Der Islamische Staat und die Apokalypse

Mit uns die Sintflut

Der »Islamische Staat« ist die erste globale apokalyptische Bewegung.

Normalerweise beschweren sich Soldaten über den Kantinenfraß und die Schikanen ihrer Ausbilder. Manche Kämpfer des »Islamischen Staats« (IS) hingegen finden einen anderen Grund zur Klage: Sie müssen zu lange warten, bis sie sich in die Luft sprengen dürfen. Es gibt Wartelisten, und geschummelt wird offenbar auch. So kritisierte Ende Mai der dagestanische Prediger Kamil Abu Sultan, dass reiche Saudis ihre Beziehungen nutzten, um Verwandten Vorrang auf den Listen zu verschaffen. Die Kämpfer aus den russischen Republiken hätten das Nachsehen. Ein unerträglicher Zustand, meint Abu Sultan: »Wir sollten uns beim Kalifen beschweren.«
Für Selbstmordattentate gibt es angeblich eine besondere Belohnung im Paradies – eine Ansicht, die selbst von den meisten islamistischen Theologen nicht geteilt wird. In vielen Fällen könnte auch der Wunsch, mit einem großen Knall effektvoll abzutreten, das Motiv der Selbstmordattentäter sein, die sich häufig erst wenige Monate zuvor zur jihadistischen Ideologie bekannt haben. Entscheidend für den Kalifen Ibrahim ist jedoch, dass ihm eine ausreichende Zahl von Selbstmord­attentätern zur Verfügung steht. Deren Einsatz ist ein wichtiger Teil der militärischen Strategie des IS, denn sie sprengen Breschen in die feindlichen Linien, überdies ist die Demonstration der Todessehnsucht ein wirksames Mittel der psychologischen Kriegführung. Der Todeskult konstituiert aber, ebenso wie die extreme Gewalttätigkeit, die Truppe auch als verschworene Eliteeinheit in einer historischen Mission – und zwar nach Ansicht des IS der letzten, die es geben wird.
Auf das apokalyptische Denken als Wesensmerkmal des IS hat Graeme Wood im März im Magazin The Atlantic (»What ISIS really wants«) hingewiesen: »Der Islamische Staat unterscheidet sich von fast jeder anderen derzeitigen jihadistischen Bewegung dadurch, dass er glaubt, als zentraler Charakter in Gottes Drehbuch eingeschrieben zu sein.« Dieser Glaube gehe bereits auf die Vorläuferorganisation al-Qaida im Irak zurück. Deren Führer Abu Musab al-Zarqawi, der 2006 bei einem US-Bombenangriff getötet wurde, wird in Dabiq, dem Magazin des IS, zitiert: »Der Funke wurde im Irak entzündet, und seine Hitze wird – mit der Erlaubnis Gottes – immer mehr steigen, bis er die Armeen der Kreuzfahrer in Dabiq verbrennt.« In dieser nordsyrischen Stadt soll einer islamischen Überlieferung zufolge die letzte Schlacht vor dem Ende der Welt stattfinden.
Die koranische Version des Jüngsten Gerichts ist knapp gehalten. Das apokalyptische Denken, das die Ereignisse dramatisiert und Menschen eine zumindest potentiell aktive Rolle zuspricht, lernten muslimische Eroberer bei den Christen kennen. Die Erzählung wurde im Hinblick auf Personal und Orte der Handlung islamisiert, so werden die Gläubigen vom Mahdi (dem Rechtgeleiteten) in die letzte Schlacht geführt. Das Drehbuch folgt aber in den Grundzügen der Offenbarung des Johannes: Tyrannei, Krieg und Not erreichen ein unerträgliches Ausmaß, die Welt teilt sich in die Heerscharen des Guten und des Bösen, es kommt zur Entscheidungsschlacht, die mit der Erlösung der Menscheit endet.

Unter der Menschheit ist hier allerdings eine winzige Minderheit der wahren Gläubigen zu verstehen. Nur eine kämpfende Elite wird errettet. Als solche versteht sich der IS. »Heute sind die Menschen wie 100 Kamele, unter denen man fast kein einziges findet, das als Reittier geeignet ist«, schreibt Abu Amr al-Kinani in Dabiq. Die derzeitige Lage sei »wie zur Zeit der Propheten in der Vergangenheit, weil nur sehr wenige wahrhaft den Aufruf der Propheten verstehen«. Kinanis Artikel »Der Islamische Staat oder die Flut« greift am Beispiel Nuhs (Noahs) die koranische Erzählung von den Strafen auf, die Gott für die Zurückweisung der Botschaft seiner Propheten verhängt.
Da islamische Sklavenaufstände und Bauernrevolten wissenschaftlich noch nicht hinreichend untersucht worden sind, bleibt einige Ungewissheit, doch scheint das apokalyptische Denken in der Vergangenheit eine weit geringere Rolle gespielt zu haben als in der christlichen Welt. Derzeit erwartet zwar in vielen Ländern ein beachtlicher Anteil der Muslime (einer Umfrage von 2012 zufolge in Ägypten 40, im Irak sogar 72 Prozent) die baldige Ankunft des Mahdi, doch stimmte 2013 auch fast ein Drittel der US-Amerikaner der Aussage zu, der syrische Bürgerkrieg stehe im Zusammenhang mit der Offenbarung des Johannes.
Der Glaube an das baldige Ende der Welt ist eine harmlose Spinnerei, solange er nicht mit der Vorstellung einhergeht, man sei berufen, der Heilsgeschichte auf die Sprünge zu helfen. Diese Vorstellung hat sich in jüngster Zeit zunächst unter den schiitischen Islamisten im Iran verbreitet, wo die Apokalyptik als wissenschaftliche Fachrichtung gilt, aber die Sache einer einflussreichen Minderheit geblieben ist. Für die sunnitischen Jihadisten des IS ist sie nun Kalifatsdoktrin.
Vergleicht man den IS mit den apokalyptischen Bewegungen des christlichen Europa, so gibt es trotz des großen zeitlichen Abstands erstaunliche Parallelen. Als Standardwerk über diese Bewegungen kann Norman Cohns »Das neue irdische Paradies« gelten, dessen These, dass religiöser Vernichtungswahn im Vordergrund gestanden habe, von vielen Linken vehement abgelehnt wurde, da etwa die Täufer von Münster ein Ideal sozialer Gleichheit vertraten und deshalb als politische Vorfahren eingestuft wurden. Diese Sichtweise blendet jedoch aus, dass solche Bewegungen sich explizit einer Säuberung der Erde von allen Ungläubigen – also allen außer den Anhängern der eigenen Bewegung – verschrieben und mit einer extremen Bildungsfeindlichkeit sowie einer Entfesselung patriarchaler Gewalt einhergingen.
So wurden im Täuferreich zu Münster 1534/35 sämtliche Bücher mit Ausnahme der Bibel verbrannt. Johann von Leiden, ein begnadeter Propagandist und talentierter Militärführer, ließ sich zum König nicht etwa nur der Stadt, sondern der Welt ausrufen. Er führte überdies die Polygamie ein, alle ledigen Frauen wurden zwangsverheiratet. In Verbindung mit einem für Männer erleichterten Scheidungsrecht führte dies dazu, dass Frauen faktisch zu Eigentum und Handelsware der einflussreichen Männer wurden.
Die Parallelen zu Ibrahims Kalifat sind offensichtlich. Ein Ideal sozialer Gleichheit aber vertritt der IS nicht, es wird durch eine diffuse wohlfahrtsstaatliche Vorstellung von Gerechtigkeit ersetzt. Die Utopie fehlt somit, sie ist, anders als Cohn meinte, nicht unerlässlich. Das tatsächliche Problem ist die Idee der großen Säuberung, die allerdings – deshalb ist Cohns Vergleich mit modernen revolutionären Bewegungen nicht ganz falsch – auch von Linken immer wieder aufgenommen wurde.
Doch ungeachtet der Übernahme mancher Ideen durch Linke bleibt die Apokalypse eine religiöse Angelegenheit, und Bewegungen, die sich in einem endzeitlichen Kampf wähnen, scheinen einer bestimmten Dynamik folgen zu müssen. Johann von Leiden wollte die gesamte christliche Theologie beseitigen, der IS bemüht sich intensiv um die Vernichtung aller Spuren der islamischen Geschichte, denn die große Säuberung erfordert eine Rückkehr zur angeblichen Reinheit der Urreligion. Als Elite der Heilsgeschichte erteilen sich Anhänger apokalyptischer Bewegungen zudem in Sachen Sex mit recht willkürlichen Begründungen Dispens von den gängigen Geboten ihrer Religion. Von Leiden berief sich gegen jede theologische Lehrmeinung auf alttestamentarische Patriarchen, der IS kann zwar darauf verweisen, dass der Koran die Sklaverei nicht untersagt, steht aber mit seiner Obsession für Sexsklavinnen jenseits von Theologie und Tradition.

Gewalt ist nicht Mittel zum Zweck, sondern das Ziel der großen Säuberung und bedarf daher keiner besonderen Rechtfertigung. Kämpfer für die Apokalypse können taktisches Geschick im Krieg und in der Verwaltung, ja sogar Pragmatismus zeigen, und auch Habgier ist mit ihrem Fanatismus keineswegs unvereinbar – schließlich belohnt Gott die Seinen bereits im Diesseits, wenn es ihm gefällt. Doch kann es ihnen nie um die Errichtung eines stabilen Staats gehen, die apokalyptische Bewegung muss bis zu ihrem letzten Gefecht expansiv sein.
Auch das Täuferreich verstand sich als Zentrum einer nicht auf Münster beschränkten Bewegung, zahlreiche Hinrichtungen in anderen Städten beweisen, dass die Obrigkeiten diesen Anspruch ernst nahmen. Aber Johann von Leiden konnte noch nicht twittern. Der IS ist die erste apokalyptische Bewegung, die auf das globale Reservoir an Fanatikern und Psychopathen zurückgreifen kann. Zahleiche Gruppen und Personen in aller Welt haben, wie es Dabiq von allen Muslimen fordert, dem Kalifen den Treueid geleistet. Vorrang hat derzeit, Verstärkung in sein unmittelbares Herrschaftsgebiet zu holen, wo die Rekruten oft durch eine rituelle Passverbrennung die Brücken hinter sich abbrechen. Dass der IS am Freitag vergangener Woche den zweiten Anschlag auf Schiiten in Saudi-Arabien verübte, deutet auf das Ziel hin, das Land – wegen seines Ölreichtums und der heiligen Stätten der Hauptgewinn für Jihadisten, wie bereits Ussama bin Laden urteilte – zu destabilisieren, doch hat man vorsorglich auch schon dem fernen Japan den Krieg erklärt.
In Nigeria, Libyen und anderen Ländern entstehen Enklaven des IS, noch weit größer ist die Zahl der Staaten, in denen es sympathisierende Gruppen und Personen gibt. Welche Dynamik eine apokalyptische Bewegung in unserer Zeit entfalten kann, weiß noch niemand, sie dürfte sich aber wohl nicht in dem erschöpfen, was aus der bisherigen Geschichte des Jihadismus bekannt ist. Für den Weltuntergang wird es zwar nicht reichen, doch das zögerliche Vorgehen gegen den IS ist gefährlich. Jeder Sieg, ja schon die fortdauernde Existenz des Kalifats kann als Beweis für die Gunst Gottes gewertet werden und die Liste der Selbstmordattentäter verlängern – und vor allem die der Opfer.