„Das rote Album“ von Tocotronic

Durch die Wüste der Langeweile

Wer kann schon auf dem elften Album noch musikalisch Bedeutsames veröffentlichen? Unser Autor war skeptisch gegenüber Tocotronic und ließ sich von Dirk von Lowtzow bekehren.

Sind die nicht völlig überschätzt? Vor allem aber scheinen die Songs von Tocotronic nicht in meinen Kopf zu passen. Sie sind einfach zu sperrig. Jedes Mal, wenn ich etwas von der einstigen Hamburger, heute Hamburg-Berliner Band höre, geht es mir so, als müsste ich einen Steinway-Flügel in einen Fiat Panda pressen. Das passt einfach nicht. Allein schon wie die Band und ihre Anhänger früher aussahen: mit den Samba von Adidas in Schwarz und den Trainingsjacken, die Opa früher beim Stammtisch nach dem Fußball anhatte. Das alles war in meinen Augen einfach nur schrecklich. Doch damit hörte es ja nicht auf. Hinzu kamen diese Frisuren, diese Hikuvolas – hintenkurzvornelang –, unter denen glattrasierte, gelangweilte Typen in Richtung Weltschmerz starrten. Hallo? Die Welt ist schon mies genug, dann muss man doch nicht auch noch so gucken.
Aber was soll man machen, diese Art Typen waren überall, auch in meinem Freundeskreis, und die Tocs liefen natürlich immer irgendwo. Denen konnte man gar nicht entfliehen. Also muss doch bei mir irgendetwas schief gelaufen sein. Es kann doch nicht sein, dass es immer, wenn ich dieses Bumm-Chack-Schlagzeug und diese unerträglich glasklare, jeden Dialekt verneinende Stimme höre – besonders bei der Buchstabenfolge l und t –, irgendetwas in meinen Kopf »ist das deren Ernst« sagt. »Der Zauber von Dirk von Lowtzows Traumlyrik liegt ja nach wie vor im Unnennbaren, in den Leerstellen und namenlosen Orten«, schrieb Jan Wigger über das Album »Pure Vernunft darf niemals siegen«. Vielleicht konnte ich mit dieser »Traumlyrik« nichts anfangen, weil die pure Vernunft bei mir schon gesiegt hatte. Es kann aber auch daran liegen, dass Lyrik für mich immer zu dicht mit der Romantik verbunden ist. Und war die Romantik nicht die Epoche, als sich das hässliche Gesicht der deutschen Nation allmählich erhob? Doch so leicht sollte man es sich nicht machen – allein schon deshalb nicht, weil Dirk von Lowtzow und seine Band immer so kluge Sachen in Interviews sagen.
Zehn Studioalben hat die Band um Dirk von Lowtzow bisher veröffentlicht. Die letzten drei Alben wurden von Moses Schneider produziert. Das Label von Tocotronic war seitdem Major und Schneider gilt fast schon als Genie. Er lässt die Bands meistens live einspielen, was zwar extrem teuer ist, verglichen mit der heutigen Produktionsweise des digitalen Nachproduzierens, aber dem Sound eben die Tiefe gibt, die die seltsame Poesie von Lowtzow butterweich einbettet. Nun steht das elfte Album in den Startlöchern: »Das rote Album« wird am 1. Mai download- und kaufbereit sein. Es wird, wie die anderen zuvor, garantiert wieder in die Charts einsteigen, was aber angesichts des Krempels, der es normalerweise in die Charts schafft, auch egal ist. Die elf Songs sind wieder verschwurbelt, wie man es kennt. Es gibt die Wüste der Langeweile und die Menschen, die unter Spießbürgern Spießruten laufen. Doch diesmal lasse ich mir den Spaß an Tocotronic nicht durch meine Voreingenommenheit nehmen. Ein Anruf bei von Lowtzow. Der so früh morgens ganz anders klingt als in den Liedern – verraucht, verkratzt. So sollte der mal singen.
Zuerst eine Frage, die mir nach dem Hören nicht aus dem Kopf ging: Wieso schweben die Texte immer noch in einer Art Uneigentlichkeit? Pegida, brennende Asylbewerberheime: Man hatte immer schon das Gefühl, in einem rassistischen Land zu wohnen, jetzt ist es Fakt. Sollte man nicht weniger poetisch damit umgehen?
»Politik und Ästhetik müssen immer zusammenfallen«, antwortet der Sänger. »Organisatorisch ist es schwierig, Popsongs tagesaktuell zu produzieren. Da sind andere Medien, wie beispielsweise eure Zeitung, doch immer noch schneller und besser. Andererseits haben wir mit ›Fuck you Frontex‹ einen Song gemacht, mit dem wir sehr schnell auf eine Nachricht reagieren konnten. Da helfen soziale Netzwerke, Handys und andere Entwicklungen. Mit ihnen kann man heute viel zügiger produzieren – natürlich nicht in Studioqualität – aber für so einen inhaltlich wichtigen und aktuellen Song ist es genau das Richtige.« Ich muss gestehen: Das leuchtet ein.
Dennoch müssen die Nachrichten doch auch etwas ausgelöst haben, das man nicht mehr mit dem Nebel der Poesie verständlich machen kann. »Mit dem Lied ›Solidarität‹ gehen wir auch auf diesen Umstand ein. Der Anstoß für dieses Stück war Hellersdorf. Was da abging, erinnerte uns sofort an die neunziger Jahre, an Solingen und Rostock. Auch wenn sich die Dimensionen und die Hintergründe geändert haben: Die Fassungslosigkeit bleibt. Das meinten wir auch mit ›Unter Spießbürgern/Spießruten laufen‹.« Ich höre mir den Song noch einmal an und muss zugeben, dass die blutleere Stimme und die angedeuteten Country-Elemente den Inhalt erst richtig beklemmend machen. Es ist, als wäre man in Eichenfurnier gefangen, das den dumpfen Gestank alten Biers verströmt. Gruselig, aber gut. So langsam scheine ich die Band zu verstehen. Der Steinway-Flügel wird plötzlich kleiner, beziehungsweise der Fiat Panda größer.
Doch dann hakt es wieder. Der Song »Die Erwachsenen« macht mich ein bisschen wütend. Was soll das denn? Dieses Kinder-sind-die-besseren-Menschen-Motto, dieses ekelhafte Hippie-Mantra vom inneren Kind kommt mir sofort in den Sinn und schreckt mich wieder ab. »Bei ›Die Erwachsenen‹ war es ein Erlebnis aus unserem Alltag, das sich in dem Refrain wiederfindet«, erzählt von Lowtzow. »Wir waren im Studio, und unser Gitarrist Rick McPhail hatte seinen Sohn dabei. Es ging um ein typisches Vater-Sohn-Problem – Rick wollte, dass sein Sohn aufräumt oder irgendwie so etwas. Da sagte er: ›Ich kann das nicht, ich bin noch ein Baby.‹ Das ist wohl eine der reflektiertesten Verweigerungen, die man sich vorstellen kann. Infantilität als Widerstand. Der Song ist zudem ein Vexierbild: Die Erwachsenen als solche zu bezeichnen, denn eigentlich sind sie ja die Babys.«
So verstehe selbst ich diese Zeilen, die musikalisch von einer hymnischen Leichtigkeit eingerahmt werden. Dennoch bin ich von der »Wüste der Langeweile« noch nicht in der »Oase der Langeweile« angelangt, wie es im Song »Prolog« heißt, der ersten Single-Auskopplung des Albums. Vielleicht ist das aber auch gar nichts Schlechtes. Denn wenn von Lowtzow darüber spricht, hört sich das ganz anders an. »Langeweile ist für mich ein entscheidender Begriff. Denn ich könnte mir ein Leben ohne Langeweile gar nicht vorstellen. Als Kind kennt man das Gefühl der bleiernen Langeweile. Es ist ein Bestandteil des Lebens. Ich brauche das Gefühl zum Arbeiten, also zum Texten. Und obwohl ich genug erlebe, bleibt das Gefühl fast notwendig.«
Und so öffne ich mich der Langeweile beim nächsten Song, der zufälligerweise »Ich öffne mich« heißt. Statt wie sonst mit Wut ausgestattet, erlaubt mir der Schleier der Langeweile, der sich mit den Songs einstellt, die aus meinen Kopfhörern kommen, das samstägliche Gute-Wetter-Deutschland der Großstadt aus einem ganz anderen Blickwinkel zu betrachten: Die Leute werden kleiner, sie verschwinden bald und nerven nicht mehr. Vielleicht ist das der Reiz an diesem Sound: Man fühlt sich geborgen. Jetzt passen auch der sperrige Sound und der seltsame Gesang in meinen Kopf. Aber Geborgenheit macht mich immer nervös. Daher frage ich von Lowtzow, der seit einigen Jahren in Berlin lebt, abschließend, ob er glücklich darüber sei, dass die Eventsoße Olympia nicht über die Stadt gegossen wird. »Ich will jetzt zwar nicht über Gentrifizierung sprechen – darüber wurde schon soviel geredet, da braucht es meinen Senf nicht auch noch –, aber es kann ja nur alles noch schlimmer werden«, meint der Musiker. »Es verschwinden immer mehr Dinge, die einem wichtig sind beziehungsweise sind in Gefahr. So auch die Volksbühne. Mit René Pollesch habe ich da zuletzt noch an einem Stück zusammengearbeitet und nun weiß keiner so genau, wie es weitergehen soll. Es macht mich wahnsinnig wütend. Dass sich zwanghaft immer etwas ändern muss. Das liegt auch daran, dass immer mehr zynische und profilierungssüchtige Marketing-Menschen an der Macht sind.«
Bleibt am Ende Folgendes: Ich werde wahrscheinlich die klugen Sachen, die Tocotronic mit ihrer Musik ausdrücken, weiterhin lieber in Interviews lesen wollen. Doch »Das rote Album« hat mir wenigstens einen Eindruck vermittelt, was an dieser Band so toll ist. Und mehr kann man aus meiner Perspektive gar nicht loben.

Tocotronic: Das rote Album (Universal)