Was der Genozid an den Armeniern mit der Shoah zu tun hat

Staatlich organisierte Massenverbrechen

Der Genozid an den Armeniern hätte ein juristischer Präzedenzfall werden können, aber die konsequente Ahndung der Verbrechen im Osmanischen Reich wurde versäumt. Diese Erfahrung prägte Juristen, die später bei der Aufarbeitung der Shoah eine zentrale Rolle spielten.

In der Debatte um die Massaker von 1915/16 im Osmanischen Reich wird häufig ein Zitat Hitlers angeführt: »Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?« Es gilt als ein Beweis, wie eng die Shoah und der Völkermord an den Armeniern zusammenhängen. Jedoch ist seine Herkunft umstritten. Die Sentenz geht auf eine Rede Hitlers vom 22. August 1939 zurück, deren Mitschrift jedoch nicht als authentisch gilt. Der britische Journalist Louis P. Lochner hatte sie aus deutschen Oppositionskreisen erhalten. Belegen lässt sich damit nur, dass man das Stichwort »Armenien« als geeignetes Warnsignal für das Ausland sah. Vielleicht hatte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) dieses Detail vor Augen, als er meinte: »Wir müssen in Deutschland aufpassen, dass wir am Ende nicht denen Recht geben, die ihre eigene politische Agenda verfolgen und sagen: Der Holocaust hat eigentlich vor 1933 begonnen.« Vielleicht wollte er auch nur die außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik moralisch anreichern. Dabei kann eine Debatte über das Verhältnis des Völkermords an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs zu dem an den Juden während des Zweiten Weltkriegs helfen, allgemeine und besondere Charakteristika staatlich organisierter Massenverbrechen in der Moderne herauszuarbeiten.

Schon zeitgenössische Darstellungen zeigen, wie sehr sich das Vorgehen des Osmanischen Reichs heute als Menetekel der Shoah lesen lässt. Der deutsche Armenien-Forscher Johannes Lepsius schrieb 1921 in einer Gerichtsexpertise: »Die Armenier« wurden »an den Rand der Wüste befördert«, bis »in den Konzentrationslagern nach und nach eine beträchtliche Menschenmenge von einigen Hunderttausend zusammenfloss«. Diese seien »durch systematische Aushungerung und periodische Massaker vernichtet« worden. Franz Werfel nannte 1933 in den »Vierzig Tagen des Musa Dagh« die Deportationsmärsche »wandernde Konzentrationslager«, ein Begriff, der seit dem Burenkrieg mit Schrecken verbunden war. Es ist zudem schwer, angesichts der Massenerschießungen in anatolischen Schluchten und den in Flüssen und Seen treibenden zusammengebundenen Leichen Tausender ertränkter Armenier nicht an ähnliche Massaker zu denken, die vor allem in der ersten Phase der Shoah während des deutschen Vormarsches in Osteuropa stattfanden. Das Morden oblag paramilitärischen Milizen, die von ideologisch gefestigten Jungtürken geführt wurden und offiziell den türkischen Gendarmen angegliedert waren. Flankiert wurden sie durch eine Reihe administrativer Schritte, die auf die vollständige Entrechtung und Enteignung der Armenier zielten. Die Steuerung des Genozids durch die regierenden Jungtürken zeigt, dass die Gründungsjahre der modernen Türkei vom Wunsch nach ethnisch-religiöser Homogenisierung gekennzeichnet waren. Wie der Historiker Taner Akçam beschreibt, hatte der Radikalnationalismus als Antwort auf die Krise des Osmanischen Reichs eine klassische Pan-Ideologie formuliert: »Das untergehende Reich sollte nach Osten ausgedehnt werden, wo ›vertrauenswürdigere‹ Elemente lebten. Dieses neu zu errichtende Vaterland der Türken hieß ›Turan‹, ein Reich, das alle türkischen Völker in Zentralasien umfasse sollte.« Betroffen waren neben den Armeniern auch Griechen und Syrer als die letzten unter osmanischer Herrschaft verbliebenen Christen.

Amtliche deutsche Beobachter im Osmanischen Reich hatten von Anfang an den Verdacht, es mit einer umfangreichen Ausrottungspolitik zu tun zu haben. Botschafter Hans von Wangenheim telegraphierte am 7. Juli 1915 seine Einschätzung nach Berlin, dass die jungtürkische Regierung »tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reich zu vernichten«. Das Wangenheim-Telegramm, kommentiert Rolf Hosfeld in seinem gerade erschienenen Buch »Tod in der Wüste«, bedeutete, »dass die deutsche Politik spätestens Anfang Juli 1915 zu der Erkenntnis gekommen war, dass die Deportationen und Massaker, die man verstärkt seit den Frühlingsmonaten in den anatolischen Provinzen beobachten konnte, dem erklärten Ziel dienten, eine ethnische Gruppe – die osmanischen Armenier – systematisch der Vernichtung zuzuführen – und dies als Ergebnis staatlich gelenkter Politik«.
Auch Max Erwin von Scheubner-Richter, während des Ersten Weltkriegs deutscher Vizekonsul in Erzerum, liefert eine bemerkenswerte Analyse der Vorgänge. Im August 1915 berichtete er von Massakern an mehreren Tausend Armeniern in der Region und klagte über die deutsche Passivität. Die türkische Regierung, schreibt Scheubner-Richter, habe »weite Kreise ihres eigenen Volkes der Zügellosigkeit der durch Rassenhass und ›Vergeltungswahnsinn‹ erregten Volksmassen preisgegeben«. Sie wolle eine Gelegenheit schaffen, »ein ganzes Volk kulturell und wirtschaftlich zu vernichten und auszurotten«. Der Diplomat betonte die Fadenscheinigkeit der offi­ziellen Begründungen einer Aufstandsbekämpfung: »Die Armenier, besonders die Stadtbewohner, diese ›Juden des Ostens‹, sind wohl gerissene Handelsleute und kurzsichtige Politiker, aber in ihrer Mehrzahl (…) keine aktiven Revolutionäre.« Er schließt mit den Worten: »Die Furchtsamkeit der türkischen Armenier dürfte vielleicht nur noch durch die Angst der Türken vor ihnen übertroffen werden.« Der Bericht liest sich wie eine Prophezeiung dessen, was die Deutschen selbst im nächsten Weltkrieg entfachen sollten: die Vernichtung einer Bevölkerungsgruppe, auf der sich die Angstprojektionen des Aggressors bündelten. Brisant wird diese Einschätzung Scheubner-Richters vor allem durch die Nachkriegskarriere ihres Autors. 1920 nahm er am Kapp-Putsch teil und war eine Schlüsselfigur der frühen NSDAP. Er wurde beim Bierkellerputsch 1923 erschossen und zählte damit zu den »Blutzeugen der Bewegung«.
Vorhandene Parallelen der Ereignisse werden in der Darstellung durch semantische Verflechtungen noch verstärkt. Armenier und Juden verfügten mit dem Alten Testament über ein gemeinsames Metaphernreservoir. Hieraus wurde schon früh der griechische Begriff »Holocaust« entlehnt, den beispielsweise die amerikanische Missionarin Corinna Shattuck verwendete, um zu schildern, wie 1895 in Urfa Armenier in der Kathedrale der Stadt lebendig verbrannt wurden. Der amerikanische Literaturwissenschaftler James E. Young stellte fest, dass der jüdische Holocaust inzwischen zum »Archetyp« der historischen Narration geworden ist. Er fasste zusammen, wie sich die Opfererzählungen aufeinander bezogen und »armenische Historiker der nachfolgenden Generation auf den jüdischen Archetypenschatz zurück(greifen), um die Vernichtung und das Leiden ihres Volkes auszudrücken«. Das sorgt heutzutage für Irritationen, auch Hosfelds Buch erliegt der Versuchung einer sprachlichen Angleichung des Geschehens an die Shoah.

Insgesamt lassen sich die Unterschiede zu Deutschland benennen: Im Fall des Osmanischen Reichs hatte die relativ kleine Gruppe der Jungtürken den Staat gekapert. Anfangs als revolutionäre konstitutionelle Bewegung sogar von den Armeniern unterstützt, wandelten sie sich zu Ultranationalisten. Sie saßen an den Schaltstellen von Verwaltung und Militär, konnten aber das Land nicht in dem Maß mit ihrer Ideologie durchdringen wie später die Nationalsozialisten. Das wäre auch kaum möglich gewesen, dem Osmanischen Reich fehlte der Organisationsgrad einer modernen Industrienation. Die adminis­trative Seite der Massenmorde trug zwar erste Züge des Kommenden, es stand aber keine mit Deutschland vergleichbare Infrastruktur zur Verfügung. Das führte dazu, dass nicht überall mit der gleichen Konsequenz gemordet wurde. (Zwangs-)Konvertierungen zum Islam von schätzungsweise 150 000 Armeniern sowie die Rettung einer nicht geringen Zahl von Frauen und Kindern (teils per Versklavung) durch die türkische und kurdische Bevölkerung stellen einen Unterschied dar. Derartige, oftmals der Willkür oder Barmherzigkeit geschuldete Lücken ließ die deutsche Verwaltung der »Rassenreinheit« nicht zu. Vollständige Assimilation bis zur Unsichtbarkeit, die im Osmanischen Reich zumindest möglich war, half den Juden nicht.
Besonders durch die Industrialisierung des Mordens stellt die Shoah einen qualitativen Unterschied zum Genozid an den Armeniern dar. Doch neben dem Singulären von Auschwitz ragten auch in die Shoah etwa mit Babi Jar noch die »konven­tionellen« Schlächtereien der Vergangenheit in das Geschehen.
Nach dem Krieg prangerten auch Oppositionelle innerhalb der Jungtürken die Verbrechen an den Minderheiten an. Hosfeld zitiert ehemalige Jungtürken wie Ahmed Riza und Damad Ferid Pascha, die »historisch einmalige Verbrechen« beklagten und die Nation aufforderten, sich dieser Geschichte zu stellen. Bei der Eröffnung des Kriegsgerichtsprozesses 1919 gegen die Angehörigen des jungtürkischen »Komitees für Einheit und Fortschritt« sprach der Staatsanwalt »im Namen des allgemeinen Menschenrechts« deutlich von »Verbrechen gegen die Menschheit«. Jungtürkische Führer wie der ehemalige Innenminister Talât Pascha wurden als Hauptverantwortliche zum Tode verurteilt, Talât selbst war jedoch nach Berlin geflohen, wo er 1921 von einem Armenier ermordet wurde. Das deutlichste Engagement legten die Briten an den Tag, die eine Reihe von Hauptkriegsverbrechern auf Malta internierten. Die juristische Aufarbeitung im Rahmen der Istanbuler Prozesse verlief jedoch bald im Sande. Die Zerstrittenheit der Siegermächte und die Gründung der türkischen Republik nach Abwehr der griechischen Invasion beendeten diese selbstkritische Phase der Türkei.
Dabei hätte der Massenmord an den Armeniern zum juristischen Präzedenzfall werden können, wenn der britische Plan eines internationalen Strafgerichts konsequent umgesetzt worden wäre. Immerhin prägte diese Erfahrung Juristen, die später bei der Aufarbeitung der Shoah eine zentrale Rolle spielten.

Robert W. Kempner, ein Anklagevertreter in den Nürnberger Prozessen, hatte in Berlin dem Prozess um die Ermordung Talât Paschas beigewohnt. In der Aufarbeitung der Armeniermorde sah er einen rechtsgeschichtlichen Präzedenzfall, da erstmals anerkannt wurde, dass »grobe Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Völkermord, begangen durch eine Regierung, durchaus von fremden Staaten bekämpft werden können«, ohne dass dies eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates sei. Auch der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin hatte sich vor dem Zweiten Weltkrieg intensiv mit der Materie befasst. Er gehörte zu den Juristen, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg eine verbindliche internationale Regelung zur Verhütung solcher Verbrechen forderten. Dass es dem Völkerbund nicht gelungen war, eine solche Übereinkunft zu treffen, stellte auch die juristische Aufarbeitung der Shoah vor Probleme.
Erst 1948 wurde, auf Grundlage der Arbeiten Lemkins, die UN-Konvention zur Verhütung von Völkermorden entwickelt. Die Betrachtung des Genozids an den Armeniern hat so wichtige Impulse für die spätere Aufarbeitung der deutschen Verbrechen gegeben. Möglich geworden waren diese durch das Versäumnis einer konsequenten Ahndung bereits der Verbrechen im Osmanischen Reich. Die Feststellung dieser Verbindungsen rührt weder an der Würde der armenischen noch der jüdischen Opfer.