Wie alles anfing

»Die Polizeiüberfälle heute waren ein Signal, wie viel antideutsch dieser Staat ertragen mag, egal, ob er nun blau-gelb, rot-grün oder schwarz-rot-gold regiert wird.« So begann Rainer Trampert seine Rede am 12. Mai 1990 in Frankfurt. Kurz zuvor hatten Polizisten mit Schlagstock- und Wasserwerfereinsatz die Abschlusskundgebung der Demonstration »Nie wieder Deutschland« zum wiederholten Male attackiert. Die rund 20 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sich an diesem Tag auf dem Frankfurter Römer eingefunden hatten, ließen sich aber nicht von der Polizei einschüchtern und die Kundgebung konnte nach einer Stunde Unterbrechung fortgesetzt werden.
Lucienne Rombaut, Überlebende des KZ Ravensbrück, erklärte, dass ein wiedervereinigtes Deutschland »gefährlich für die Sicherheit Europas« wäre. Siggi Friess, damals Abgeordnete der Grünen, erinnerte an eine Bundestagssitzung, die den Charakter der deutschen Wiedervereinigung kenntlich gemacht hatte: »In einer Allparteienkoalition haben sie am 9. November zum Jahrestag der Reichspogromnacht die Nationalhymne gegrölt.«

Eine klare Absage an Antisemitismus, Rassismus und an eine wie auch immer geartete kritische Mitgestaltung der Wiedervereinigung zur deutschen Nation manifestierte sich in Reden, Transparenten und in dem Aufruf, den der ein Jahr zuvor gegründete Zusammenschluss Radikale Linke (RL) verfasst hatte. Im Aufruf wurde die Ablehnung jedes positiven Bezugs auf Deutschland mit einer offenen Bündnispolitik kombiniert. Rückblickend war es erstaunlich, dass sich fast alle links stehenden Organisationen der Idee »Nie wieder Deutschland« angeschlossen hatten: Die PDS Hessen, die DKP, die Vereinigte Sozialistische Partei (VSP) sowie Parteigliederungen der Grünen und autonome Gruppen aus der gesamten Bundesrepublik in den Grenzen von 1989. Viele äußerten Widerspruch gegen die antideutsche Stoßrichtung, schlossen sich aber trotzdem der Initiative der Radikalen Linken an.
Nachdem es Ende 1988 bei den Bundesvorstandswahlen der Grünen einen Rechtsruck gegeben hatte, beschlossen über 40 Funktionäre der Partei um Thomas Ebermann und Rainer Trampert ihren Parteiaustritt. Im Januar 1989 warb Ebermann als überraschend auftretender Gastredner bei einem Kongress des stagnierenden Kommunistischen Bundes (KB) – den er zehn Jahre zuvor verlassen hatte, um bei den Grünen mitzumischen – für eine neue linke Sammlungsbewegung. Im April 1989 kamen 30 Leute zum ersten Treffen der RL. Öffentlich wurde dieses Treffen durch eine Solidaritätserklärung mit dem zeitgleich stattfindenden Hungerstreik der Gefangenen der RAF. Unterzeichnet wurde sie etwa von Ebermann, Trampert und Regula Bott – die alle aus den Grünen ausgetreten waren –; Manfred Zieran, Jutta Ditfurth, Manon Tuckfeld, Dorothee Piermont – die noch Mitglieder der Partei waren –; Karl Heinz Roth; Georg Fülberth (DKP); Horst-Dieter Koch (VSP); Detlef zum Winkel und Heiner Möller (KB); Oliver Tolmein und Hermann L. Gremliza von Konkret.
»Die radikale Linke will die Kraft der Negation bleiben – die Opposition im Zeitalter der rosa-grünen Besoffenheit«, lautete einer der wichtigsten politischen Grundsätze der RL. Nach dem Mauerfall wurde aus der rosa-grünen eine deutsch-nationale Besoffenheit. Dagegen protestierten zu Beginn nicht nur die »hypermarginalisierten Outlaws«, wie die Sozialistischen Studiengruppen (SOST) die RL nannte. Die SOST polemisierten gegen die »Kraft der Negation«, weil sie selbst von links an Deutschland mitwirken wollten. 1990 orientierten sie sich, wie viele andere reformistische Linke, auf die Mitarbeit bei der »Massenpartei« PDS. Nach 1989 verlor die DKP einen Großteil ihrer Mitglieder. Gleichzeitig spaltete sich der KB in eine Mehrheit, die durch die Mitarbeit bei der PDS auf Massenpolitik setzte und eine Minderheit, die die RL unterstützte.
Diese organisierte neben der Demonstration in Frankfurt auch einen Kongress, der Pfingsten 1990 in Köln stattfand. Vor 1 500 Leuten stellte Detlef zum Winkel eine neue Aktionsidee vor, eine Demonstration zum Jahrestag der Reichspogromnacht und der Maueröffnung. Diese Demonstration sollte am 3. November in Berlin stattfinden und den Gedanken vertreten, »die sogenannte Judenfrage umzuformulieren in die jüdische Frage, die sogenannte deutsche Frage aber umzuformulieren in die Deutschenfrage. Mit einem Wort: Wir müssen uns als Kronzeugen gegen Deutschland verstehen.« Maria Baader und Gotlinde Magiriba Lwanga forderten dazu auf, »linken Antisemitismus ernst zu nehmen und zu bearbeiten«.
Hermann L. Gremliza stellte in seinem Beitrag fest: »In einem Land, für dessen Geschichtsschreiber der Verlust des Arbeitsplatzes und Mieterhöhungen immer als entschuldigende Begründung für Rassismus und Pogrome gegolten haben und noch gelten, darf man sich auf alles gefasst machen.« Die RL war das Forum für antideutsche Kritik und verband dies mit dem Abgesang auf die traditionalistische Linke, die sich »das einfache Volk« schönredete, und auf den Opportunismus der staatsloyalen Linken.

Die mit der Kampagne »Nie wieder Deutschland« gelungene Verbindung von radikaler Kritik und politischer Intervention gelang ein Jahr später nicht wieder, stattdessen zerlegte sich die RL selbst. Am 17. Januar 1991 hatten die USA und Großbritannien mit Unterstützung vieler Staaten, darunter der BRD, begonnen, den Irak zu bombardieren. Die BRD finanzierte den Krieg mit und stellte Logistik zur Verfügung. In Deutschland bildete sich schnell eine große, von linken Organisationen weitgehend unabhängige Friedensbewegung, die unter dem Motto »Kein Blut für Öl!« auf die Straße ging. Nur wenige Friedensbewegte kritisierten die technologische Unterstützung, mit der neben US-amerikanischen auch deutsche Firmen dem Regime von Saddam Hussein in den Jahren zuvor zu einer erhöhten Reichweite seiner Scud-Raketen und einer eigenen Giftgasproduktion verholfen hatten. Keine drei Jahre war es her, dass Hussein dieses Giftgas zur flächendeckenden Aufstandsbekämpfung in Halabja im kurdischen Nordirak eingesetzt hatte. Der irakische Diktator ließ seiner damals mehrfach wiederholten Ankündigung, er werde Israel angreifen, auch Taten folgen. Der Irak feuerte 39 Scud-Raketen auf Israel ab, die allerdings nicht mit Giftgas munitioniert waren. Viele schlugen in israelischen Städten ein, töteten und verletzten Zivilisten und versetzten die Bevölkerung Israels in Angst und Schrecken.
Die als Schutz für Israel verstandene Befürwortung des Golfkriegs durch einige prominente Mitglieder der RL nahmen viele traditionell orientierte Linke als willkommenen Anlass für eine Frontbegradigung und eine strikte Ablehnung jeder Form von antideutscher Kritik.
Die RL publizierte im März 1991 eine Flugschrift mit dem Titel »Kriegsende – Vorkriegszeit«, in der neben Kritik am deutschnationalen Charakter der Friedensbewegung, an der deutschen Beihilfe zur Giftgasproduktion und an der imperialistischen Weltordnung auch Texte über »linke Kriegsbefürworter« standen. Hier wurde der Aufschrei von Grünen und Publizisten, die sich mit linksliberalem Vokabular der Allianz gegen Hussein und deren Kriegspropaganda angeschlossen hatten, zu Recht als bestandene Reifeprüfung im Fach imperialistische Außenpolitik geoutet.

Entscheidend für die Kontroverse in der RL war aber die Haltung zu Israel. Viele, die eine Position gegen den Krieg einnahmen, ignorierten die Gefahr für Israel und gingen der Auseinandersetzung mit antisemitischen Statements von Friedensbewegten aus dem Weg. Die berechtigte Kritik an einer »linken« Kriegsbefürwortung verlor so an Überzeugungskraft. Andere in der RL, die gegen den Krieg waren, solidarisierten sich dagegen eindeutig mit Israel.
»Nie wieder Deutschland«, Solidarität mit Israel und Imperialismuskritik als antideutsches Multitasking gegen den Golfkrieg: So war es bei der Redaktion des Anti-Kriegs-Info Hamburg und der sich der antideutschen Minderheit zurechnenden Frankfurter Ortsgruppe des KB, die eine Kundgebung »Schluss mit dem irakischen Raketenterror gegen Israel!« organisierte. Dafür wurde die Frankfurter Gruppe heftig kritisiert. Sie wurde gefragt, ob sie denn zu den imperialistischen Kriegstreibern übergelaufen sei. Wer in dieser historischen Situation den Irak zum Gegenstand der Kritik mache, legitimiere den Krieg, lautete der Vorwurf. »So kann es nicht verwundern, dass es, ebenso wie in der Friedensbewegung, im KB nicht möglich war, von der verbalen Verurteilung zu irgendwelchen Aktivitäten der Solidarität mit der angegriffenen israelischen Bevölkerung zu kommen«, hieß es im April 1991 in der Erklärung, mit der die Frankfurter Gruppe ihren Austritt aus dem KB bekannt gab. Gleichzeitig wurde das Scheitern der RL festgestellt: »Mit dem Minderheitenflügel (des KB) zusammen haben wir einen nicht unwesentlichen Anteil an der ›Nie wieder Deutschland‹- Kampagne gehabt. Das Missverständnis dieser Gemeinsamkeit wird an der Kontroverse um den Golfkrieg sichtbar. Deutsche Linke, die sich gegen faschistische Drohungen gegen Israel nicht mobilisieren lassen, müssen sich die Frage gefallen lassen, was sie mit ihrem ›Nie wieder … ‹ wirklich meinten.« Der Austritt der Frankfurter Gruppe war der Anfang vom Ende der anti­deutschen Minderheit im KB, die bis zu ihrer Auflösung als Gruppe K im Oktober 1995 langsam zerfiel. Die RL löste sich bereits im Juni 1991 auf. »Nie wieder Deutschland« aber bleibt: als für Traditionslinke unbequeme Aufforderung zur Negation der deutschen Verhältnisse im Land der Richter und Henker, die ohne Solidarität mit dem Staat Israel als Konsequenz aus der Shoah unvollständig und nicht radikal wäre.