Neue Debatte über Rassismus in Israel

Die Aliyah ist nicht genug

Nach Protesten äthiopischstämmiger ­Israelis wird in Israel über Rassismus ­debattiert.

»Die Demonstranten haben uns eine Wunde der israelischen Gesellschaft gezeigt. Wir haben zu lange nicht hingeschaut und nicht genug zugehört«, sagte Präsident Reuben Rivlin nach den Protesten. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu traf Damas Pakada, einen jungen Wehrpflich­tigen äthiopischer Herkunft, der von Polizisten zusammengeschlagen worden war. Die mit Videokameras festgehaltene Polizeigewalt löste eine Demonstration Tausender äthiopischstämmiger ­Israelis in Tel Aviv am 3. Mai aus, die mit Zusammenstößen zwischen einigen Demonstrierenden und den Sicherheitskräften endete, bei denen Dutzende Menschen verletzt wurden.
Netanyahu betonte während seines Treffens mit Pakada: »Israelis äthiopischer Herkunft sind in jederlei Hinsicht Israelis.« Doch zumindest Teile der äthiopischen Community sehen diese Beteuerungen skeptisch. Auch sozioökonomische Indikatoren legen nahe, dass die äthiopischen Israelis 30 Jahre nach Beginn der ersten großen staatlich organisierten Einwanderungsaktion noch nicht in der israelischen Gesellschaft angekommen sind. Eine Studie der Bar-Ilan-Universität von 2012 stellte fest, dass äthiopische Israelis die Bevölkerungsgruppe mit der höchsten Arbeitslosenrate und dem niedrigsten Durchschnittseinkommen sind; die Jugendstraffälligkeit, vor allem im Zusammenhang mit Drogendelikten, liegt um das Dreifache über dem israelischen Durchschnitt, die Selbstmordrate dem Gesundheitsministerium zufolge um das Fünffache.
Es gibt zwar äthiopische Israelis, die den sozialen Aufstieg der Neueinwanderer verkörpern, wie die ehemalige Abgeordnete Pnina Tamano-Schata oder die Miss Israel 2013, Yityish Aynaw. Diese individuellen Erfolgsgeschichten hätten viele Israelis in der irrigen Annahme bestärkt, in einer postethnischen Gesellschaft angekommen zu sein, die weitestgehend frei von Rassismus sei, schreibt die Journalistin Alison Kaplan Sommer in Haaretz. Nur vereinzelt wurde die tägliche Diskriminierung öffentlich, etwa als 2012 äthiopische Israelis in Kiryat Malachi gegen Benachteiligung bei der Wohnungsvergabe demonstrierten oder 2013, als Haaretz offenlegte, dass äthio­pischen Frauen vor ihrer Einreise gegen ihren Willen oder ohne hinreichende Aufklärung Verhütungsmittel verabreicht wurden.

Manche vergleichen die Situation der äthiopischen Community in Israel mit der Situation der Afro-Amerikaner in den USA. So bezogen sich ­einige der Demonstrierenden in Tel Aviv auf die Proteste von Baltimore. Doch auch wenn hier wie dort Diskriminierung und Polizeiwillkür der unmittelbare Auslöser der Proteste waren – wobei in Israel niemand getötet wurde –, hat die Einwanderungsgeschichte der äthiopischen Israelis kaum etwas mit der von Sklaverei und Segregation geprägten Geschichte der Afroamerikaner in den USA gemein.
Erst in den frühen siebziger Jahren diskutierten die beiden führenden aschkenasischen und sephardischen Rabbiner über die Frage, ob äthiopische Juden im eigentlichen Sinne Juden seien. Diese Frage wurde schließlich zugunsten der Äthiopier entschieden. 1975 weitete die damalige Regierung von Yitzhak Rabin das sogenannte Rückkehrrecht nach Israel auf die Juden in Äthiopien aus. Der größte Teil der dortigen jüdischen Community lebte damals in kleinen Dörfern im Norden und Westen des Landes. Äthiopien wurde zu dieser Zeit von einer sozialistischen Militärregierung unter Mengistu Haile Mariam beherrscht, die nicht nur heftige politische Verfolgung ausübte, sondern auch als oppositionell angesehene Bevölkerungsgruppen gezielt aushungerte.
Diese Politik trug schließlich zu den Hungersnöten Anfang der achtziger Jahre bei. In Folge von Gewalt und Hunger flohen Zehntausende Äthiopier in Flüchtlingslager im benachbarten Sudan, darunter Tausende äthiopische Juden. Bereits in den Vorjahren wurden Mossad-Agenten und Aliyah-Aktivisten im Sudan und in Äthiopien eingesetzt, um die Angehörigen der jüdischen Gemeinde auf die Einwanderung nach Israel vorzubereiten. Zwischen November 1984 und Januar 1985 ließ der israelische Geheimdienst in Koor­dination mit der CIA und unter Mitwissen des sudanesischen Geheimdienstes ungefähr 6 500 äthiopische Juden aus den Flüchtlingslagern nach Israel ausfliegen. Aufgrund der chaotischen Umstände der später »Operation Moses« getauften Aktion kam es vor, dass Familienangehörige zurückgelassen werden mussten. 1991 holte der israelische Geheimdienst mit der »Operation Salomon« weitere 15 000 äthiopische Juden nach Israel. In den darauffolgenden Jahren wurden in Programmen zur Familienzusammenführung immer wieder Äthiopier nach Israel geflogen, darunter auch viele »Falash Mura«, Äthiopier mit jüdischen Vorfahren, die im Laufe des 20. Jahrhunderts teils unter Druck zum Christentum konvertierten.

Der jüdische Status der Falash Mura ist unter ­Religionsgelehrten umstritten. Manche Rabbiner weigern sich gar, Falash Mura nach jüdischem Ritus zu verheiraten. Diesem generellen Misstrauen hinsichtlich ihres Jüdischseins sehen sich viele Äthiopier in Israel ausgesetzt. Der Journalist Chemi Shalev schreibt, das Konzept, dass es auch schwarze Juden gebe, sei ein Novum für viele ­Israelis. Ein weiterer Grund mag sein, dass auch etwa 60 000 afrikanische Flüchtlinge in Israel ­leben, meist aus Eritrea und dem Sudan. Nach Protesten von Anwohnern im Süden von Tel Aviv 2012 forderten vor allem nationalistische Politiker die Abschiebung von Afrikanern. So berührt sich der Kampf der äthiopischen Israelis um Gleichberechtigung mit der Angst der anderen afrikanischen Communities, ihre relative Sicherheit in Israel zu verlieren.