Das Recht, die religiösen Grundsätze von Minderheiten zu kritisieren

Meinungsfreiheit und »die Machthaber«

Über das Problem mit jenen, die Charlie Hebdo das Recht vorenthalten, die religiösen Grundsätze von Minderheiten zu kritisieren.

In der scharfen Debatte um das Für und Wider der Cartoons in der Jyllands-Posten und schließlich der Karikaturen in der französischen Zeitung Charlie Hebdo suchen die Gegner angestrengt nach Argumenten, mit denen sie ihre spontane Abneigung gegen die Veröffentlichung der Zeichnungen legitimieren können – Argumente, die ein Gegengewicht bilden sollen zu der Meinungsfreiheit, die zu verkünden sie sich genötigt sehen. Zu hören war beispielsweise, der verwerfliche Aspekt sei gewesen, dass die Cartoons in der Jyllands-Posten, einer Mitte-rechts-Zeitung, veröffentlicht worden waren. Wenn genau die gleichen Cartoons in einem linken Blatt erschienen wären, so wäre es wohl in Ordnung gewesen. Nun ist Charlie Hebdo tatsächlich ein linkslibertäres Magazin – und das Hauptargument seiner Gegner ist, dass die Zeitung eine Minderheitengruppe oder ihre religiösen Grundsätze ins Visier genommen habe. Was angeblich nicht im Sinne der Meinungsfreiheit sei. Meinungsfreiheit sei dazu da, gegen »die Machthaber« verwendet zu werden und nicht gegen Minderheiten.
Unterziehen wir dieses Argument einer Prüfung. In juristischer Hinsicht spezifiziert das Recht auf freie Meinungsäußerung nichts dergleichen. Weder der erste Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten noch der Artikel 77 der dänischen Verfassung fordern, dass Meinungsfreiheit nur den Leuten eingeräumt werden soll, die mächtige Gruppen oder Personen kritisieren, während in anderen Fällen staatliche Zensur geübt werden dürfe. Der erste Teil des Arguments scheint auf der Idee zu fußen, der primäre Beweggrund freier Meinungsäußerung bestehe darin, die Öffentlichkeit auf Fälle von Machtmissbrauch aufmerksam zu machen. Tatsächlich spielt dieser Aspekt eine sehr wichtige Rolle in der öffentlichen Auseinandersetzung. Das Argument fußt aber auch auf der weiteren Voraussetzung, dass für jeden klar ersichtlich sei, wer »die Mächtigen« sind. Es scheint die Vorstellung zu geben, »die Mächtigen« seien leicht zu identifizieren: Sie tragen Zylinder, rauchen Zigarren, tragen teure Anzüge, fahren edle Autos, bevölkern große Büros im Stadtzentrum und sehen im Großen und Ganzen so aus, wie Kapitalisten in den Zeichnungen von George Grosz in den zwanziger Jahren. Problematisch an dieser populistischen Vorstellung ist, dass sich in einer pluralistischen Demokratie in vielen Fällen nicht so einfach feststellen lässt, wer »die Machthaber« sind und wer die Befugnisse missbraucht, mit denen er betraut wurde. Dies kann nur als Teil einer fortlaufenden öffentlichen Debatte ermittelt werden. Ist Jyllands-Posten eine große Macht oder ist eher eine kleine Zeitung in der krisengeschüttelten dänischen Presselandschaft? War Charlie Hebdo mit einer Auflage von 100 000 Exemplaren ein mächtiges Magazin, bevor die Redaktion niedergeschossen wurde? Waren die Imame, die gegen Jyllands-Posten protestierten, machtlose Einwanderer oder waren sie Mitglieder eines mächtigen internationalen Netzwerks? Die Macht von Personen und Institutionen dürfte sich von Fall zu Fall, von Kontext zu Kontext unterscheiden – und die Mächtigen haben sehr häufig ein offensichtliches Interesse, sich zu verstellen, indem sie sich als ohnmächtige Opfer auf der Suche nach Unterstützung geben.
In vielen Fällen kann die Realität derartiger Fragen nur im Rahmen einer kontinuierlichen öffentlichen Recherche und Debatte ergründet werden. Und »den Mächtigen« die Möglichkeit zu verwehren, sich zu äußern und sogar zu verteidigen, widerspricht nicht nur der Meinungsfreiheit, sondern auch der grundlegenden juristischen und journalistischen Annahme, dass ein Angeklagter das Recht hat, sich zu verteidigen. Man kann unmöglich sicher sein, dass die eigene Meinungsäußerung sich tatsächlich nur gegen die Mehrheit oder gegen »die Mächtigen« richtet, denn letztlich ist es die öffentliche Debatte, die bestimmen kann, wer im jeweiligen Fall mächtig ist.
Eine weitere Voraussetzung dieses sentimentalen Arguments ist, dass Minderheiten eo ipso nicht mächtig seien. Aber Personen in mächtigen Positionen innerhalb kultureller Minderheiten können Macht einfach auf bru­tale Weise über und gegen ihre eigenen Mitglieder ausüben, und sie können ebenso auf die Idee kommen, multikulturalistische Grundsätze zu missbrauchen, um eine solche Darstellung von Macht zu befördern oder andere Gruppen anzugreifen. Das Problem ist, dass es überall in einer demokratischen Gesellschaft Machtverhältnisse gibt – in den kleinsten wie den größten Gruppierungen –, und dass es keinerlei Positionen in der Gesellschaft gibt, die a priori gegen die illegitime Verwendung von Macht geschützt sind.
Die Gegner der Mohammed-Karikaturen lavieren mit ihren Argumenten hin und her, wenn sie behaupten, eine Minderheit dürfe man nicht verspotten und eine Weltreligion mit 1,6 Milliarden Anhängern nicht attackieren – Forderungen, die eine gewisse Widersprüchlichkeit beinhalten. Ist die »Islamische Gesellschaft Dänemarks« eine schwache Organisation einiger weniger dänischer Muslime oder Teil eines ausgedehnten, stark interna­tional agierenden Netzwerks von Muslimbrüdern mit Unterstützern in vielen Ländern? In gewisser Hinsicht ist sie beides zugleich, und es war das Verdienst der Dokumentation des französischen Filmemachers Muhamed Sifaoui, dies zu beweisen. Sie zeigte, dass die vermeintlich kleine und rein dänische Organisation Teil eines internationalen Netzwerks von Salafisten ist. Diese Dokumentation, die eine dänische Minderheitenorganisation enttarnte und sogar verspottete, hätte, dem multikulturalistischen Machtargument zufolge, unterschlagen und nicht im Fernsehen gezeigt werden sollen.
Das Argument, die Grundsätze von Minderheiten seien a priori zu schützen, ist seltsam, weil faktisch die Mehrheit der Organisationen und Gruppen in demokratischen Gesellschaften natürliche Minderheiten sind. Die dänische Sozialdemokratie, die führende Kraft in der gegenwärtigen Regierungskoalition, wird unterstützt von einer Minderheit der Bevölkerung (in den vergangenen Jahren erhielt sie ungefähr 24 Prozent der Stimmen). Bedeutet das, dass man kein Recht hat, sie zu kritisieren? Sollte es die Einschränkung geben, dass Kritik sich nur auf die Regierung beziehen darf, weil sie schließlich der Definition nach die Mehrheit der Wähler hinter sich hat? Oder ist es unzulässig, die zahlreichen religiösen Minderheitengruppen der westlichen Welt wie die Born Again Christians, Zeugen Jehovas und Scientologen anzugreifen? Oder, um ein schlimmeres Beispiel zu nennen: War es im Deutschland der zwanziger Jahre illegitim, die erstarkende Nazipartei anzugreifen, die damals noch eine Minderheit war? Hätte man mit der Kritik an der Bewegung warten sollen, bis sie 1933 an die Macht kam und somit »mächtig« wurde?
Es ist wahrscheinlich, dass einige Befürworter des Arguments, es sei geschmacklos, Gruppen islamistischer Extremisten anzugreifen, in etwa solche Meinungen vertreten: Wir dürfen Islamisten im Westen nicht angreifen, denn sie haben keine Macht; wir müssen warten, bis sie die Macht übernehmen könnten. Selbstverständich ist dieses Argument durch den Multikulturalismus motiviert: Alle kulturellen Gruppen besäßen Würde und seien es wert, respektiert zu werden. Sie hätten ein Recht auf Schutz als »Kulturen«. Meinungsfreiheit könne also nur gegenüber der Regierung eingesetzt werden, da sie in einer Demokratie die exklusive Gruppe darstelle, die eo ipso eine Mehrheit repräsentiere.
Tatsächlich ist genau dies der demokratische Widerspruch des Multikulturalismus.

Übersetzung aus dem Englischen von Oliver Koch.

Jens-Martin Eriksen & Frederik Stjernfelt sind Mitglieder des dänischen PEN. Zusammen verfassten sie »The ­Democratic contradictions of Multiculturalism«, Telos Press, New York 2012