Atomdebatte in Frankreich

Unter Spannung

In Frankreich diskutiert das Parlament, welchen Anteil der Atomkraft an der Energieversorgung in den kommenden Jahren haben soll. Viele Atomkraftwerke sind veraltet, doch auch die hohe Arbeitsbelastung der Beschäftigten erhöht das Unfallrisiko.

Muss Frankreichs gigantisch überdimensionierte Atomindustrie um ihre Zukunft bangen? Zumindest der führende Nuklearkonzern des Landes, Areva, dürfte schweren Zeiten entgegengehen, er könnte zerlegt werden. Am Dienstag wurde in der französischen Nationalversammlung die Debatte über das »Gesetz zum Übergang der Energieversorgung« wiederaufgenommen. Der Entwurf war bereits im Oktober vorigen Jahres in der Nationalversammlung und Anfang März dieses Jahres im Senat, dem Oberhaus des französischen Parlaments, in erster Lesung verabschiedet worden. Doch zwischen den Textfassungen, die in beiden Kammern angenommen wurden, besteht ein wesentlicher Unterschied.
Die Fassung der Nationalversammlung, die im Falle dauerhafter Uneinigkeit zwischen beiden Kammern Gültigkeit erlangt, enthielt die Zielsetzung, bis 2025 den Anteil des Atomstroms an der französischen Elektrizitätsversorgung von derzeit rund 75 auf 50 Prozent zu reduzieren. Dies entspricht einem vor drei Jahren gegebenen Wahlkampfversprechen von Präsident François Hollande. Der Senat dagegen ist seit der Teilwahl vom vorigen September konservativ dominiert. Anlässlich der parlamentarischen Beratung strich er das Ziel einer Reduzierung des Atomstromanteils innerhalb der kommenden zehn Jahre einfach aus dem Gesetzestext. Die Mehrheit in der Nationalversammlung möchte die ursprüngliche Vorgabe wieder aufnehmen.

Bislang ist in Sachen Atomausstieg in der laufenden Legislaturperiode noch nicht viel geschehen. Zumindest ein älteres und besonders umstrittenes Atomkraftwerk, der seit 1978 im kommerziellen Betrieb laufende Reaktor im elsässischen Fessenheim, sollte den ursprünglichen Regierungsplänen zufolge bis 2016 stillgelegt werden. Nun ist davon die Rede, dass es bis zum Ende der Legislaturperiode dauern könnte, das wäre erst im Jahr darauf. Alle lokalen Gewerkschaften führen vehemente Abwehrkämpfe gegen diese Still­legung, die sie als finsteres Projekt zur Vernichtung von Arbeitsplätzen darstellen. Was natürlich nicht ganz stimmt, denn auch ein stillgelegtes AKW muss überwacht werden, und sowohl der Umstieg auf eine andere Energieversorgung als auch die Lagerung der atomaren Abfälle – eine bislang ungelöste Frage – werden viel menschliche Arbeit erfordern.
Die bereits marode Atomanlage von Fessenheim ist zudem seit dem 20. April Gegenstand einer Strafanzeige. Am 28. Februar brach eine Wasserleitung und 100 Kubikmeter Wasserdampf traten in den Maschinenraum des Kraftwerks ein. Die Betreiber meleten den Unfall nicht den zuständigen Aufsichtsbehörden, wozu sie gesetzlich verpflichtet gewesen wären, sondern versuchten sich zunächst an notdürftigen Reparaturen. Erst nach deren Abschluss am 3. März unterrichteten sie die Ämter. Doch unter den Augen von Inspektoren der nuklearen Aufsichtsbehörde ASN, die am 5. März an Ort und Stelle kamen, riss die reparierte Wasserleitung erneut, dieses Mal vollständig. Einige Wochen später ­erstatteten mehrere Bürgerinitiativen zusammen Anzeige.
Auch sonst sieht es für die Entscheidungsträger der französischen Nuklearindustrie düster aus. Bei einem Kolloquium am 14. und 15. April sollte ein Untersuchungsbericht der Agentur für Umweltfragen und Energieeinsparung (Ademe) über künftige Szenarien der Energieversorgung vorgelegt werden. Aus politischen Gründen wurde dessen Vorlage verschoben, denn die Ergebnisse der Forschergruppe stellen die Zukunft der Atomenergie klar in Frage. Die Internetzeitung Mediapart veröffentlichte ihn schließlich. Dem Bericht zufolge wären die Kosten der Elektrizitätserzeugung in Frankreich im Jahr 2050 bei der Verwendung von 100 Prozent erneuerbarer Energie genauso hoch wie beim offiziell vorgesehenen Szenario mit der Verwendung von 50 Prozent Atomstrom.
Zwar wären die Preise für Elektrizität dann im Vergleich zu den heutigen um rund 30 Prozent höher, doch dies wäre in beiden Szenarien der Fall, mit oder ohne Atomausstieg. Denn auch eine Beibehaltung der Nuklearenergie wäre auf keinen Fall zum Nulltarif gegenüber den heutigen Erzeugerkosten zu haben. Zwischen 2019 und 2025 wird die Hälfte des französischen Atomparks an die Vierzigjahresgrenze kommen, die ursprünglich vorgesehene Höchstdauer für die Nutzung der Reaktoren. In Frankreich gibt es 125 Standorte inklusive Forschungsreaktoren und 59 zur kommerziellen Stromerzeugung genutzte Reaktorblöcke, die zu 19 AKWs zusammengeschlossen sind. Dass die ASN einen Weiterbetrieb über diese Altersgrenze hinaus erlaubt, gilt keineswegs als ­sicher. Wenn überhaupt, dann wohl nur mit teuren Nachrüstungen. Der Bericht kommt ferner zu der Schlussfolgerung, erneuerbare Energiequellen könnten bis 2050 insgesamt dreimal so viel Strom erzeugen wie voraussichtlich benötigt wird, wobei 14 Prozent Einsparungspotential zugrunde gelegt werden.

Am 15. April wurden zudem schwere Baumängel am zukünftigen Europäischen Druckwasser­reaktor (EPR) im normannischen Flamanville bekannt. Weltweit sind derzeit vier erste Serientypen dieser »vierten Reaktorgeneration« in Bau, die in einigen Jahren die bestehenden Atommeiler ersetzen soll. Die drei anderen sind jener im finnischen Olkiluoto sowie die Reaktorblöcke Taishan-I und Taishan-II in China. Doch der Bau in Flamanville, der ursprünglich die neue Serie von Atomkraftwerken einweihen sollte, steckt bereits seit Jahren in einer schweren Krise. So musste der ursprüngliche Plan aufgegeben werden, im Reaktor auch Brennstäbe aus Uran-Plutonium-Mischoxid (MOX) einzusetzen, die als sehr gefährlich gelten. 2013 kam es zu mehreren Arbeitsunfällen mit tödlichem Ausgang, was dazu führte, dass die Art der Arbeitsorganisation – getragen von mehreren Subunternehmen und Auftragnehmern, die Arbeitskräfte zu Billiglöhnen einstellten – in Frage gestellt wurde. Auf den Prüfstand kamen längst auch die voraussichtlichen Kosten, ursprünglich 3,3 Milliarden Euro, die auf mittlerweile 8,5 bis über neun Milliarden Euro geschätzt werden.
Die Einweihung des Reaktors war zunächst für 2012 geplant, bereits vor ein paar Monaten war dann von 2017 die Rede. Nun muss sie um mindestens ein weiteres Jahr verschoben werden, sofern sie überhaupt stattfinden kann. Denn Mitte April wurde bekannt, dass der Reaktordruckbehälter, der den etwa fünf mal zwölf Meter großen Kern des Atommeilers ausmacht und um den herum die gesamte Anlage konstruiert ist, gefährliche Mängel aufweist. Wegen des Kohlenstoffgehalts des verwendeten Spezialstahls, der höher als erwartet ausfällt, weist die Legierung eine unzureichende Reißfestigkeit auf. Dies hatten Tests ergeben. Es besteht die Gefahr eines schweren Nuklearunfalls, wenn der Reaktorkern schnell abgekühlt werden muss. In Finnland hat sich das vorgesehene Bauende bereits um mindestens fünf Jahre verzögert und der voraussichtliche Preis bisher auf acht Milliarden Euro verdoppelt.

Den Spezialstahl hatte der auf Reaktorbau, Brennstofferzeugung und Atommüllverarbeitung ­spezialisierte Konzern Areva im ostfranzösischen Creusot produziert. Die Herstellungsprobleme lassen vermuten, dass die Schwierigkeiten des Atomkonzerns, an dem der französische Staat 87 Prozent der Aktienanteile hält, sich noch verschärfen werden. Im vergangenen Jahr machte er bereits 4,5 Milliarden Euro Verlust. Seit März wird darüber spekuliert, dass die Firma in verschiedene Sparten aufgetrennt werden könnte. Unter der Ägide des französischen Staats könnte etwa der Bereich des Anlagenbaus dem AKW-Betreiber und Stromversorger Electricité de France (EDF) zugeschlagen werden, einem früheren Staatsunternehmen, das seit 2004 teilpri­vatisiert wurde. Dies wäre ein Novum, denn dadurch würde erstmals ein Kunde der Energieerzeuger selbst den Anlagenbau übernehmen. Zugleich kündigte Areva Anfang Mai den Abbau von 5 000 bis 6 000 Arbeitsplätzen an, darunter 3 000 bis 4 000 in Frankreich.
Probleme für die abhängig Beschäftigten gibt es auch bei EDF. Der Betrieb eines AKW ist eine personalintensive Angelegenheit, doch ist EDF darum bemüht, Personalkosten zu drücken. Die Gewerbeaufsicht – die in Atomanlagen von der Aufsichtsbehörde ASN übernommen wird – bemängelte 2012 große Überschreitungen der zulässigen Arbeitszeiten. Im AKW von Fessenheim etwa, so lautete ihr Ergebnis, arbeiteten über 50 Prozent der Beschäftigten länger als 48 Stunden pro Woche. Im AKW Dampierre fanden die ­Inspektoren einen Beschäftigten, der mehrere Wochen hintereinander 80,5 bis 92,5 Wochenstunden gearbeitet hatte. Aus Sicht der Behörde bedroht dies erheblich die Anlagensicherheit. Bei zwei von drei schweren Nuklearunfällen der vergangenen Jahrzehnte, in Three Mile Island in den USA und im sowjetischen Tschernobyl, gehörten Überarbeitung und Übermüdung von Beschäftigten zu den Ursachen.
Doch die Pläne von EDF verschärfen dieses Problem. Wegen der in naher Zukunft notwendigen Ersetzung der alten AKW-Generation soll die Arbeitszeit von Tausenden Lohnabhängigen verlängert werden. Beschäftigte mit dem Status höherer Angestellte – das sind bei der EDF 26 000 von insgesamt 62 000 Mitarbeitern – sollen künftig unter die Regelung der »Alle-Stunden-Pauschale« fallen. Dieser Mechanismus im französischen Arbeitsrecht sieht vor, dass alle geleisteten Arbeitsstunden als mit dem Lohn automatisch abgerechnet gelten. Überstunden werden dann nicht mehr aufgeschrieben und berechnet. Die linke Basisgewerkschaft SUD Energie spricht von einem Vorhaben, das sowohl aus Sicht der Gesundheit am Arbeitsplatz als auch der Reaktorsicherheit unverantwortlich sei.