Wachsende Proteste in Moldau

Moldau übt den Maidan

In der Republik Moldau haben Zehntausende gegen Korruption und die Politik der Regierung demonstriert. Dabei spielt auch der Konflikt um eine Annäherung an Russland oder die EU eine Rolle.

Ein zweiter Maidan nimmt am Rande von Europa möglicherweise gerade seinen Ausgang. In der zwischen Rumänien und der Ukraine gelegenen kleinen Republik Moldau wird gegen Korruption protestiert, die sich offenbar bis in höchste staatliche Stellen erstreckt. Revolutionär ist diese Massenbewegung keineswegs, allein das Mobilisierungspotential ist beeindruckend. In den vergangenen Jahren ist die Einwohnerzahl im ärmsten Land Europas stark gesunken. Zudem zeigen Statistiken, dass von den nur knapp drei Millionen Einwohnern etwa 600 000 Personen – also ganze 20 Prozent der Bevölkerung – derzeit im Ausland leben und arbeiten.
Umso beeindruckender stellen sich die beiden Demonstrationen dar, zu denen das bürgerliche Bündnis »Würde und Wahrheit« aufgerufen hatte. Am 5. April demonstrierten in Erinnerung an die Ausschreitungen nach den umstrittenen Parlamentswahlen vom April 2009 Tausende Menschen in der Hauptstadt Chişinău. Am 3. Mai versammelten sich etwa 40 000 Menschen, um gegen die Veruntreuung von umgerechnet fast 900 Millionen Euro zu demonstrieren. Die moldauische Zentralbank hatte im April festgestellt, dass die drei wichtigen Banken Banca de Economii, Banca Sociala und Unibank Kredite in jenem Umfang vergeben hatten, wobei nicht klar ist, wo das Geld letztlich geblieben ist.
Die Demonstrierenden forderten neben der Bekämpfung der Korruption im Land vor allem den Rücktritt der verantwortlichen Politiker und Reformen der staatlichen Institutionen. In der Bevölkerung besteht kein Zweifel, dass das Verschwinden einer Geldsumme dieser Größenordnung nicht ohne die Unterstützung von Staat und Regierung möglich gewesen wäre.

Der Korruptionsskandal ist nur der Höhepunkt einer seit Jahren anhaltenden Finanz- und Bankenkrise im Land. Im Januar hatte die Landeswährung Leu 34 Prozent verloren. Grund hierfür war ein von Russland verhängtes Importverbot für moldauischen Wein sowie ein starker Rückgang der Überweisungen aus dem Ausland wegen der schwierigen Arbeitsmarktsituation in den südeuropäischen Ländern und der Wirtschaftskrise in Russland. Auch die unklaren politischen Verhältnisse vor und nach den Parlamentswahlen vom November 2014 verschlimmerten die Situation in Moldau, da die ohnehin geringen Auslandskredite und -investitionen weiter zurückgingen.
Bereits 2009 machte die kleine Republik mit gewalttätigen Massenprotesten und einem brennenden Parlamentsgebäude auf sich aufmerksam. Während an diesen Unruhen in Folge von Vorwürfen der Wahlfälschung bei den Parlamentswahlen hauptsächlich Jugendliche und Studierende beteiligt waren, werden die derzeitigen Proteste vor allem von Menschen mittleren Alters getragen. Insbesondere die gebildete, städtische Bevölkerung beteiligt sich und erhebt neben politischen auch soziale Forderungen nach einer grundlegenden Verbesserung der Lebensbedingungen.
Auffällig häufig sind auf den Demonstrationen neben moldauischen Fahnen auch die der Europäischen Union zu sehen. Zu erklären sind diese Sympathiebekundungen vor allem mit der Hoffnung auf eine effektive Korruptionsbekämpfung. Wie in den meisten Ländern Osteuropas, in denen bis vor zehn Jahren noch große Euphorie in Hinblick auf die EU herrschte, schwindet aber auch hier das Vertrauen in Institutionen der EU und damit in ihre Effektivität bei der Vergabe von Geld und der Bekämpfung der Korruption. Lediglich Russland wird noch weniger Vertrauen in dieser Hinsicht entgegengebracht. Das Tragen von EU-Fahnen hat aber, wie auch in der Ukraine, weniger mit der Bereitschaft zur Annahme von Werten und den Verpflichtungen zu tun, die die EU ihren Mitgliedsstaaten auferlegt, als mit der Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung.
Ähnlichkeiten mit den Unruhen in der Ukraine 2013 lassen sich bedingt feststellen. Moldau ist, wie auch die Ukraine, hin- und hergerissen zwischen der Annäherung an Russland und die EU. Durch die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU im Juni 2014 hat Moldau einen Kurs eingeschlagen, der von Teilen der Bevölkerung nicht gewollt wird. Ähnlich wie in der Ukraine gibt es eine starke russischsprachige Minderheit. Bereits in den neunziger Jahren führte der Nationalitäten- und Sprachenkonflikt zu teils militärisch ausgefochtenen Kämpfen, die schließlich in der Abspaltung der heute de facto unabhängigen Republik Pridnestrowien/Transnistrien und des Autonomen Gebiets der Gagausen gipfelte. In diesen beiden Gebieten ist die Sympathie für Russland so groß, dass sich die dortige Bevölkerung im Zuge der Ukraine-Krise für den Anschluss an Russland aussprach.
Im restlichen Staatsgebiet ist die Bevölkerung gespalten. Vor allem die ländliche Bevölkerung ist prorussisch eingestellt, einerseits aus nostalgischer Verklärung der Sowjetzeit, andererseits aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen. Man schätzt, dass etwa ein Fünftel der moldauischen Bevölkerung im Ausland lebt und arbeitet, um die zu Hause gebliebenen Familienmitglieder zu ernähren. Während junge Frauen vor allem in Italien und Spanien Arbeit als Zimmermädchen und Putzfrau finden, arbeiten die Männer auf Baustellen in Russland. In vielen Dörfern hat die Emigration dazu geführt, dass Alte und Kinder weitgehend auf sich gestellt leben und kaum mehr Erwerbstätige im mittleren Alter anzutreffen sind. Da die Überweisungen der im Ausland Arbeitenden oft das einzige Einkommen der Familien darstellen, spielt der visafreie Zugang zu Russland beziehungsweise zur EU eine entscheidende Rolle für die Wahl bestimmter Parteien. Die Drohung Russlands, die Grenzen für Arbeitsmigranten zu schließen, führt so immer wieder zu einem Erstarken des Wählerpotentials der kommunistischen Parteien, die sich für eine Annäherung an Russland aussprechen. Die EU reagierte zuletzt im April 2014 mit der Einführung eines visafreien Zugangs zum EU-Raum, auch um die amtierende proeuropäische Regierungskoalition zu stärken.

Die junge, städtische und gebildete Schicht sieht hingegen in einer Öffnung zur EU mehr Potential für ihre persönliche Zukunft und die wirtschaft­liche Entwicklung des Landes. Die seit 2009 regierende proeuropäische Koalition konnte zwar auch bei den Wahlen vom November 2014 ihre Mehrheit verteidigen. Diese Wahl galt angesichts der Ukraine-Krise und der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens als richtungweisend bezüglich der Orientierung zur EU. Allerdings lehnte die Koalition eine Regierungsbeteiligung der liberalen Partei ab und regiert seitdem als Minderheitsregierung mit Unterstützung der prorussischen Kommunisten. Diese Zusammenarbeit führte zum Ende der Bemühungen um eine Annäherung an die EU und dürfte neben der Korruption einer der Hauptgründe für die große Beteiligung an den jüngsten Protesten sein.
In beiden Regierungsparteien, der Liberaldemokratischen Partei (PLDM) und der Demokratischen Partei (PDM), üben Oligarchen die Macht aus und setzen mittels Einflussnahme und Korruption ihre persönlichen Interessen durch. Vor allem der Vorsitzende der PLDM, Wlad Filat, und Wladimir Plahotniuc, der stellvertretende Vorsitzende der PDM, stehen im Ruf, politische Gegner und wirtschaftliche Konkurrenz durch Einflussnahme auf die Medien und die Korruptionsbekämpfungsstelle auszuschalten. Der Rücktritt der beiden war daher eine der Hauptforderungen auf der Demonstration vom 3. Mai.
Das Desinteresse der Parteiführungen, die Korruption zu bekämpfen, fand ihren deutlichsten Ausdruck im Misstrauensvotum gegen den Ministerpräsidenten Iurie Leancă (PLDM) im Februar dieses Jahres. Leancă, der in der Bevölkerung als einigermaßen integer galt, hatte 2012 begonnen, Reformen zu forcieren und Korruption auch in den oberen Ebenen zu bekämpfen. Sein Nachfolger Chiril Gaburici, der derselben Partei angehört, scheint parteiübergreifend genehmer.

Am Mittwoch vergangener Woche reagierte die Staatsanwaltschaft auf die Forderungen der Demonstrierenden und ließ den Geschäftsmann Ilan Shor für 30 Tage unter Hausarrest stellen; die Festnahme weiterer Personen wurde angekündigt. Shor werden dubiose Aktien- und Kreditgeschäfte vorgeworfen, mit denen er bedeutende Anteile der staatlichen Bank erwerben konnte. Auffällig ist, dass derzeit nur Shor zur Verantwortung gezogen wird. In dem am Mittwoch vergangener Woche zum Teil veröffentlichten Bericht der Firma Kroll, die das Verschwinden von immerhin fast 900 Millionen Euro untersuchen sollte, wird keine weitere Person namentlich genannt. Niemand glaubt jedoch daran, dass Shor einen derartigen Coup ohne die Mithilfe der politischen Führung und staatlicher Institutionen hätte tätigen können. Vielmehr vermuten Mitglieder des Bürgerforums »Würde und Wahrheit«, dass der Bericht in erster Linie erstellt wurde, um die Regierungsparteien und deren Vorsitzende Filat und Plahotniuc vor Kritik zu schützen. Unter den Demons­trierenden gibt es keinerlei Zweifel an einer Beteiligung und Bereicherung dieser beiden Politiker.
Der Massenprotest konnte mit der einsetzenden Ermittlung und der Teilveröffentlichung des Untersuchungsberichts zumindest erste Erfolge erzielen. Daher bleibt abzuwarten, ob die angekündigte Demonstration am kommenden Wochenende erneut Zehntausende Moldauerinnen und Moldauer auf die Straße bringt. Mehrfach wurde auf den Kundgebungen mit dem Errichten von Protest-zeltstädten rund um das Regierungsgebäude gedroht, sollten sich die Regierung und die staatlichen Stellen nicht der bestehenden Probleme annehmen. Die Vorsitzenden der beiden Regierungsparteien nehmen die Rücktrittsforderungen ernst und fürchten bereits eine Wiederholung der gewalttätigen Proteste von 2009.