Rocko Schamonis neues Album »Die Vergessenen«

Perlen für den Markt des Schwachsinns

Rocko Schamoni fordert eine Qualitätsoffensive im Pop. Für sein Album »Die Vergessenen« hat der Musiker verschollene Songs der deutschen Musikgeschichte neu eingespielt.

Ein Lied aus dem Radio hat ihm einst die Augen geöffnet: »Ich war fünfzehn, und in meiner Lieblingssendung ›Musik für junge Leute‹ spielten sie ›Was kostet die Welt‹ von F.S.K.«, erzählt Rocko Schamoni beim Gespräch in Hamburg. »Ein Song, der radikal subjektiv von Leben, Begegnungen und Sichtweisen erzählt, der eine Größe hat und zugleich eine Kleinheit, das hat mich komplett umgehauen. Durch ihn habe ich begriffen, wozu Musik in der Lage ist, was alles geht. Er wurde für mich zu einem wichtigen Lebensbegleiter.« Kein Wunder also, dass »Was kostet die Welt« auch in die Auswahl für sein neues Album »Die Vergessenen« gekommen ist. Dafür hat Schamoni in Vergessenheit geratene oder wenig bekannte Perlen der deutschen Popgeschichte mit einem 16köpfigen Orchester neu eingespielt. Neben dem Song von F.S.K. singt Schamoni auf dem gelungenen Werk unter anderem Stücke von Saal 2, Ton Steine Scherben, den Lassie Singers und Manfred Krug.
Es ist das erste Schamoni-Album seit acht Jahren. Der Künstler hatte mit der Veröffentlichung von Musik eigentlich abgeschlossen und setzte seine Schwerpunkte in den vergangenen Jahren auf das Schreiben von Romanen (»Fünf Löcher im Himmel«) und humoristische Höhenflüge mit seinen Kollegen von Studio Braun (»Fraktus«). Und so sollte »Die Vergessenen« zunächst auch nur ein kleines Liebhaberprojekt sein. Vor knapp zwei Jahren wurde Schamoni gefragt, ob er Lust habe, einen musikalischen Abend im Rahmen der Ruhrfestspiele zu veranstalten. Da er immer schon mal mit einem Orchester auftreten wollte, nutzte er die Gelegenheit – und bekam irgendwann mitgeteilt, dass sein Beitrag aus dem Festivalprogramm gestrichen worden war. Bis heute kenne er die genauen Gründe dafür nicht, sagt er. Parallel hatte er aber schon eine Crowdfunding-Kampagne für die Produktion eines Albums gestartet, führte diese weiter, und mit knapp 42 000 Euro kam dabei ausreichend Geld für die kostspieligen Studio-Aufnahmen mit der Großbesetzung zusammen. Das Orchester Mirage wurde eigens dafür zusammengestellt. Es besteht aus einer klassischen Bandbesetzung plus Percussions, Blechbläsern und Streichern.
»Bei der Auswahl der Songs habe ich über Monate ernsthaft gewühlt und mich mit Leuten ausgetauscht, die sich richtig gut auskennen«, erzählt Schamoni. »Es waren bestimmt an die 1 000 Songs in der Diskussion. Die Entscheidung für genau diese Stücke war dann komplett subjektiv, ich habe keinen Kriterienkatalog erstellt oder so etwas. Es ging einfach darum, die meiner Meinung nach tollsten verschollenen Tracks auszugraben. Das hätten aber auch noch locker 150 weitere sein können.« Die Auswahl ist nicht allzu kurios und absonderlich geworden, Musikinteressierte dürften viele der Titel kennen. Ihre Interpretationen hätten aufgrund der Kombination aus stark persönlicher Auswahl und Orchesterinstrumentierung unangenehm bedeutungsschwanger, schwer verdaulich und allzu nostalgisch ausfallen können, das ist aber nicht passiert. Schamoni und das Orchester Mirage musealisieren die Stücke nicht, machen keine Heiligtümer aus ihnen, setzen Pathos wohldosiert ein. Sie heben die Lieder gekonnt auf eine neue Ebene, wahren dabei aber immer den Charme und den Charakter der ursprünglichen Versionen. Das alles ist sehr inspirierend und animiert zur Beschäftigung mit den Originalen. Gleichwohl ist »Die Vergessenen« kein sommerlich-leichtes Fingerschnips-Album geworden. Der Grundton ist ernst, ein bisschen melancholisch, sehnsuchtsvoll und manchmal auch traurig. Dass Schamoni und der an der Produktion beteiligte Dirigent und Arrangeur Sebastian Hoffmann große Filmmusikfans sind, ist manchen flächigen Arrangements deutlich anzuhören.
Schnell beginnt bei so einem Projekt die beliebte Diskussion: Warum bleiben überhaupt so viele großartige Songs unentdeckt? Warum kann man beim Blick auf die Charts ob des dort vertretenen Grauens meist nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen? Die Gründe dafür sind wahrscheinlich komplex, Schamoni identifiziert eine Hauptquelle des Übels: »Die Radiokultur hierzulande hat vieles kaputtgemacht. Es gibt löbliche Ausnahmen, aber die meisten Radiomacher haben Angst, ihre Hörer zu verprellen. Deshalb läuft auf den Mainstreamsendern, die in den Autos und an den Arbeitsplätzen gehört werden, überall derselbe glattgebügelte Mist. Das scheint mir vor allem im Norden ein Problem zu sein, hier hat der NDR seinen Bildungsauftrag längst aufgegeben. Da läuft wirklich nichts, was ein bisschen andersartig ist. Höchstens mitten in der Nacht, wenn die normalen Leute nicht mehr Radio hören. Das ist hier ein monopolisierter Markt des Schwachsinns.« Und er fügt hinzu: »Wenn es nach mir ginge, müssten alle Sender verpflichtet werden, pro Stunde fünf bis zehn Minuten Musik zu spielen, die irgendwie anders ist, die nicht nach marktdienlichen Kriterien funktioniert. Wie man auf die Titel kommt, die da gespielt werden, wäre noch zu klären. Aber man müsste das durchsetzen, um der breiten Masse ein Bewusstsein dafür zu verschaffen, was es noch alles gibt. Das wissen die meisten gar nicht. Es gibt eine Mauer, hinter der sich eine ganze Kulturwelt befindet, und die Menschen stehen vor dieser Mauer und schauen auf die schreckliche Plakatierung, die sich darauf befindet.« Es könnte natürlich sein, dass es die Masse gar nicht interessiert, was sich hinter der Mauer befindet, eine Diskussion über die musikalische Monokultur schadet aber bestimmt nicht. Dass sie etwas bringt, glaubt Schamoni allerdings nicht: »Ich habe keine Hoffnung auf Veränderung, wollte das aber mal gesagt haben.«
Ein bisschen könnten Schamonis Überlegungen in Kombination mit seinem Rückgriff auf Liedgut aus Deutschland an die reaktionäre Forderung nach einer Radioquote für deutsche Produktionen erinnern, die alle paar Jahre von Musikern wie Heinz Rudolf Kunze sowie deutschtümelnden Politikern aufgebracht wird. Aber damit will Schamoni nichts zu tun haben. »Ich habe mich nie für die Deutschquote eingesetzt und kann auch heute nichts mit dieser Forderung anfangen«, sagt er. Ohnehin müffelt sein Album nicht nach nationaler Borniertheit, keiner der Songs rechtfertigt einen solchen Verdacht. Auch zieht Schamoni sein Grundkonzept gar nicht stur durch: Kompositionen der Filmmusik-Legenden Ennio Morricone und John Barry bilden Auftakt und Ausklang des Albums, außerdem ist ein Lied des Brasilianers Caetano Veloso dabei. »Ich bin für eine Qualitätsquote im Radio, nicht für die Deutschquote«, sagt Schamoni. »Es ist mir auch gar nicht so wahnsinnig wichtig, dass die Stücke auf meinem Album deutschsprachig sind. Das war eine praktische Entscheidung, weil ich das Projekt auf irgendeine Weise eingrenzen musste. Eine Produktion mit dem Titel ›Die vergessenen Songs der Welt‹ wäre eine allzu große Aufgabe gewesen – aber das kann ja vielleicht noch kommen.«

Rocko Schamoni & das Orchester Mirage: Die Vergessenen. Staatsakt/Universal Music