Der Riot ist die Naturalisierung von Armut

Kein Streik, nirgends

Die sich entladende Gewalt von Riots wie in Baltimore fußt auf einem Milieu, in dem bereits neue Umgangsformen entwickelt wurden. Oft handelt es sich um au­tonome Aufstände, die in Ermangelung von Industrie und Fabriken an die Stelle des Streiks gerückt sind.

In diesen aufgewühlten Tagen von Baltimore ist wieder viel von der besten Fernsehserie aller Zeit die Rede: »The Wire«, so sagt man, erzähle gewissermaßen die Vorgeschichte der Riots, ­liefere die tiefste Analyse der verarmten, korrupten, gewalttätigen und institutionell kollabierenden Stadtgesellschaft Baltimores. Die Erfinder und Autoren der Serie, Ed Burns, ein schwarzer ehemaliger Polizist, und vor allem David Simon, werden in ihrem Sinn für Realismus mit Balzac verglichen und auch schon mal als die letzten Marxisten der USA gefeiert. Dabei ist die Struktur von »The Wire« alles andere als marxistisch, sie ist vielmehr systemtheoretisch: Was wir sehen, sind antagonistische Akteure, die nie das große Ganze überblicken können und deren Handeln immer Stückwerk bleibt, beschränkt auf ihren jeweiligen sozialen Radius. Dennoch ergeben ihre Handlungen – so bewusstlos sie miteinander verknüpft sind – ein System, das zwar keiner durchschaut – außer die Zuschauer, die genau deswegen »The Wire« so sehr genießen –, das sich aber permanent reproduziert, ja, letztlich ein Eigenleben zu führen beginnt.
Keine Frage, Burns und Simon spielen diese soziale Kybernetik mit großem Geschick durch – aber was hat das mit den jüngsten Riots, was mit den Verhältnissen zu tun, die zu diesen Aufständen geführt haben? Die überraschende Antwort lautet: gar nichts.

Zu diesem Schluss kommt der amerikanische Journalist Dave Zirin in einem Essay für The Nation. Auch er war ein großer Fan von »The Wire«, hat aber vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse mit dem Weltbild der Serie gebrochen. Denn ein Aufstand ist David Simon offensichtlich nicht vorgesehen, hat er doch in seinem Blog die Wütenden dazu aufgefordert, die Steine fallen zu lassen und nach Hause zu gehen. Simon benennt zwar völlig richtig den »war against Drugs« als Katalysator der Polizeigewalt und des sich in ihr artikulierenden Rassismus – insofern dieser Krieg nichts anderes ist als die Naturalisierung und Kriminalisierung von Armut. Aber er tut dies, weil dieser Krieg für ihn eine Dysfunktionalität des Systems darstellt: Die Bestimmung eines Polizisten, so Simon, sei eigentlich eine andere – die des respektvoll strengen, auf Ausgleich in der Nachbarschaft bedachten und mit tolerantem Augenmaß handelnden Sozialtechnologen. Erst wenn die Cops sich an abstrakten Verhaftungs- und Aufklärungsstatistiken orientieren müssen, rutschen sie in die Rolle des brutal agierenden Armenjägers. Der Blick, den Simon einnimmt, ist unverhohlen der eines imaginierten, einfachen und unbescholtenen Polizisten. Aus dieser Perspektive sind die Unruhen die vielleicht noch größere Dysfunktionalität, weil in ihnen zu viel zu Bruch geht, der Graben zwischen Polizei und Bevölkerung noch tiefer wird.

Was der Riot aber beweist, ist das Scheitern dieser Systemtheorie. Das System Gesellschaft besteht eben nicht aus abgeschlossenen Subsystemen, die nur von außen gestört oder befeuert werden und deren, um im Jargon zu bleiben, generalisiertes Kommunikationsmedium das Geld ist. Der Riot steht für einen sozialen Mechanismus, der alle Teile der Gesellschaft erst unmerklich und am Ende ganz schlagartig zusammenzieht, so dass die Konflikte sich auf engstem Raum ballen und eskalieren. Dave Zirin hat in seiner Kritik an »The Wire« darauf hingewiesen, dass dort kein kollektiver schwarzer Aktivismus sichtbar wird. Tatsächlich agieren aber in Baltimore autonome schwarze Gewerkschaftsgruppen, deren Mitglieder federführend bei den Protestmärschen waren, die mit den Riots in Verbindung standen, schwarze Schülergruppen, die die eklatanten Bildungsmissstände thematisieren, schwarze Kämpfer für die Legalisierung von Drogen. Unterhalb des Systems aus korrupten und antisozialen Institutionen hat sich eine Selbstor­ganisierung entwickelt, die die fatalen Kreisläufe aus Armut und Gewalt zu durchbrechen versucht.
Von dieser Selbstorganisierung führt kein direkter Weg zum Riot. Das zentrale Merkmal eines Aufstandes ist gerade seine Unvorhersehbarkeit, wenn man so will: seine Anti-Organisation. Aber es entsteht ein Milieu, in dem bereits anders gehandelt und gedacht wird, in dem die Leute neue Umgangsformen entwickeln und erproben können. Das ist übrigens eine Lehre aus dem so­genannten arabischen Frühling, die bei aller Trauer und allem Entsetzen über den »arabischen Herbst« nicht vergessen werden darf. Jugendkulturen, informelle Nachbarschaftskomitees und die Fußballszene haben für jene Aufstände eine überaus wichtige Rolle gespielt, weil sie nämlich diese geschützten Räume des subversiven Probehandelns geboten haben.
Marxisten dürften das eher mit Unbehagen registrieren: Der Aufstand, die Straßenschlacht, die spontane Konfrontation mit der Staatsmacht sind nur ein Derivat der eigentlichen Entscheidungsschlacht – und das ist der Streik, die Fabrikbesetzung. Berühmt ist die Absage des alten ­Engels an den Barrikadenkampf, weil der Fortschritt der Waffentechnologie die alten blanquistischen Taktiken des Volksaufstandes ad absurdum geführt habe: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die Gewehre, über die die Staatsmacht verfügte, bereits über große Distanzen treffsicher. Noch treffsicherer kann nur die Blockade der Produktionsstätten sein.
Aber wen oder was sollen die armen Leute von Baltimore bestreiken? Die klassischen amerikanischen Industriezentren wurden – auch als Reaktion auf die Unruhen und endemischen wilden Streiks der sechziger und frühen siebziger Jahre – systematisch ruiniert: durch Abwanderung der Industrie und Demontage des angeblich ineffektiven keynesianistischen Sozialwesens. Die Kommunen nahmen die Entstehung neuer Ghettos und einer neuen Segregation billigend in Kauf, denn diese Segregation war kein politischer Skandal mehr, sondern bloß noch ein ökonomischer Sachzwang. Die Bevölkerung ließ sich in Subgesellschaften weitgehend unsichtbar machen und von Zeit zu Zeit kulturindustriell romantisieren – vom Gangster Rap bis, tja, »The Wire«.
Der Riot ist der Versuch, diese Isolation und Verkapselung aufzubrechen. Die Gewalt, die bislang als selbstverschuldetes Problem verarmter Nachbarschaften und schwarzer Familien galt, in denen die Männer fehlen, weil sie im Knast sitzen, wird in die Mitte der Gesellschaft zurückgeschleudert. Jetzt muss sich jeder dazu verhalten. In der Regel freilich negativ. Blitzschnell hat sich in der Öffentlichkeit das Bild durchgesetzt, dass Kriminelle die Trauer über den Tod Freddie Grays für ihre Zwecke, sprich: Plünderungen, ausnutzten und die meisten Steinewerfer offensichtlich zu dumm seien, um ihre Interessen angemessen, sprich: politisch liberal, wahrzunehmen.

Diese Angemessenheit existiert nicht, gibt es doch für die Protestierenden in einer dermaßen abgekoppelten Subgesellschaft keinen Raum, um sich zu artikulieren. Die ritualisierte Denunziation des Riots zeigt die Konzeptlosigkeit der Staatsmacht: Die Aufständischen sollen wieder zurückgedrängt werden in ihre Welt aus Armut und Gewalt, sie sollen abermals stigmatisiert und kriminalisiert werden. Damit bekräftigen Medien und Politik bloß noch einmal den Grund, aus dem die Leute aus West-Baltimore logeschlagen haben.
Es wäre zu untersuchen, ob ein Zyklus kapitalistischer Herrschaft zu seinem Ende kommt. In den deindustrialisierten Regionen des Westens verkommen Streiks zu symbolischen Gesten, während die Wut der Abgehängten und Weggedrängten sich direkt gegen die verbliebenen Symbole der Macht wendet. Und diese Symbole materialisieren sich in der Infrastruktur eines öffentlichen Raums, der von Konsumzonen und Gated Communities durchzogen ist: An erster Stelle steht die Polizei.