Die spanische Protestbewegung feiert ihren Geburtstag

Von den Plätzen in die Parlamente

Vier Jahre nach Aufkommen der »15 M«-Bewegung stehen in Spanien dieses Jahr Kommunal-, Regional- und Parlamentswahlen an. Ein Überblick über die Auswirkungen der Austeritätspolitik und die Aktivitäten der Protestbewegungen der vergangenen Jahre.

Der Null-Kilometerstein auf der Puerta del Sol, dem zentralen Platz von Madrid, zeigt an, dass sich von diesem Punkt aus die sechs Hauptnationalstraßen des Landes sternförmig über die spanische Halbinsel erstrecken. Läuft man heute über die Puerta del Sol, deutet nichts mehr darauf hin, dass dort vor vier Jahren mehr als 10 000 Menschen zusammenkamen und den Platz in Beschlag nahmen. Am 15. Mai 2011 besetzte die Bewegung der indignados, auch »15 M« genannt, den Platz, weitere Besetzungen und Proteste folgten in vielen anderen Städten des Landes.
Wegen der heterogenen Zusammensetzung der Bewegung ließen sich eindeutige inhaltliche Forderungen zunächst nur schwer ausmachen. Einig war man sich lediglich in der Empörung über die schlechte wirtschaftliche Lage des Landes, die grassierende Korruption in der politischen Sphäre sowie in einer recht diffusen Forderung nach »echter Demokratie«.
Nur manchmal sieht man an der Puerta del Sol heute noch kleinere öffentliche »15 M«-Asambleas, allerdings gehen sie im alltäglichen Gewusel von Passanten und Selfie-Sticks vor sich hertragenden Touristen allzu leicht unter.

»Der 15. Mai 2011 ist für viele Leute eine Initialzündung gewesen, um politisch aktiv zu werden und das eigene Schicksal wieder in die Hand zu nehmen«, erzählt Meri, Sozialarbeiterin in einer städtischen Einrichtung in Madrid und Mitglied der Initiative »Intervención Social en Lucha«, die im Nachgang der »15 M«-Proteste gegründet wurde, um Beschäftigte im sozialen Bereich miteinander zu vernetzen. Da die traditionellen Gewerkschaften in diesem Bereich bisher eher schwach vertreten waren, schufen die Beschäftigten ihre eigene Plattform, um sich gegenseitig über Arbeitsverhältnisse und -rechte auszutauschen sowie Proteste gegen die Kürzungen zu organisieren.
Meri erinnert an die damalige aufgeheizte Stimmung und daran, dass der Anlass für die Proteste die Wirtschafts- und Sozialpolitik der damaligen sozialdemokratischen Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero gewesen sei. Die damals beschlossene Heraufsetzung des Renten­alters, die Kürzung der Staatsausgaben um jährlich 15 Milliarden Euro sowie die auf Druck von Deutschland und Frankreich initiierte Schuldenbremse seien »lediglich ein Vorgeschmack auf das gewesen, was in den folgenden Jahren gängige politische Praxis werden sollte«, sagt Meri mit Blick auf die Parlamentswahlen vom 20. November 2011, die der konservative Partido Popular unter Führung von Mariano Rajoy mit einer absoluten Mehrheit gewann.
Konnte die Abwahl Zapateros noch als eine Ablehnung der Sparpolitik verstanden werden, setzte die neue Regierung, unbeeindruckt davon, genau diese Politik fort. Neue Sparziele wurden ausgegeben: Kürzung der Staatsausgaben bis 2014 um etwa 150 Milliarden Euro, Privatisierung des Gesundheitswesens, Anhebung der Mehrwertsteuer sowie eine umfangreiche Arbeitsmarktreform. Diese ermöglichte es Unternehmen fortan, durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes die Arbeitszeiten relativ umstandslos auszudehnen. Durch Lockerung des Kündigungsschutzes wurde betriebsbedingten Kündigungen der Weg geebnet, bei gleichzeitiger Senkung der Abfindungszahlungen für ungerechtfertigte Kündigungen um fast 30 Prozent. Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften wurde durch Vorrang der betrieblichen vor betriebsübergreifenden Tarifvereinbarungen erheblich geschwächt.
Die neuen Kürzungen waren der Auslöser für die großen gesellschaftlichen Mobilisierungen. Ganz gleich ob Zwangsräumungen, Kürzungen im Gesundheitswesen oder im Bildungsbereich, in sämtlichen Teilbereichen existierten gut organisierte Strukturen, die fortan begannen, sich gegen die neuen Maßnahmen zur Wehr zu setzen. Doch weder die beiden großen Generalstreiks im Frühjahr und Herbst 2012 noch die massenhafte Umzingelung des spanischen Parlaments im September desselben Jahres konnten die neue Regierung beeindrucken.
Als im Sommer 2012 über mehrere Wochen hinweg Hunderte Bergarbeiter aus dem Norden des Landes aus Protest gegen die fast vollständige Kürzung der Kohlesubventionen in einen unbefristeten Streik traten – und dies mit brennenden Barrikaden und blockierten Zugstrecken nicht unbedingt zimperlich –, schickte man aus der Hauptstadt kurzerhand zusätzliche Polizeieinheiten, um die aufgebrachten Bergarbeiter mittels Einsatzes von Tränengas und Gummigeschossen wieder zur Vernunft zu bringen.
»Nach einigen Jahren ist eine gewisse Müdigkeit der verschiedenen Protestbewegungen schon spürbar«, stellt Meri fest und spielt dabei auch auf ihre eigene Initiative an, die in den vergangenen Jahren an Mitgliedern verloren hat. Sie bleibt trotzdem optimistisch. »Von einer allgemeinen Resignation der Protestierenden kann jedoch trotzdem keine Rede sein«, sagt sie.
Dies liegt auch daran, dass die sozialen Bewegungen hin und wieder Erfolge erzielen. Nicht zuletzt aufgrund des Drucks auf der Straße sah sich die Regierung erst kürzlich dazu gezwungen, von einer Verschärfung des Abtreibungsgesetzes abzusehen. Auch der Plattform der Hypothekenbetroffenen (PAH) gelingt es immer wieder, Zwangsräumungen zu verhindern oder sogar neue Häuser zu besetzen, um sich aktiv Wohnraum wieder­anzueignen. »Angesichts der fatalen sozialen Lage sind diese Teilerfolge enorm wichtig für das Selbstbewusstsein der Protestbewegung«, fährt Meri fort.

Als eindrucksvolles Beispiel für die Mobilisierungsfähigkeit und den großen Unmut über die sich verschärfende wirtschaftliche und soziale Situation nennt Nico, ein Kollege von Meri, den »Marsch der Würde« vom 22. März 2014, zu dem Basisgewerkschaften und linke Gruppen aufgerufen hatten. Enden Demonstrationen in der Hauptstadt traditionell auf der Puerta del Sol, war dies an jenem Tag unmöglich, sodass die bis zu zwei Millionen Teilnehmenden, von denen sich viele bereits mehrere Wochen im Voraus zu Fuß in Bewegung gesetzt hatten, um gegen die Austeritäts- und Verarmungspolitik der Regierung zu protestieren, die Straßen Madrids fluteten.
Nach den Wahlen zum Europaparlament betrat dann mit Podemos eine neue politische Kraft, die aus der »15 M«-Bewegung hervorgegangen war, die politische Bühne und sorgte mit der nötigen Portion Selbstbewusstsein und einer deutlichen Kampfansage an das Zwei-Parteien-System sogleich für Furore.
»Die Proteste der vergangenen Jahre, so massiv sie zum Teil auch gewesen sind, haben trotz allem deutlich gemacht, dass sie insgesamt nur eine begrenzte Wirkung entfalten konnten. Deswegen erscheint vielen Leuten mittlerweile die Ausweitung des Kampfes auch auf den Bereich der Parlamente als sinnvoll«, sagt Nico über den Erfolg von Podemos. Zum anderen sei der Umgang von Podemos mit den sozialen Bewegungen ein völlig anderer als ihn ältere Parteistrukturen wie die Izquierda Unida bisher pflegten, meint Nico: »Pablo Iglesias, Teresa Rodríguez, Íñigo Errejón und viele weitere kommen selbst aus diesen Strukturen und haben begriffen, dass man die sozialen Bewegungen nicht länger nur für die eigene politische Partei instrumentalisieren kann, sondern dass diese vielmehr selbst die Basis einer neuen Partei darstellen müssen.«
In wenigen Monaten stehen die Parlamentswahlen, Ende des Monats die Regional- und Kommunalwahlen an, zu denen Podemos auf regionaler und nationaler Ebene als eigene Liste und auf kommunaler Ebene zusammen mit anderen linken Wahlvereinigungen und Basisinitiativen antritt.
Wie schwierig zuverlässige Vorhersagen über den Ausgang der anstehenden Wahlen sind, zeigt ein Blick auf die im Monatsrhythmus schwankenden Umfrageergebnisse. Ende Januar, als es auf der Puerta del Sol kein Vor und Zurück mehr gab, weil mehr als 100 000 Menschen, getrieben von der Vorstellung eines bevorstehenden politischen Wandels und beflügelt vom Wahlsieg Syrizas in Griechenland, dem Aufruf von Podemos zur »Marcha del Cambio« gefolgt waren, wurde die Partei mit Umfragewerten von knapp 28 Prozent schon fast als Wahlsieger betrachtet.
Aktuelle Umfragen ergeben jedoch ein anderes Bild. Der regierende PP, Podemos, der sozialdemokratische PSOE und die Partei »Ciudadanos« (Bürger) – eine rechtsliberale Partei, die sich sowohl gegen Autonomiebestrebungen der spanischen Regionen und die herrschenden Austeritätsmaßnahmen sowie für eine Verschärfung der Migrationspolitik ausspricht –, liegen derzeit mit einem Unterschied von zwei bis drei Prozentpunkten allesamt bei knapp 20 Prozent.
»Dass Umfrageergebnisse so schwanken«, meint Meri, »liegt an der Unentschlossenheit und an der geringen inhaltlichen Positionierung weiter Teile der Bevölkerung.« Darauf reagieren sämtliche Parteien mit populistischer Rhetorik. Als Beispiel nennt sie den Wahlkampf des PP. So rückte zum Beispiel Esperanza Aguirre, Vorsitzende ihrer Partei in der Autonomen Region Madrid und Kandidatin für das Bürgermeisteramt der Hauptstadt, vergangenen Sommer in einem Interview Pablo Iglesias, den Generalsekretär von Podemos, in die Nähe Fidel Castros und der baskischen Terrororganisation ETA. »Dass das ziemlicher Blödsinn ist, ist offensichtlich, aber Esperanza Aguirre erfreut sich, gerade in Madrid, einer unheimlich großen Popularität«, weswegen Meri ihre Kandidatur auch als geschickten Schachzug des PP bezeichnet, da ihr Sieg und damit das Verbleiben des Bürgermeisteramtes in der Hand der Konservativen eine bedeutende Signalwirkung für die Parlamentswahlen hätte.

Wirft man einen Blick auf die offiziellen Statistiken mit einer Arbeitslosenquote von knapp 24 Prozent, einer Jugendarbeitslosigkeit von nahezu 54 Prozent, einem Anstieg der Staatsschulden auf 1,03 Billionen Euro – etwa 98 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – sowie der Tatsache, dass 2014 ein Fünftel der spanischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebte, wird deutlich, dass dem PP im Wahlkampf nicht viel mehr übrigbleibt als die Verleumdung des politischen Gegners und die Warnung vor der vermeintlichen »roten Gefahr«. Denn überzeugend klang das von Ministerpräsident Rajoy bei seiner Rede zur Lage der Nation im Februar stolz prognostizierte Wirtschaftswachstum von 2,3 Prozent nicht gerade, mit welchem er die Krise des Landes kurzerhand für beendet erklären wollte. Begleitet von dem Nachsatz: »Wir sind erst dann zufrieden, wenn alle etwas von der wirtschaftlichen Erholung haben. Wir werden nicht ruhen, bis wir das erreicht haben«, klang dies eher nach einer Drohung.
Dass sich die wahre Bedrohung der Staatsräson bekanntlich am besten weit links finden lässt, weiß die konservative Regierung selbst nur zu gut und versteht es dementsprechend auch, ihr Klientel mit den entsprechenden innenpolitischen Maßnahmen und Gesetzesinitiativen hinter sich zu scharen.
In diesem Zusammenhang betrachten Meri und Nico auch die großangelegten Anti-Terror-Operationen »Pandora« und »Piñata« gegen die anarchistische Bewegung in den beiden größten Städten des Landes, Barcelona und Madrid, bereits als Teil des Wahlkampfs der Regierung. Dabei wurden in den vergangenen Monaten mehrere Personen unter der Beschuldigung, Mitglieder einer kriminellen Organisation mit terroristischen Zielen zu sein, festgenommen, von denen derzeit fünf noch in Untersuchungshaft sitzen. Nachdem Rajoy mit der weitgehenden Rücknahme der Verschärfung des Abtreibungsgesetzes im vergangenen September eine herbe – auch innerparteiliche – Niederlage hat einstecken müssen, war ein entschlossenes Durchgreifen der Repressionsbehörden nur wenige Monate später wiederum ein deutliches Zeichen der Stärke. Dass das Thema der inneren Sicherheit für die derzeitige Regierung hohen Stellenwert besitzt, verdeutlicht auch die erschreckend hohe Polizeipräsenz in der gesamten Hauptstadt.
Nicht nur, dass vor vielen repräsentativen Gebäuden, wie zum Beispiel vor den berühmten Kunstmuseen »Museo del Prado« oder »Reina Sofía«, ständig schwer bewaffnete Polizeieinheiten stehen; auch während des Gesprächs mit Meri und Nico auf einem öffentlichen Platz im alternativen und vorwiegend von Migranten bewohnten Stadtteil Lavapiés fahren im auffällig dichten Takt Polizeistreifen vorbei.
Zum selben Konzept passt das »Gesetz zur Sicherheit der Bürger«, mit dem sich die Regierung ein passendes Instrumentarium geschaffen hat, um zukünftigen Protesten mit massiven Repressalien begegnen zu können. Die damit einhergehende enorme Einschränkung des Versammlungsrechts umfasst etwa das Verbot unangemeldeter Demonstrationen, der Dokumentation von Polizeigewalt oder des Protests vor sogenannter kritischer Infrastruktur (wie beispielsweise dem Parlament) sowie von Demonstrationen an Abenden vor Wahlen sowie am Tag der Wahlen selbst; Zuwiderhandlungen werden mit absurd hohen Bußgeldern belegt.

Abgesehen von der endgültigen Ablösung des bisherigen Zwei-Parteien-Systems bleibt es fraglich, wie sich die politische Landschaft in Spanien nach den Wahlen ändern wird. Von einer großen Koalition nach deutschem Vorbild bis zu einem Bündnis zwischen Podemos und Cuidadanos scheint derzeit alles möglich, auch wenn die beiden letztgenannten Parteien die größten Übereinstimmungen einzig in ihrer gemeinsamen Ablehnung der Austeritätspolitik und der Bekämpfung der Korruption haben.
Erst Ende April gab zudem Juan Carlos Monedero, einer der Mitbegründer von Podemos, seinen Rücktritt aus der Führungsebene bekannt. Dabei äußerte er auch deutliche Kritik an der Entwicklung der Partei in den vergangenen Monaten: Um für breite Teile der Gesellschaft wählbar zu sein, würde sie ihre Positionen im Wahlkampf viel zu stark entschärfen. Monedero mahnte, die Partei solle weniger Energie darauf verwenden, ein paar Minuten Sendezeit im Fernsehen zu ergattern und sich stattdessen wieder vermehrt ihrer Basis zuwenden. Immerhin sei die basisdemokratische Organisations- und Partizipationsstruktur ursprünglich ihr Hauptmerkmal den etablierten Parteien gegenüber gewesen.
Ungeachtet dessen sind Meri und Nico beide der Meinung, dass sich konkrete Aussagen ohnehin erst nach den Regional- und Kommunalwahlen treffen lassen. »Spätestens seit den Protesten am 15. Mai 2011 befindet sich das Land in einem unaufhaltsamen sozialen und politischen Transformationsprozess«, fügt Nico abschließend hinzu. Dazu gehöre auch, dass die sozialen Bewegungen ihre politische Macht in die Parlamente tragen. »Und wenn es diesen Herbst nicht klappen sollte, dann aber spätestens in vier Jahren«, sagt er mit einem Augenzwinkern und lacht. Da sich an den von der »15 M«-Bewegung vor vier Jahren angeprangerten sozialen Missständen, der grassierenden Korruption und erheblichen Demokratiedefiziten in den vergangenen Jahren wenig geändert hat, bestehen auch weiterhin genügend Gründe dafür, den Protest auf der Straße weiterzuführen. So haben am 1. Mai die Organisatoren des »Marsches für die Würde« auch bereits zu einem weiteren Generalstreik für den Herbst aufgerufen – sichtlich unbeeindruckt sowohl von dem zum 1. Juli in Kraft tretenden »Gesetz zur Sicherheit der Bürger« als auch angesichts des ungewissen Ausgangs der anstehenden Wahlen.