Woyzeck als Action-Schocker im Berliner Ensemble

Erbsen-Alarm im Krisengebiet

Leander Haußmann inszeniert »Woyzeck« im Berliner Ensemble.

Die Inszenierung vermag zwar die Zuschauer zu ergreifen; sie ist jedoch das Kunstloseste«, heißt es in der »Poetik« des Aristoteles. »Denn die Wirkung einer Tragödie kommt auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande.« Angesichts heutiger Inszenierungen ist man versucht zu sagen, dass die Wirkung eines Stückes eigentlich nur noch ohne Aufführung zustande kommen kann. Dermaßen ernüchtert geht man zumindest aus der »Woyzeck«-Inszenierung von Leander Haußmann am Berliner Ensemble.
Haußmanns Herkunft aus dem Filmgeschäft (»Sonnenallee«, »Herr Lehmann« oder »Hai-Alarm am Müggelsee«) merkt man den Theaterarbeiten des Regisseurs deutlich an. So strotzt die Aufführung von popkulturellen Musikeinlagen, die zuerst lautstark erschrecken, schließlich nur noch nerven. Sie wären angesichts der drastischeren und tiefer greifenden Mängel aber fast schon wieder verzeihlich, bilden sie doch letztlich nur die Oberfläche des handwerklich und kompositorisch Falschen.
Viele kennen Georg Büchners Fragment gebliebenes Drama »Woyzeck« noch aus dem Schulunterricht. Nicht wenige werden bei der damaligen Lektüre ein zwiespältiges Verhältnis zum Stück entwickelt haben, wobei gerade die Empfindung dieser Ambivalenz als maßgebliche Wirkung des Werkes betrachtet werden kann. Dabei ist diese Gefühlsregung zu großen Teilen in der Form begründet und lässt sich nicht ausschließlich mit dem fragmentarischen Charakter erklären. Was eigentlich die Stärke des Stückes ausmacht, begründet zugleich die Tücken seiner Rezeption. Es bietet einen weiten Interpretationsrahmen, den Haußmann aber so weit überspannt, dass ihm das Stück schließlich entgleitet. Selten lässt sich so deutlich sehen, dass eine schlechte Inszenierung immer auch eine falsche und unwahre ist.
Der einfache postrevolutionäre und, zumindest in der Hoffnung Büchners, gleichzeitig prärevolutionäre Soldat Woyzeck ist eine konsequente Fortführung des gescheiterten Revolutionärs in »Dantons Tod«. Schon für letzteren konzipierte Büchner kein positives Glücksversprechen. Gerichtet wird Danton letztlich von der gesichtslosen Masse des Pöbels, so sehr Robespierre dieses Urteil auch beeinflusst haben mag. Die Radikalität des Woyzeckschen Verfalls, der schleichender verläuft als der Streich der Guillotine, liegt darin begründet, dass er nicht unmittelbar von Personen, sondern von den materiellen Verhältnissen herbeigeführt wird: »Er soll en ökonomische Tod habe.« Die Figuren sind hierbei reine Charaktermasken ihrer gesellschaftlichen Funktion, was sich vor allem in den verschiedenen sprachlichen Ausdrucksformen andeutet. In dem Nichtssagenden, Klischee- und Floskelhaften der Sprache findet der »stumme Zwang« (Marx) der ökonomischen Verhältnisse seine angemessene Repräsentation. Die teilweise Vorwegnahme der Kritik der politischen Ökonomie bürgt hier für den Schrecken und den Witz des Stückes gleichermaßen.
Die Stummheit ist es, die Haußmann nicht erträgt und durch puren Lärm ersetzt. Er personalisiert genau das, was Büchner bewusst entpersonalisierte. Der Regisseur dreht den Akt der künstlerischen Produktion dermaßen um, dass die Inszenierung dem realen Gerichtsprozess gleicht, welchen Büchner zwar als Vorlage seines Stückes wählte, von dem sich der Autor jedoch dezidiert zu entfernen versuchte, um die Verhältnisse zu verurteilen. Hier zeigt sich die fehlende Distanz des Regisseurs; Haußmann verarbeitet, wie in fast allen seinen Werken, die eigene Dienstzeit in der NVA. Büchners Woyzeck ist jedoch gerade kein aktiv kämpfender Soldat, sondern wird über seinen öden und ereignislosen Beruf am untersten Ende der gesellschaftlichen Stufenleiter in erbärmlicher Armut determiniert. Da sein Füsiliersold als Helfershelfer des Hauptmanns nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt für sich sowie seine Geliebte Marie und das gemeinsame Kind zu bestreiten, unterwirft er sich im Dienste eines Doktors zu Versuchszwecken einer Erbsendiät, die seine Gesundheit ruiniert. Unter dem ständigen Druck der Geldbeschaffung entwickelt er allmählich eine Psychose und entfernt sich immer mehr von seiner Geliebten, die ihn schließlich mit einem Tambourmajor betrügt.
In der Inszenierung Haußmanns wird das triste Leben im Umland einer Stadt in eine von Schusswechseln durchbrochene Krisenlandschaft verlegt, Marie zum vergnügungssüchtigen, nymphomanen Vamp gemacht und Woyzeck zum ausschließlichen Erbsenessen weniger durch Armut als vielmehr durch seine Kameraden gezwungen, die ihn schlagen, treten, auf ihn urinieren und ihn schließlich fisten, bis das Blut aus seinem After rinnt. Der Schock des expliziten Effekts versagt dem Zuschauer die Erfahrung der Erschütterung, welche die Wahrheit eines Urteils über die Einrichtung der Gesellschaft erzeugen könnte, und richtet sich ebenso gegen Militär und Krieg wie gegen die vermeintliche Schändlichkeit weiblicher Lust. Ersteres scheint hierbei sehr viel deutlicher intendiert als Letzteres. Der von Woyzeck ausgeübte Mord wird somit durch das Konkrete gerechtfertigt, wo er doch bei Büchner aus dem Allgemeinen erwächst. Wo Büchner die Gesellschaft auf die Anklagebank führt, ersetzt Haußmann sie durch das individuelle Fehlverhalten Einzelner, die durch ihre gezielten Taten Woyzeck zur reinen Kreatürlichkeit verurteilen. Dadurch suggeriert die Aufführung eine direkte Kausalität und Konsequenz, die der Radikalität des Werks entgegensteht.
Diese Fehlgriffe sind keineswegs nur der grundlegenden Problematik zuzuschreiben, die heutigen Aktualisierungsversuchen von Stücken eigen ist. Vielmehr wird die Aufführung dem heutigen Publikum des Berliner Ensembles durchaus gerecht, das das Hausstück »Die Dreigroschenoper« pflichtbewusst absitzt und bei der Frage »Was ist schon der Einbruch in eine Bank … ?« in stürmischen Jubel und Applaus ausbricht. Solange dieses Klatschen und sadistische Lachen des personalisierten Ressentiments als zahlendes Einverständnis akzeptiert statt als Beleidigung erfasst wird, werden Gefälligkeitsinszenierungen für Friedensbewegte und Lustfeinde weiterhin eher die Regel als die Ausnahme sein. Wer Büchner aber schätzen gelernt hat, wird, obwohl zahlreiche Passagen dem Sparzwang zum Opfer gefallen sind, zwei schwer zu ertragende Stunden verbringen.

Leander Haußmann: Woyzeck. Berliner Ensemble. Nächste Aufführungen am 11. und 26. Mai