Migranten und Bürgerkriegsflüchtlinge in Brasilien

Asyl in den Tropen

Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Brasilien. Doch die Flüchtlingspolitik muss der neuen Lage noch angepasst werden.

»Heute, in diesem Moment, überqueren Hunderttausende Haitianer und Afrikaner die Grenzen Brasiliens, allesamt mittellos, ohne Frauen, ohne Familien. Sie kommen, um unsere Sozialprogramme auszunutzen, um sich von unserem Bürgermeisterchen durchfüttern zu lassen.« So hallt es aus den Boxen eines Lautsprecherwagens. Der Redner, der sich gerade in Rage schreit, trägt ein brasilianisches Fußballtrikot, erinnert aber ansonsten an deutsche Pegida-Demonstranten. Auf den Straßen São Paulos bekommt er Zuspruch von jenen, die gerade wahlweise für eine Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff, mehr Sicherheit oder gar einen Militärputsch demonstrieren.
Einwanderung, Flucht, Migration – das waren in Brasilien lange Zeit keine Themen für die große Politik oder Kneipendiskussionen. Den Migrationsforscher Mohammed al-Hajji von der staatlichen Universität Rio de Janeiros (UFRJ) überraschen solche rassistischen Parolen nicht. »Es gibt keine gefestigte öffentliche Meinung. Von spontanen Akten der Solidarität bis hin zu rassistischen Kurzschlüssen ist einfach alles möglich«, sagt der gebürtige Marokkaner. »Und rechte Wortführer und konservative Kommentatoren spiegeln derzeit einfach die ausländerfeindlichen Positionen der europäischen Debatte wider.«
Dabei gibt es selbst in Sachsen mehr Asylsuchende – nur 8 000 anerkannte Flüchtlinge leben in Brasilien. Auch wenn der britische Guardian die regierende Arbeiterpartei (PT) dafür lobt, die Tore für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge geöffnet zu haben, sind in den vergangenen drei Jahren nicht mehr als 2 000 Menschen aus der Re­gion gekommen. »Viel zu wenig«, findet auch Aline Thuller, Koordinatorin des Flüchtlingsprogramms der Caritas in Rio de Janeiro, die andererseits froh ist, dass die Schlange Asylsuchender vor ihrem Büro nicht noch länger ist. Denn der Staat hat die Beratung und die Antragstellung quasi ausgelagert. »Doch wir arbeiten nicht allein. Man muss sich das wie ein großes Netzwerk vorstellen«, sagt sie und erzählt von Universitätskliniken, die bei der Gesundheitsversorgung helfen, von Kirchen und Moscheen, die Unterkünfte organisieren, von Schulen, die Aktivitäten für Flüchtlingskinder anbieten und von Stiftungen, die Dresscodes und anderes Wissenswertes für Vorstellungsgespräche vermitteln.
Vorstellungsgespräche? Ja, denn in Brasilien erhalten Asylsuchende bereits während der Bearbeitung ihres Antrags eine Arbeitsgenehmigung. Auch Keith aus Sierra Leone hat seit zwei Jahren ein solches Dokument, er war bereits als Auto­wäscher, Teppichreiniger, Tankwart und Kellner beschäftigt. »Verdient habe ich nie mehr als 1 200 Reais im Monat«, sagt der studierte Betriebswirt. Das sind etwa 380 Euro. »Meistens haben die Arbeitgeber mich schwarz beschäftigt, um keine Abgaben zahlen zu müssen, und mich dann ­jedes Mal rausgeworfen, wenn ich einen festen Arbeitsvertrag wollte.«

Die gezielte Ausbeutung von Migranten und Flüchtlingen, die nicht einmal den Mindestlohn erhalten, sei ein Problem, sagt auch Thuller von der Caritas. »Noch vor zwei Jahren galten Flüchtlinge als schwer vermittelbar. Heute gibt es eine große Nachfrage, jedoch nur, um unqualifizierte Jobs zu besetzen. Dabei sind viele Flüchtlinge sehr gut ausgebildet.« Sie liest ein paar Berufe aus der Datenbank vor: Zahnärztin, Rechtsanwalt, Bachelor in internationalen Beziehungen. Diese Menschen sind es, die den Kriegswirren bis nach Brasilien entkommen, die Papiere, ein Bankkonto im Ausland und Geld für ein Flugticket haben. Denn das sind die Bedingungen, die brasilianische Auslandsvertretungen für eine Einreise stellen.
Nach der Ankunft in Rio de Janeiro macht sich jedoch schnell Ernüchterung breit, so auch bei Samir aus dem syrischen Aleppo. »Ich will mich nicht integrieren und eine neue Sprache lernen, um später putzen zu gehen. Ich werde weiterreisen«, sagt er trotzig. Doch eine Ausreise ist nicht so einfach. Samirs syrischer Pass war abgelaufen, als er in Jordanien seinen Asylantrag stellte. Der brasilianische Behelfspass galt lediglich one way, nun sitzt er fest – und widerwillig zweimal in der Woche auch im Portugiesischkurs. Er würde gern den Master in Journalismus machen. Doch wie soll er seine Abschlüsse anerkennen lassen, wenn niemand in Syrien seine bisherigen Titel bestätigen kann? Wie kann er künftig die Miete von umgerechnet 600 Euro im Monat bezahlen, wenn seine Ersparnisse aufgebraucht sind?

Mireille aus dem Kongo plagen ähnliche Sorgen. Zwar schätzt sie den kostenlosen Zugang zum öffentlichen Gesundheitswesen und hat einen befristeten Job als Übersetzerin gefunden. Aber ­allein zu wohnen, das hat sie bisher nicht geschafft. »Diese Situation, immer auf jemandes Gunst angewiesen zu sein, ermüdet irgendwann«, konstatiert die junge Politikwissenschaftlerin, die kostenlos bei einer brasilianischen Familie untergekommen ist. Dennoch ist sie dankbar, hat persönlich nie Anfeindungen in Brasilien erlebt und lobt immer wieder »die große Herzlichkeit und Solidarität«.
Darauf ließe sich aufbauen, findet Migrationsforscher al-Hajji: »Wir müssen endlich eine öffentliche Debatte über Flucht und Migration anregen und die entsprechenden Gesetze, die noch aus der Zeit der militärisch-zivilen Diktatur stammen, reformieren, anstatt nur punktuell die Einreisebedingungen zu erleichtern.« Die erstarkende Rechte könnte das Thema endgültig vereinnahmen, wenn sich Brasilien nicht dazu bekenne, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein.
Zum brasilianischen Alltag gehört auch, dass bolivianische Familien in São Paulos Textilindustrie ausgebeutet und von Skinheads gemobbt werden, dass afrikanische Flüchtlinge in Rio de Janeiro als Ebola-Infizierte verdächtigt und fast gelyncht wurden und dass haitianische Arbeitsmigranten im Akkord für die Fertigstellung der Olympiastätten schuften.
Die Zeichen für eine weitere Liberalisierung des Flüchtlingsrechts stehen schlecht. Im Kongress ist die von Korruptionsvorwürfen gebeutelte Arbeiterpartei zum Spielball ihres größten Koalitionspartners, der Mitte-Rechts-Partei PMDB, geworden, die bei Abstimmungen regelmäßig mit der rechten Opposition kooperiert. Der PMDB ist auch federführend in der parlamentarischen Gruppe für Flüchtlinge und humani­täre Hilfe. »Ein Bündnis, das ganz klar religiöser Natur ist«, kritisiert Hajji. Denn trotz seines universellen Anspruchs werde das Bündnis aufgebaut, »um vor allem Christen aus dem Nahen Osten die Einreise nach Brasilien zu erleichtern. Zweifellos bilden sie eine Gruppe, die auf extreme Weise verfolgt wird. Aber wäre es nicht viel interessanter, ein solche Initiative innerhalb ­einer republikanischen und laizistischen Perspektive zu entwickeln?« Der humanistische Blick beginne der Flüchtlingspolitik abhanden zu kommen.
Mireille, Samir und Keith verfolgen diese Debatten kaum. Dennoch haben vor allem die Muslime unter ihnen gelernt, sich mit öffentlichen Glaubensbekundungen zurückzuhalten. Die Muslimfeindschaft könnte aber auch Brasiliens Wirtschaft, die ohnehin gerade in die Rezession gerutscht ist, schaden. Auf dem ebenso dyna­mischen wie umkämpften globalen Geflügelmarkt hat sich das Land in den vergangenen Jahren zum Marktführer für halal-konform hergestellte Brust und Keule entwickelt. Doch um nach mus­limischem Brauch zu schlachten, sind auch muslimische Schlachter nötig, und die sind inzwischen knapp geworden. Eigentlich ein guter Moment, um eine Gehaltserhöhung zu fordern.