Italien und die Flüchtlingskrise

Rhetorische Aufrüstung gegen Schleuser

Unbekümmert vom massenhaften Flüchtlingssterben im Mittelmeer setzt Italiens Ministerpräsident, Matteo Renzi, weiter auf eine verschärfte europäische Abschottungspolitik. Er weiß dabei die Meinung im Land hinter sich, kritische Stimmen sind immer weniger zu hören.

Zwei Dutzend Särge trugen Angehörige der maltesischen Armee am Donnerstag voriger Woche zu einer interreligiösen Abschiedszeremonie unter ein improvisiertes Zeltdach. Von den über 800 Flüchtlingen, die beim größten bisher bekannt gewordenen Schiffsunglück im Mittelmeer ertrunken waren, konnten nur 24 Opfer tot geborgen werden. Beweint wurden die namenlosen Toten von anderen Flüchtlingen, die auf ihren Überfahrten mehr Glück hatten und in dem europäischen Inselstaat Asyl fanden. Politische Vertreter der Mittelmeer-Anrainerstaaten und der EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos nahmen mit versteinerten Mienen an der Trauerfeier teil.
Wenige Stunden später begann in Brüssel der EU-Sondergipfel pflichtschuldig mit einer Gedenkminute für die Toten. Allein für den Monat April wird die Zahl der auf der Überfahrt von Nordafrika nach Südeuropa Ertrunkenen oder Vermissten auf über 1 500 geschätzt. Doch die Staats- und Regierungschefs trafen sich nicht, um Maßnahmen zu treffen, das Massensterben künftig zu verhindern. Sie einigten sich auf einen zuvor von ihren Innen- und Außenministern in Luxemburg ausgehandelten Zehn-Punkte-Plan. An erster Stelle steht weiterhin nicht die Seenothilfe, sondern der Ausbau der von der Grenzschutzagentur Frontex geleiteten Kontrollmissionen »Triton« und »Poseidon«. Das Budget dieser Grenzpatrouillen soll auf insgesamt neun Millionen Euro pro Monat aufgestockt werden.
Dieser Gesamtbetrag entspricht der Summe, die Italien einst für seine Rettungs- und Kontrollmission »Mare Nostrum« monatlich ausgab. Unter diesem imperialistischen Namen (auch Mussolini hatte ihn einst für seine Propaganda verwendet) war im Oktober 2013 nach der bis dahin größten »Flüchtlingstragödie« vor der Küste von Lampedusa vom damaligen Ministerpräsidenten Enrico Letta ein Programm der Seenotrettung für Flüchtlinge aufgelegt worden. Es erlaubte der italienischen Marine und Küstenwacht, weit über die Grenze des eigenen Hoheitsgebiets hinauszufahren, um in Seenot geratenen Flüchtlingen rechtzeitig Hilfe zukommen zu lassen. Mehr als 100 000 Schiffbrüchige sollen durch »Mare Nostrum« gerettet worden sein. Seit diesem Frühjahr aber ist nach Angaben des Flüchtlingswerks UNHCR die Fluchtroute über das Mittelmeer wieder zu einer der gefährlichsten der Welt geworden.

Lettas Nachfolger Matteo Renzi bemühte sich seit seiner Amtsübernahme um eine europäische Finanzierung der Mission. Italiens Rechte, insbesondere die rassistische Lega Nord, hetzte gegen die organisierte »Invasion« und kritisierte »Mare Nostrum« als Einladung an »Illegale und Kriminelle«. Als »Triton« im November 2014 begann, begrüßte Renzi die EU-Operation als gelungenen »Ersatz« für »Mare Nostrum«; er war froh, dieses unpopuläre Projekt endlich loszuwerden. Im Gegensatz zu seiner damaligen optimistischen Einschätzung forderte er nach den Schiffsunglücken Mitte April, Europa müsse endlich mehr tun und dürfe sein Land nicht länger alleine lassen. Mit dieser Verlautbarung leistete er dem rechtspopulistischen Ressentiment Vorschub, Italien trage die ganze »Flüchtlingslast«. Die Verabschiedung des Brüsseler Zehn-Punkte-Plans bezeichnete er als einen ersten Schritt zu einer neuen gesamteuropäischen Strategie.
Giusi Nicolini, Bürgermeisterin von Lampedusa, Italiens südlichster Insel, wertete die Aufstockung der Triton-Mission dagegen als Fortsetzung einer »grauenhaften Strategie«. Auch wenn das Einsatzgebiet der EU-Operation wie angekündigt über das italienische Mittelmeer und die Ägäis hinaus erweitert werde, so bleibe »Triton« doch eine Polizeiaktion zur Sicherung der europäischen Außengrenzen und diene nicht zur Suche und Rettung von Flüchtlingen. Einmal mehr forderte Nicolini eine Änderung der Dublin-II-Verordnung, die seit Jahren verhindere, dass Malta sich in angemessener Weise an der Seenotrettung beteilige. Erstaufnahmeländer dürften nicht automatisch für die Asylverfahren zuständig sein.
Doch statt einer Neuregelung vereinbarten die Regierungschefs in Brüssel eine Verschärfung des bestehenden Systems. Zukünftig sollen Teams des Europäischen Unterstützerbüros für Asylfragen (EASO) in Italien und Griechenland die Registrierung von Flüchtlingen und die Bearbeitung ihrer Asylanträge sicherstellen, um eine unkontrollierte Weiterreise nach Nordeuropa zu verhindern und gegebenenfalls eine schnelle Abschiebung einzuleiten.
Dass weiterhin die Abschottung im Vordergrund der EU-Politik steht, zeigt auch der zweite Schwerpunkt der Brüsseler Vereinbarung: die Bekämpfung des Schlepperwesens. Schleuserboote sollen beschlagnahmt oder bereits vor ihrem Auslaufen in den libyschen Hafenanlagen zerstört werden. EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini soll hierfür in New York um ein UN-Mandat werben, während umgekehrt Matteo Renzi am Montag den Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon anlässlich seines Besuchs an der süditalienischen Küste von der Dringlichkeit einer »internationalen Polizeiaktion« zu überzeugen suchte. Vor allem katholische Flüchtlingsorganisationen wie die Stiftung Migrantes nannten das EU-Vorhaben skandalös. Italiens Parlamentspräsidentin Laura Boldrini, vor ihrer politischen Karriere im UN-Flüchtlingskommissariat tätig, meldete Zweifel an der praktischen Durchführbarkeit an. Weder gebe es eine libysche Zentralgewalt, mit der etwaige Operationen abgestimmt werden könnten, noch seien mutmaßliche Schlepperboote von einfachen Fischkuttern zu unterscheiden.
Derlei Skrupel findet man in den Onlineportalen der Print- und TV-Medien immer seltener. Über Facebook und Twitter verbreitet sich unverhohlene Freude über die hohen Opferzahlen und Zustimmung für die europäische Drohgebärde.

Mit der rhetorischen Aufrüstung gegen die Schlepper verschleiert die Regierung die Fluchtgründe und vermittelt den Eindruck, der »Flüchtlingsstrom« lasse sich aufhalten. In einem Interview mit der New York Times rechtfertigte Renzi die geplanten Repressionsmaßnahmen als Terrorabwehr, schließlich seien nicht alle Passagiere »unschuldige Familien«. Mit Nachdruck wurde denn auch in den vergangenen Tagen über die Festnahme der beiden mutmaßlichen Verantwortlichen für das Schiffsunglück berichtet. Aufgrund von Zeugenaussagen der 28 Überlebenden macht die Staatsanwaltschaft in Palermo den 27jährigen Kapitän Mohammed M. und seinen 25jährigen Gehilfen Mahmud B. für das Kentern des Flüchtlingsboots verantwortlich. Beiden droht eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung und der Begünstigung illegaler Einwanderung.
Bereits in den Monaten der Mission »Mare Nostrum« wurden zahlreiche Skipper als Schlepper angeklagt. Verurteilt wurden jedoch die wenigsten, weil die Zeugen der Anklage zum Zeitpunkt der Verhandlung entweder nicht mehr an Ort und Stelle waren oder aus Angst vor Repressalien gegen ihre Familien in den Herkunftsländern vor Gericht keine Aussagen mehr machten.
Die Propaganda gegen das Schlepperwesen legitimiert langjährige Forderungen der rassistischen Lega Nord. Mit Genugtuung zählt Matteo Salvini, der seit Monaten bemüht ist, die Regionalpartei nach dem Vorbild des französischen Front National zu einer neuen italienischen Rechtspartei aufzubauen, die Vorschläge auf, die Renzis Regierung nun mit Hilfe der europäischen Partner realisieren möchte: Beschuss und Versenkung der Schlepperboote sowie Identifi­kation und Registrierung der Asylsuchenden in nordafrikanischen Aufnahmezentren.
Durch einen »Freundschaftsvertrag« mit dem libyschen Regime hatten sich Silvio Berlusconis Rechtsbündnisse diesen Service über Jahre gesichert. Bis zum Sturz Muammar al-Gaddafis starben so unzählige afrikanische Flüchtlinge in der Wüste oder infolge von Misshandlungen in libyschen Gefängnissen. Die mittlerweile parteiübergreifende Forderung nach einer Schiffsblockade erinnert an die 2009 vom damaligen Innenminister der Lega Nord, Roberto Maroni, eingeführten »Rückführungen«. Die italienische Marine griff seinerzeit Schiffbrüchige auf und brachte sie ent­gegen der internationalen Non-Refoulment-Regelung der Genfer Flüchtlingskonvention direkt an die libysche Küste zurück. Drei Jahre später erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Abfangpolitik für rechtswidrig.

Anders als damals provoziert die neue Abschottungsoffensive kaum noch Widerstand. Antirassistische Flüchtlingshilfen fordern zwar weiterhin die Einrichtung eines humanitären Korridors und eine auf Integration ausgerichtete Aufnahmepolitik, aber den Initiativen fehlen die Mobilisierungskraft und die Solidarität der anderen sozialen Bewegungen. Nicht nur im rechtspopulistischen Lager gilt die Forderung nach offenen Grenzen als pure Provokation. Auch im linken Spektrum hält man eine Wiederaufnahme von »Mare Nostrum«, möglichst auf europäischer Ebene, für die einzig realistische Forderung. Das heißt aber auch, dass die spezifische Verbindung von humanitärer und militärischer Logik, von Rettung und Kontrolle, nicht mehr infrage gestellt, sondern als selbstverständlich akzeptiert wird.
Gleichzeitig lenkt die Propaganda gegen internationale Schlepperbanden von den einheimischen Verbrecherkartellen ab. Dabei legen staatsanwaltschaftliche Ermittlungen offen, wie in Mineo, Europas größtem Aufnahmezentrum, ein Netzwerk aus Mafiosi, korrupten Lokalpolitikern und afrikanischen Mittelsmännern teure Fluchtwege nach Nordeuropa organisiert und zusammen mit der im Dezember aufgedeckten »Hauptstadtmafia« (Jungle World 1/15) in Rom über die inneritalienische Verteilung der Flüchtlinge wacht und an der Organisation ihrer Unterbringung mitverdient.