Heideggers Revolutionsmodell

Die richtigen Fragen stellen

Heideggers antisemitische Äußerungen lassen es an Deutlichkeit nicht fehlen. Und dennoch war er ein Denker der Revolution, des Umbruchs und sogar der Freiheit.

In seinem Disko-Beitrag »Schein und Zeit« (Jungle World 16/2015) wiederholt Uli Krug ein Urteil, das in dieser Zeitung zu lesen ist, seit 1998 die Initiative Sozialistisches Forum (ISF) aus Freiburg gegen die »Heideggerisierung der Linken« und die linke Begeisterung für »Foucault, Deleuze, Guattari, Lyotard, erst recht Derrida« Einspruch erhob. Mit den Theorien des Poststrukturalismus sei nämlich in den siebziger Jahren die »Philosophie Heideggers zum linken Politikum« geworden, hieß es damals bei der ISF. Dagegen gelte es, so Krug, an Adornos Urteil aus einem offenen Verteidigungsbrief von 1963 festzuhalten, dass Heidegger nicht nur – wie ohnehin alle Welt weiß – ein Nazi und Antisemit war, sondern dass auch seine Philosophie »bis in ihre innersten Zellen faschistisch« sei.
Kurioserweise spiegelt diese Beurteilung von Heideggers Philosophie eine Einschätzung, die heute auch im Lager der Heideggerianer gängig ist. So hat Günter Figal den Vorsitz der Martin-Heidegger-Gesellschaft niedergelegt, nachdem er in den Anfang vorigen Jahres neu veröffentlichten »Schwarzen Heften« die vulgärantisemitischen und nationalsozialistischen Äußerungen Heideggers lesen musste, die an Eindeutigkeit nichts mehr zu wünschen übrig lassen. Andere versuchen – wie Krug es beschreibt –, die Lage irgendwie dadurch zu retten, dass sie den Antisemitismus dem damaligen Zeitgeist zuschreiben und für unwesentlich erklären. Eines scheint aber allen Teilen der interessierten Öffentlichkeit unvorstellbar zu sein: dass Heidegger ein Nazi war und trotzdem einen bedeutsamen Beitrag zur Philosophie geleistet hat. Nationalsozialismus und Geist dürfen einfach nicht zusammengehen.
Tatsächlich ist die Lage aber viel komplizierter, als es die Einschätzungen nahelegen, die Adornos Verdikt folgen. Denn Heidegger war ein Denker der Revolution, des Umbruchs und sogar der Freiheit. Sein Nationalsozialismus bedarf deshalb einer ernsthafteren Analyse, als ihn ein rein philologischer Nachweis nationalsozialistischer Motive im Stil von Emmanuel Fayes »Heidegger – Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie« zu leisten vermag. Heidegger antwortet nämlich auf Fragen, die sich auch linken Konzeptionen einer Überwindung des Kapitalismus stellen.
Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Einsicht, dass wir die Welt immer nur im praktischen Umgang erfahren. Das Wissen von den Dingen und Verhältnissen ergibt sich aus solchen Erfahrungen, die systematisiert und zu Theorien verdichtet werden können. Das Problem ist nur: Je komplexer die Praktiken und Theorien werden, umso leichter gerät in Vergessenheit, dass sie auf ganz konkrete praktische Erfahrung zurückgehen. Und was in einem Feld bestimmter Prak­tiken Sinn hat, kann in einem anderen Feld unsinnig sein.
Die praktische Fundierung unserer Welterfahrung birgt aber noch ein größeres Problem, auf das Heidegger hinweist. Da das menschliche Leben in seinem täglichen Ablauf davon abhängt, dass die praktischen Bezüge zu anderen Menschen und zu den Dingen funktionieren, wird es zu einer Notwendigkeit, die Dinge auch tatsächlich so zu machen, wie »man« es eben macht. Die Wirklichkeit reproduziert sich so beständig selbst. Politische Revolutionen, die etwa die Kapitalisten enteignen, stehen damit in der Gefahr, am Kern der praktischen Verhältnisse gar nichts zu ändern. Statt der kapitalistischen Bürokratie herrscht dann eine staatliche, aber die Struktur der Ausbeutung und Unterdrückung ist substantiell die gleiche geblieben.

Angesichts dieser Lage stellt sich Heidegger die Frage, wie es gelingen kann, aus dem Zusammenhang etablierter Praktiken auszubrechen. Was würde es möglich machen, ein Verhältnis zu den eigenen Praktiken zu etablieren, das deren Veränderbarkeit erkennbar werden lässt? Heideg­ger ist mit Blick auf dieses Problem angezogen vom radikal antibürgerlichen Gestus des Nationalsozialismus, von der Idee, durch die Entscheidungen eines Führers kollektiv eine neue Lebensweise anfangen zu können, in der sich die Menschen bewusst sind, dass ihr Zusammenleben auf einer Entscheidung beruht. Er schließt sich der Bewegung an und ist bald enttäuscht vom realen Nationalsozialismus, dessen Praxis sich als kleinbürgerlich erweist und dessen Ideologie mit ihren pseudonaturwissenschaftlichen Versatzstücken für Heidegger das Grundproblem der modernen Weltbilder nur auf die Spitze treibt: Die Biologie der Rassen soll das Verhalten von Menschen erklären, obwohl Menschen biologisch gar nicht angemessen verstanden werden können. Für eine solche Begründung des Antisemitismus hat Heidegger nur Verachtung übrig.
Trotzdem ist Heideggers Antisemitismus nicht, wie Peter Trawny in »Heidegger und die jüdische Weltverschwörung« angenommen hat, von besonderer philosophischer Abkunft. Heidegger geht vielmehr davon aus, dass Völker jeweils einen historischen Zusammenhang praktischer Beziehungen bilden. In einer absurden Völkerpsychologie, die sich aber tatsächlich auf die gängigen Klischees seiner Zeit stützt, sieht Heidegger in den »Schwarzen Heften« – wie auch in anderen schon zuvor veröffentlichten Schriften der frühen vierziger Jahre – die »Juden«, »Ame­rikaner« und »Engländer« als Vollender der Moderne, während sich mit den »Deutschen«, aber auch den »Russen«, die Hoffnung auf einen zukünftigen gesellschaftlichen Neuanfang verbinden lasse. Alle anderen »Völker« gelten ihm offenkundig als bedeutungslos oder sie hatten wie die »Griechen« in der Antike und die »Franzosen« 1789 schon ihre weltgeschichtlich bedeutsame Zeit.
All diese »Antworten« auf die Freiheitsproblematik bieten keinerlei positiven Anknüpfungspunkt. Sie zeigen vielmehr, wie die gesellschaftliche Ohnmacht der philosophischen Idee in Projektionen umschlägt, die den »Juden« ein weltgeschichtliches Vermögen zuschreiben, das Heidegger mit »seinem« Volk gern hätte. In diesem Sinne ist Heideggers Denken tatsächlich, wie Krug schreibt, ein Fall von »deutscher Ideologie«. Aber anders, als er glaubt, trifft das nicht auf Heideg-gers Fragen zu. Die Problematik der Überwindung eines reproduktiven Zusammenhangs von Praktiken – das französische »Dispositiv« – bleibt genauso relevant wie die Frage nach den Konsequenzen, die sich aus der Einsicht in die praktische Fundierung der Welt für eine befreite Gesellschaft ergeben.
Foucault beispielsweise hat aus Heideggers Nationalsozialismus den Schluss gezogen, dass eine Veränderung der Gesellschaft nicht mehr als allumfassender Bruch gedacht werden dürfe, sondern an je konkreten Praktiken etwa des Strafens, Regierens oder Begehrens ansetzen müsse. Das war auch eine Kritik am marxistischen Revolutionsmodell. Doch diese Kritik warf schon für Foucault selbst die Frage auf, wie mit der marxistischen Analyse der Gesellschaft als Totalität umzugehen sei.

Heidegger hatte nach seinem theoretischen wie praktischen Scheitern im und am Nationalsozialismus vorgeschlagen, das Fragen nach dem Neuen mit konkreten Fragestellungen zu beginnen, dann aber eine Öffnung des Fragehorizonts dadurch zu erreichen, dass auch sich ergebenden abwegigen Fragestellungen Raum gegeben wird. Nur so sei es möglich, das Neue nicht zu einem vorgefassten Projekt werden zu lassen, das notwendigerweise durch seinen Entstehungskontext der Gegenwart verhaftet bleibe.
Daran wird erneut deutlich, womit Heidegger zeit seines Lebens ringt: Die praktische Fundierung aller Erfahrungen hat nicht zur Konsequenz, dass sich jeder gewünschte Zustand einfach herstellen ließe. Dies sei vielmehr die Illusion der Technikeuphorie, die glaubt, jede Wüste in eine blühende Landschaft verwandeln zu können und für jedes Problem eine technologische Antwort zu haben, tatsächlich aber immer mehr Abhängigkeiten und technokratische Sachzwänge produziert.
Die Freiheit, die sich aus der praktischen Fundierung der Welt ergibt, ist offenkundig von ­anderer Art. Sie muss die Technik nicht ablehnen, aber sie soll das Bewusstsein bewahren, dass menschliches Handeln auch anders aussehen könnte, dass eine Technik oder eine ökonomische Produktionsweise etwas ist, das auch aufgegeben oder grundsätzlich geändert werden kann – so schwer uns diese Vorstellung und erst recht ihre praktische Realisierung heute auch oft fallen mögen. Was an einer solchen »Ontologie« kategorial antisemitisch sein soll, hat bisher noch niemand gezeigt. Und auch Adorno demonstriert in »Jargon der Eigentlichkeit« vor allem eines: wie man Heidegger nicht lesen sollte.