»Ausprobiert«, Teil 9: Boxen

Always mit die Hüfte

»Ausprobiert«, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fernsehen faszinieren. Teil 9: Boxen. Im Unterschied zum Judo seiner Kindheit darf der Autor beim Boxen hinterher Würstchen essen, ist aber inzwischen Veganer.

Im Fernsehen schoben sich schwammige Männer durch einen schwarzen Raum, in dem ferne Sterne schienen. Auf diesen Sternen, so stellte ich mir als leidgeprüfter Zwölfjähriger vor, durfte man den ganzen Tag lesen und Beatles hören, ohne zum Judotraining gezwungen zu werden. Die Männer waren voller Schweiß und sahen aus wie die He-Man-Figuren meines Cousins, nur ohne Insektenaugen und Fellbikini, also unsexy. Ganz leise redete hinten eine Stimme auf Englisch – und es machte mich wahnsinnig, dass ich immer nur Fetzen verstand –, vorne redete eine langweilige deutsche Stimme irgendwas von Taktiken und einer harten Rechten. Es roch nach dem Bier meines Vaters und den Judomatten, auf die ich als Brilli erster Kajüte immer gern gezimmert wurde. Dass ich für Boxkämpfe lange aufbleiben durfte, war das einzig Gute an ihnen.
Irgendwann entkam ich der Kindheit ebenso wie dem elterlichen Wohnzimmer und dem sogenannten sanften Weg des Judo, bei man mich in den Schwitzkasten nahm, bis ich verloren hatte, und mir hinterher auch noch die Würstchen verweigerte, nach denen es in der Schulsporthalle der Kreismeisterschaft immer so gut roch, damit ich »bis zum nächsten Wettkampf wenigstens nicht wieder zunehmen« würde.
Fortan widmete ich mich der studentischsten aller Sportarten, dem Joggen. Würstchen hätte ich jetzt theoretisch so viele essen können, wie ich wollte, war aber inzwischen, wie so viele Studenten, leider Veganer geworden. Durch eine Kindheit voller dicker Bücher und Sporttraumatisierungen war ich klug und leidensfähig geworden. Das verschaffte mir nach dem Studium einen Job als Gopher (etwa: Mädchen für alles) an der Seite einer irren kanadischen Professorin, die ihren Lebensunterhalt zu einem beträchtlichen Teil damit bestritt, dem paralympischen Komitee und diversen Sportförderern einen vom Pferd zu erzählen.
Dieses Pferd hieß Boxen. Vielen rotgesichtigen Herren, die sicher schon lange keine Sporthalle mehr von innen gesehen hatten, malte sie in einem putzigen Mix aus Deutsch und Englisch – die Herren machte es sichtlich wahnsinnig, dass sie nur die Hälfte verstanden – die segensreiche Wirkung der »schönen Kunst« auf junge Mädchen aus. Selbstbewusstsein bekäme man davon, schulischen Erfolg und kommjuniti liederschüpp skülls, also das Vermögen, eine Schul-AG zu organisieren oder einen Hartz-IV-Antrag auszufüllen.
Als Gopher musste ich Sportgeräte schleppen, Präsentationen aufhübschen, Fördermittelanträge schreiben und morgens um drei im Taxi zum Flughafen Diktate für Briefe an den IOC-Präsidenten aufnehmen – solche Sachen eben.
Aus dieser Zeit sind mir einige hübsche Albträume geblieben. Und das Boxen. Die Boxerinnen im Stall der kanadischen Sporthexe entpuppten sich nämlich als cool und lustig, und schon bald bekam ich Lust zu tun, was sie taten, nämlich mit gefährlichem Blick durch die Halle zu tapern, verbissen auf einen Sack einzuhauen und in ärmelfreien Sportleibchen gut auszusehen. Auch die Hoffnung auf einen Fellbikini und Insektenaugen wollte ich, eingedenk der He-Man-Pinups meiner Kindheit, nicht aufgeben. Nach dem Training ging es immer in irgendein Postmoderne-Seminar oder eine Bierkneipe. Man war tätowiert mit Namen von Mädchenbands und hatte Stress mit der Freundin. Was war not to like?
Leider ging ich in Sportklamotten beim besten Willen nicht als Frau oder auch nur Mädchen durch, so dass es vorerst bei dem Wunschtraum blieb. Zu meiner großen Freude eröffnete der Verein aber recht bald eine sogenannte Queer-Gruppe, zu der auch mehr oder weniger männliche Boxer wie ich zugelassen waren. Das Label »queer« war hauptsächlich dazu gedacht, Dussel aus dem Türstehermilieu fernzuhalten, die vor ihren Kumpels nie und nimmer mit der Mitgliedschaft in einem Tuntenverein hätten angeben können. Ansonsten wurden keine Identitätsnachweise erhoben. Ich fühlte mich sofort pudelwohl und bin seitdem dabei geblieben.
Boxen – für alle, die den Sport nur von Klitschko kennen – geht mitnichten so, dass man sich gegenübersteht und die linke Faust raushält, bis Gegner oder Gegnerin reinrennt.
Boxen geht so, dass man erst mal Seilspringen lernt. Das dauert so ein halbes Jahr, wenn man es nicht bereits auf dem Pausenhof gemeistert hat. Bis dahin zerpeitscht man sich die Schenkel mit dem Stahlseil so schmerzhaft, wie Jesus in diesem Mel-Gibson-Film zerpeitscht wird. Ganz zu schweigen von der Scham, dass alle anderen irgendwie die dollsten Kunststückchen machen, während sie so schnell das Seil schwingen, dass man es gar nicht mehr sieht. Lange Zeit hatte ich den Verdacht, irgendwo sei eine versteckte Kamera und die anderen hätten gar keine Seile. Dass dem nicht so war, konnte ich erst glauben, als ich das Hüpfen endlich beherrschte und andere Neulinge kamen, die nun statt meiner wie Osterhäschen mit Bandscheibenvorfall vom vielen Eierschleppen herumhoppelten.
Wenn man Seilspringen beherrscht, lernt man die linke Gerade. Dabei schlägt man dem Gegner oder der Gegnerin die linke Faust ins Gesicht. Es gibt dabei etwa eine Million Dinge zu beachten, die die Trainerin nicht müde wird zu kommentieren: Der Arm muss lang, die Faust erst kurz vor dem Aufprall geballt, die Schulter vors Gesicht gezogen, die rechte Faust an der Wange, der Blick nach vorn gerichtet, die Augen geöffnet und der Geist fokussiert sein. Wenn das klappt, kann man anfangen, ernsthaft zu arbeiten.
Meine erste Trainerin war eine strenge und liebevolle Kampfmaschine wie aus der Karikatur eines Ballett-Gulags, die mir mit einem kleinen unsichtbaren Stock auf den Kopf schlug, wenn ich die linke Gerade falsch machte. Der häufigste Kommentar war: »Always mit die Hüfte.«
Man soll nämlich nicht ausholen und hauen, sondern sich wie ein Tangoderwisch in den Hüften drehen und die Faust nur gleichsam als totes Gewicht nach vorne fliegen lassen. Als ich es endlich einigermaßen »mit die Hüfte« konnte, musste ich lernen, die Faust auch wieder schnell zurückzuziehen, damit mir die Trainerin nicht mit ihrem Stock eins auf die Nase gab, während ich mich noch freute, dass ich eine Hüfte hatte, eine Tatsache, dir mir bei Judo und Joggen verborgen geblieben war.
Dann das Ganze mit der rechten Geraden.
Dann mit links und rechts zum Bauch des Gegners.
Inzwischen waren etwa drei Jahre vergangen. Dann erfuhr ich, dass es auch Haken gibt. Um diese richtig auszuführen, muss man eine derart komplizierte Bewegungsabfolge ausführen, dass ich sie auf dem begrenzten Platz hier niemals vollständig wiedergeben kann. Am ehesten kann man es sich so vorstellen, dass man sich in einen menschlichen Korkenzieher verwandelt, der Arme aus Lakritz hat, die kilo­schwere Handschuhe auf eine Fläche von der Größe einer Zwei-Cent-Münze wummern müssen, wenn der Schlag regelkonform sein soll. Selbstverständlich bewegt sich die Zwei-Cent-Münze dabei. Der Boxunterricht erinnerte mich zunehmend an die Star-Wars-Szene, in der Obi-Wan Kenobi Luke Skywalker beim Laserschwerttraining die Augen verbindet. Ich war in der Szene der brüllende Affenmensch Chewbacca.
Wie, wird man sich fragen, gelingt es denn aber Tranfunzeln wie den RTL-Schwergewichtsboxern, derart komplizierte Techniken zu meistern? Antwort: gar nicht. Profiboxen, zumal Schwergewichtsboxen, hat mit richtigem Boxen nichts zu tun. Es ist ein hässliches Trauerspiel, bei dem arme Clowns für Geld aufeinander einprügeln. Wenn es zu lange dauert oder der Falsche zu gewinnen droht, steht neben dem Ring einer mit einem Vorschlaghammer und knockt in einem unbeobachteten Moment den aus, gegen den die Wetten laufen. Na gut, heute nicht mehr. Aber früher war das so beim Rummelboxen! Und das Profiboxen im Fernsehen ist nichts weiter als der Nachfolger des Rummelboxens.
Die kanadische Professorin und die Trainerin »mit die Hüfte« sind längst aus meinem Leben verschwunden. Ich aber werde bald selbst den Trainerlehrgang antreten. Meine große Hoffnung ist, dass ich dort auch noch lerne, vorne Englisch und hinten Deutsch zu reden. Zur Belohnung werde ich mir ein saftiges Veganwürstchen gönnen.