politik und Wirtschaft die Digitalisierung der Arbeitswelt vorantreiben, haben die Gewerkschaften noch keine Strategien in der Frage entwickelt.

Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Arbeiterinnen und Arbeiter in Deutschlands Fabriken und Zulieferbetrieben plötzlich zu »Wutbürgern« mutieren. Dennoch haben die modernisierungsfeind­lichen Proteste der vergangenen Jahre, etwa gegen »Stuttgart 21«, in der Politik anscheinend zu der Erkenntnis geführt, dass es besser ist, die Bürger vorab in etwaige Pläne einzubeziehen. So rief Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) unlängst einen »Dialog ›Arbeiten 4.0‹« aus und veranstaltete in der vergangenen Woche die Konferenz »Arbeiten 4.0«. Der »Dialog« des Arbeitsministeriums soll in gut einem Jahr abgeschlossen sein, dann möchte Nahles ein »Weißbuch Arbeiten 4.0« vorlegen. Und auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) scheint sich am 1. Mai dem Thema zu widmen, lautet sein Motto des Tages doch: »Die Zukunft der Arbeit gestalten wir«.
Zum Schlagwort »Arbeit 4.0« gehört das von der »Industrie 4.0«. Dahinter verbirgt sich bislang ein Vorhaben mit undeutlichen Konturen: die Schaffung der »intelligenten Fabrik«, in Schilderungen garniert mit zahlreichen Worten wie »Wandlungsfähigkeit, Ressourceneffizienz, ergonomische Gestaltung sowie die Integration von Kunden und Geschäftspartnern in Geschäfts- und Wertschöpfungsprozesse«. Gewährleistet werden soll die »Intelligenz« der Fabrik durch die Automatisierung der Kommunikation, insbesondere unter Maschinen – das sogenannte Internet der Dinge –, und durch die Autonomisierung von Maschinen. Die Stichworte hier heißen »Selbstoptimierung, Selbstkonfiguration, Selbstdiagnose«. Auch mit der Entstehung neuer, datenbasierter Geschäftsfelder ist zu rechnen. Insgesamt befindet sich die vierte industrielle Revolution aber noch im Stadium der fortgeschrittenen Grundlagenforschung. Noch im Februar hatte mit Reinhard Clemens ein Vorstandsmitglied von T-Systems, einem Tochterunternehmen der Telekom, beklagt, bisher sei in Europa in Sachen »Industrie 4.0« vor allem viel heiße Luft produziert worden.

Nahles’ Initiative zur »Arbeit 4.0« zielt auf die sozialpsychologischen Voraussetzungen. Die materiellen Voraussetzungen zu schaffen, fällt in die Ressorts von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) und von Forschungsministerin Johanna Wanka (CDU). »Die fortschreitende Digitalisierung der Arbeit wird nicht zu einem Kahlschlag bei den Arbeitsplätzen führen«, war kürzlich in der Süddeutschen Zeitung zu lesen. Die Relativierung kam hinterher: »Nahles rechnet aber damit, dass es zu ›Anpassungsprozessen‹ kommen wird.« Wegfallen würden vor allem schwere und monotone Arbeiten, alles werde »vernetzter, ­digitaler, flexibler«.
Im weiteren Sinn geht es um die fortschreitende Digitalisierung der gesamten Wirtschaft, nicht nur um die industrielle Fertigung, »in der menschliche Arbeit weitgehend durch sich selbst steuernde Maschinen abgelöst werden soll«, wie der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske warnt. Von maßgeblicher Bedeutung sei Arbeit, die »unter maßgeblicher Nutzung informations- und kommunikationstechnischer Arbeitsmittel sta­tionärer und zunehmend mobiler Geräte« verrichtet werde und »deren Arbeitsgegenstände in wesentlichen Anteilen als Informationen« existierten. Diese erreichen bereits heute Quoten von über 90 Prozent an der Gesamtarbeit in der Finanz- und Kommunikationsbranche sowie in freiberuflichen Sektoren, so Bsirske weiter mit Verweis auf eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2012. Demnach nehme die »digitale Arbeit« in der Industrie nur einen Raum von 59 Prozent ein. Es ist also zu vermuten, dass diese Lücke nun geschlossen werden soll. Presseberichten zufolge steht etwa bei VW in den kommenden Jahren ein Automatisierungsschub an, und zwar unter dem Personalvorstand Horst Neumann, dem Nachfolger von Peter Hartz.
Damit unternähme VW in Sachen »menschenleere Fabrik« einen zweiten Anlauf. Bereits Anfang der achtziger Jahre setzte der Wolfsburger Konzern, angeblich zur Entlastung und Huma­nisierung der Arbeitswelt, auf eine Steigerung der Automatisierung in der Endmontage von fünf auf 25 Prozent. Seinerzeit überstiegen die Investitions- und Instandhaltungskosten der computerintegrierten Fertigung (CIM) die Lohneinsparungen deutlich. Nach den Worten Neumanns ist dieses betriebswirtschaftliche Missverhältnis inzwischen dank der technologischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte behoben. Diese ermöglichen nun, wenn man so will, eine menschenintegrierte Computerfertigung.
Neben der Ersetzung menschlicher Arbeitskraft zielt das Vorhaben »Industrie 4.0« auf eine Intensivierung der Arbeit, die durch den Einsatz neuer Technologien flexibler und transparenter, das heißt entgrenzt, stets nachvollziehbar und überwachbar werden soll. Am weitesten fortgeschritten, aber noch längst nicht am Ende dürfte dieser Prozess in der Logistik und Paketzustellung sein. Das Zauberwort für die nächste Etappe heißt dort augmented reality, zu deutsch »erweiterte Realität«. Datenbrillen und andere am Körper getragene Geräte, die sich etwa im Warenlager des IT-Konzerns Bechtle bereits im Probebetrieb befinden, sollen eine Rolle übernehmen, wie man sie ganz ähnlich schon von Navigationssystemen im Straßenverkehr kennt: Sie weisen Arbeiterinnen und Arbeitern Weg und Ziel oder mahnen bei Abweichung – tiefere Entfremdung und subjektiv erlebte Degradierung dürften eine Folge sein, die Technikfaszination und Prämiensysteme auf Dauer nicht zu kompensieren vermögen.

Absehbar ist in diesem Prozess auch eine weitere Polarisierung des Arbeitsmarktes, wie sie bereits seit Jahren zu beobachten ist. Der Böckler-Stiftung zufolge waren 2014 ungefähr 39 Prozent aller abhängig Beschäftigten in sogenannten atypischen Arbeitsverhältnissen wie Teilzeit-, Leiharbeit und Minijobs tätig. Mit Blick auf die Digitalisierung gebe es, so der Arbeitspsychologe Ernst Hartmann im Gespräch mit dem Handelsblatt, im Grunde zwei Szenarien: Der Druck auf die Beschäftigten mit mittlerer Qualifikation wie Facharbeiter und Technikerinnen werde steigen, während Geringqualifizierte von der Entwicklung unberührt blieben. Im zweiten Szenario geht Hartmann davon aus, dass auch in Bereichen einfacher Tätigkeiten noch nicht alle Rationalisierungspotentiale ausgeschöpft seien und deshalb neben der Facharbeiterschaft auch die Niedriglöhner weiter unter Druck gerieten.
Auch wenn eine große Rationalisierungswelle noch nicht abzusehen ist, kommt es bereits zu kleineren Scharmützeln und Nadelstichen. Einige Dienstleistungsbranchen verfügen längst über einen hohen Digitalisierungsgrad. Nicht zuletzt ermöglichte die moderne IT bereits die Auslagerung von Firmenbereichen wie Callcentern. Bekannt sind aber auch die Grenzen der Digitalisierung. Hierzu genügt es, beispielsweise die zwar erheiternden, aber tatsächlich miserablen, ja falschen Ergebnisse automatischer Sprachübersetzungsprogramme zu lesen. Deshalb wird in den Feldern wie Textanalyse und Spracherkennung weiterhin intensiv geforscht, so dass in den kommenden Jahren durchaus mit qualitativen Sprüngen zu rechnen ist. Jüngst geisterte bereits die Meldung von »Roboterjournalisten« durch die Presse, die inzwischen über Konzernbilanzen und Sportereignisse ebenso zuverlässig berichten könnten wie menschliche Reporter. »Künftig können softwaregetriebene Maschinen nicht nur Muskelkraft ersetzen, sondern auch Teile menschlichen Denkens«, heißt es etwa im Programm der Digitalisierungskonferenz von Verdi, die Mitte Juni in Berlin stattfinden soll.
Inwieweit sich die Digitalisierungsansätze verwirklichen lassen, ist jedoch nicht mit Sicherheit zu sagen. So zeigt etwa der Einsatz von RFID-Funkchips im Einzelhandel, dass nicht alle technischen Möglichkeiten unverzüglich ausgeschöpft werden können. Neben der Nachverfolgung in der Lieferkette ermöglicht der Chip mittels automatischer Erfassung des Inhalts eines Einkaufswagens die Abschaffung der klassischen Kasse – zumindest theoretisch. Bereits seit zehn Jahren wird diese RFID-Anwendung diskutiert, doch bislang ist die Entwicklung hinter den Erwartungen der Technologie- und Rationalisierungsanbeter zurückgeblieben.

Während Initiativen von Industrie und Politik zu »Industrie 4.0« und »Arbeit 4.0« bereits angelaufen sind, beginnt die gesellschaftliche und gewerkschaftliche Selbstverständigung gerade erst. Grundsätzlich dürften zwar alle Frank Rieger vom Chaos Computer Club (CCC) zustimmen, der schreibt: »Es sind ›unsere Maschinen‹, nicht ›die Maschinen‹.« Um diesem Satz Geltung zu verschaffen, müssten Gewerkschaften und soziale Bewegungen jedoch tatsächlich in der Lage sein, die Frage »nach Macht und Gestaltungsräumen in der Arbeitswelt« (Bsirske) positiv zu beantworten. Von der Politik jedenfalls ist kaum Hilfe zu erwarten. Die Forderung Riegers und seiner CCC-Kollegin Constanze Kurz nach einer »Vergesellschaftung der Automatisierungsdividende« lehnte Arbeitsministerin Nahles als rückwärtsgewandt ab: »Die alte Idee einer Maschinensteuer hilft uns nicht weiter.«