Russland geht gegen unabhängige Forscher vor

Agenten wider Willen

Mittlerweile gelten der russischen Regierung auch unabhängige Forschungeinrichtungen als verdächtig.

NGOs in Russland können sich immer weniger um ihre eigentlichen Aufgaben kümmern. Viele wurden von staatlichen Behörden als »ausländische Agenten« klassifiziert; wer davon betroffen ist, muss mit Maßnahmen rechnen, die ein effektives Arbeiten fast unmöglich machen. Seit März wurden Hunderte NGOs überprüft, darunter Menschenrechts- und Umweltgruppen sowie Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge. Untersucht wird, ob deren Aktivitäten »politisch« sind. Wer Geld aus dem Ausland erhält, kann als »ausländischer Agent« bezeichnet werden.
Auch unabhängige Forschungseinrichtungen sind inzwischen im Visier der Ermittler. Sechs von ihnen befinden sich bereits auf einer Liste von »ausländischen Agenten«. Betroffen ist nun auch das Zentrum für unabhängige Sozialforschung (ZNSI) aus Sankt Petersburg, das unter anderem soziologische Forschung betreibt, junge Soziologen und Soziologinnen ausbildet, Netzwerke der Sozialwissenschaften aufbaut und soziologische Expertise und Beratung anbietet. Wie bei NGOs in Russland üblich, ist die Organisation vor allem auf ausländische Geldquellen angewiesen. Am 12. März erreichte das ZNSI eine schriftliche »Warnung« des Justizministeriums. Das Zentrum habe ab dem 20. April ein Verfahren zu erwarten, an dessen Ende die Organisation als »ausländischer Agent« registriert werden soll.

Dass einige Aktivitäten nicht als wissenschaftlich, sondern als politisch einzustufen seien, wird anhand von Beispielen begründet. Einem methodischen Handbuch zur juristischen Weiterbildung, das mit Unterstützung des ZNSI publiziert wurde, wird nachgesagt, es erzeuge »negative öffentliche Resonanz« hinsichtlich des Justizsystems. Das ZNSI entgegnete, das Handbuch diene der Weiterentwicklung des wichtigen Wertes der Unparteilichkeit und könne keineswegs als politisch bewertet werden. Darüber hinaus behauptete das Justizministerium, Äußerungen auf einer Veranstaltung über politische Strategien von Gewerkschaften hätten »eine negative Beurteilung der Legislative« beinhaltet. Dass das ZNSI auf einer Veranstaltung Informationen zu einer Kollektivstudie mit dem Titel »Die Politik der Apolitischen: Zivilgesellschaftliche Bewegungen in Russland von 2011–2013« verbreitete, ist der dritte und letzte Punkt, den das Justizministerium zu beanstanden hat.
Das ZNSI ist gesellschaftlich gut verankert, in vielen Zeitschriften und Zeitungen wird seine Arbeit zitiert, sogar mit der örtlichen Verwaltung hat es in verschiedenen Projekten zusammengearbeitet. Einem internationalen Solidaritätsaufruf für das Zentrum haben sich mittlerweile viele Unterstützerinnen und Unterstützer insbesondere aus akademischen Kreisen angeschlossen.
Eine freiwillige Registrierung als »ausländischer Agent« hat das ZNSI bislang bewusst nicht vorgenommen. Stattdessen will es, wenn nötig, vor Gericht gehen. Man werde für die Freiheit der Wissenschaft einstehen, gab das ZNSI Mitte April in einem offenen Brief bekannt. »Die kämpferischen Leute unter uns sind entweder sehr jung oder alt. Diejenigen, die schon in der Sowjetunion in Haft gewesen sind, haben meist keine Angst mehr«, so ein anonymer Unterstützer des ZNSI im Gespräch mit der Jungle World.

Der Ausgang eines Gerichtsverfahrens dürfte, anders als bei weniger anerkannten Organisationen, ungewiss sein. Seit dem Verstreichen der Frist wartet das Zentrum auf weitere Schreiben.Sollte es zu einem Verfahren kommen und das Gericht zu Ungunsten des ZNSI entscheiden, ist unter anderem eine aufwendige Überprüfung der Finanzen zu erwarten, für die ein Buchhalter eingestellt werden müsste. Es droht zudem eine Strafe bis zu 800 000 Rubel (etwa 15 000 Euro) wegen nicht erfolgter Regis­trierung. Da Amtsträger nicht mit »ausländischen Agenten« in Kontakt treten dürfen, würde die Forschung erheblich erschwert. Während das ZNSI sich gegen die Anwendung bestehender Gesetze zur Wehr setzt, werden bereits neue vorbereitet: Vorsitzende »unerwünschter« beziehungsweise »aggressiver« Gruppen sollen künftig mit Haftstrafen von einem Jahr bzw. acht Jahren belegt werden können.