Jacinta Nandi im Gespräch über ihr neues Buch »Nichts gegen blasen«

»Abgesehen von den Tatsachen ist alles erfunden«

Jacinta Nandis gerade erschienenes Buch »Nichts gegen blasen« handelt von der ­Verzweiflung der Mittdreißiger in den ­Großstädten. Ein Gespräch über Schreiben und Beziehungen.

Im Zentrum Ihres Buches steht eine Trennung, die mit viel Sex kompensiert werden muss, der Titel des Buches »Nichts gegen blasen« stellt dies heraus: Junge Frau schreibt versaut, das klingt marktkompatibel.
So einfach ist es aber nicht. »Nichts gegen blasen« ist zunächst die Überschrift meines Lieblingskapitels. Ich finde, in dem Titel schwingt nicht nur Unterwürfigkeit, sondern auch Resignation mit. Was ich beschreibe, ist die Beziehung in der Großstadt, aber das ist nicht so Frauen-Girl-Power, »Sex and the City« und so. Es ist trauriger. Ich finde den Titel deprimierend, wie das ganze Buch auch ein bisschen.
Bisschen ist gut.
Auf dem Umschlag des Buches sieht man ein leeres Portmonnaie. Ich würde sagen, die Jacinta im Buch hat kein Geld, also begibt sie sich auf die Suche nach Sex, Zuneigung, Liebe. Ihr Freund trennt sich nicht nur von ihr, sondern er kauft sich als nächstes ein Haus und betrügt sie um eine gemeinsame Zukunft. Heiraten ist eigentlich das Zusammensparen von Geld und Ressourcen. Arme Leute werden nicht geheiratet. Es ist völlig richtig zu sagen: Heiraten ist heutzutage spießig. Aber jemanden nicht zu heiraten, wegzugehen, um das Geld allein auszugeben, ist noch spießiger.
Warum ist Ihnen das mit der Heirat so wichtig?
Die Heirat ist eine Metapher fürs Integriertsein. In dem Moment, wo die Buch-Jacinta den Freund verliert, hat sie einfach alles verloren. Heiraten ist auf einmal das Symbol für Normalität und Akzeptanz in einer fremden Umgebung. Ein Symbol von Liebe, von Respekt.
Gibt es keine andere Möglichkeit, sich integriert zu fühlen?
Ja, du könntest Christin werden, du könntest ehrenamtliche Arbeit leisten. Oder du könntest Lesebühne machen. Bei meinen britischen Freundinnen, die nicht Lesebühne machen, denke ich immer: Warum sind sie hier? Sie haben Heimweh und sagen: »Ich habe Heimweh, ich will einen Engländer heiraten, die deutschen Männer finden uns zu nervig, ich werde nie geheiratet.« Ich denke, wenn man keine Lesebühne hat, hat man keinen Grund, in Berlin zu bleiben.
Aber halb England wohnt doch mittlerweile in Berlin-Neukölln.
Ja, das stimmt. Und Iren auch jede Menge. Die andere Hälfte wohnt in East-London. Eigentlich müsste Irland schon leer sein. Aber es klappt trotzdem nicht mit der Liebe.
Die Heirat steht in der Literatur eigentlich am Ende eines Trivialromans. Ist das heute noch zeitgemäß?
Mit 16 hab ich selbst versucht, Groschenromane zu schreiben. Es gibt da eine gewisse Vorliebe für diese spezielle Form der Romantik. So trivial sie sind, halte ich sie nicht für sexistisch. Sondern eher für ein bisschen feministisch in einer sexistischen Welt. Die Heldin des englischen Groschenromans ist immer Erzieherin oder Sozialarbeiterin, sie kommt aus der Arbeiterklasse oder der lower middle class. Der Typ dagegen ist immer ein Macho, der sagt, ich brauche viel Geld und den ganzen anderen Krempel. Sie bringt ihm dann bei, dass er Geld spenden soll an arme Kinder in Afrika und Ähnliches. Sie unterrichtet ihn und bringt ihm bei, er soll nicht so eine kapitalistische Arschbacke sein. Sie bringt ihm bei, was Liebe ist, Liebe zu den Menschen.
Der Buch-Jacinta kommt ihr Partner abhanden und damit auch ihre Vorstellung von Zukunft. Wie konnte sie nicht bemerken, dass das mit dem nichts wird? Wie viel Groschenroman steckt in dieser Geschichte, ist sie eine naive Figur der Arbeiterklasse?
Von der Verworrenheit der Familiengeschichte her, ja. Ich rede jetzt mal über meine Protagonistin, als ob ich das wäre: Wir waren sechs Jahre zusammen, es ist normal, dass du denkst, dass es dann eine Zukunft gibt. Nachher ist man immer klug. Wieso habe ich nichts gemerkt? Mein Stiefvater war, als ich klein war, sehr distanziert. Der kam immer um acht, neun nach Hause. Mit meiner Mutter hat er gemeinsame Kinder, er ist der biologische Vater meiner Geschwister. Ich habe die Distanz nicht wahrgenommen, vielleicht weil ich nicht gewöhnt war, sie zu sehen, weil sie die Normalität meiner Kindheit war.
Wie viel ist autobiographisch?
Ganz viel in dem Buch ist erfunden. Ich würde sagen, fast 50 Prozent. Oder noch mehr. Alles ist ein bisschen erfunden. Und ganz viel ist total erfunden. Das ist ein fiktives Werk!
Die Trennungsszene, die so zentral ist …
Die stimmt so. Und meine Mama hat Multiple Sklerose. Und ich habe eine Transgender-Stiefpapa-Tante, einen Sohn und lebe in Berlin. Abgesehen von den Tatsachen ist alles erfunden.
Die Heldin fühlt sich nach dem Beziehungs­ende auch befreit. Eine neue Liebe sollte kein Problem sein. Sie meldet sich bei diversen Dating-Portalen an. Sex ist jetzt voll Porno, warnt ihre Freundin. Man müsse sich am Markt platzieren, ohne »Deepthroaten und Arschlochrasieren« gehe gar nichts mehr. Sie entwirft einen ganzen Leistungskatalog.
Ich finde, diese Welt von Daten und Ficken ist sehr beeinflusst vom Kapitalismus.
Oder umgekehrt …
Kapitalismus kommt vom Ficken? Wie dem auch sei: Heute liegt voll der Leistungszwang auf den Dates. Die Menschen sollen hübsch, intelligent und reich sein.
Ich sage das nicht stolz, ich sage das ein bisschen stolz: Ich verliebe mich nie in reiche Männer. Ich habe ein paar Freundinnen, die greifen sich reiche Typen ab. Ich finde, die sind auch nicht oberflächlicher als die Männer: Die wollen ja eine Frau am Herd, die super aussieht. Warum aber soll man nur kochen und super aussehen und nichts dafür bekommen?
Ich bin aber ganz dankbar, nicht so zu sein. Der Exfreund, auf dem die Figur Peter basiert, war arm, als ich mich verliebt habe. Er war arbeitslos und wurde später reich, dann hat er mich verlassen.
Sie kombinieren Witz und Depression, Handlung wird in absurden Szenen und Dialogen erzählt. Über die normale Lesebühnengeschichte – so in der Art: »Neulich ist mir dies und das passiert« – geht dies weit hinaus. Ist dies ein rein intuitiver Prozess oder wird auch mal was recherchiert?
Rein intuitiv. Mir sind auch schon Fehler aufgefallen. Es gibt drei Sachen in dem Buch, die nicht stimmen. Ich dachte, Männer kriegen keine Pilze an den Geschlechtsorganen beziehungsweise nicht mit Symptomen. Das ist doof, denn der Anfang meines Buches basiert auf diesem Irrtum. Die zweite »Untatsache«, also Falschmeldung ist: dass die Engländer ihre Unschuld früher verlieren als die Deutschen. Es ist genau umgekehrt. Die dritte falsche Sache ist, dass ich an einer Stelle Sage und Märchen verwechsle. Das Buch ist auch eine klassische Heldinnenerzählung: Ich schreibe, ich bin auf einer Gralssuche, wie die Figur im Märchen. Meine Lektorin sagte: Die Suche nach dem heiligen Gral stammt aus einer Sage. Aber ich habe entschieden: Die Protagonistin ist genauso dumm wie ich, die sagt auch »Märchen«. Ich finde es okay, dass die Quatsch erzählt, darauf kommt es mir nicht immer an. Die Leute sollen das alles googeln, bitte. Also: Kein Mann soll denken, dass er keine Pilze kriegt!
Woran orientiert sich Ihr Buch neben dem Groschenroman sonst noch?
Ich liebe die »Tagebücher von Bridget Jones«, ich habe auch den Anfang von Charlotte Roches »Feuchtgebiete« gelesen, das fand ich aber ganz schlimm. Und zwar wegen einer Szene: Die Titelfigur rät ihrer Mutter, bei ihrem Mann zu bleiben. Für sich selbst aber verlangt sie als Teenie die totale Freiheit. Verheiratet zu sein mit jemandem, den du hasst, der dich hasst, das ist ein Gefängnis. Sie rät ihrer Mutter, im Gefängnis zu sitzen. Ich hab das Buch vor Wut an die Wand geworfen. Ich habe gedacht, ich hasse Charlotte Roche.
Aber dann hab ich ihr Buch »Schoßgebete« gelesen. Und das fand ich gut wie kaum ein anderes Buch, das ich auf Deutsch gelesen habe. Eine Flasche Rotwein und einen Samstagabend habe ich damit zugebracht und nur geweint.
Ich habe auch »Tschick« von Wolfgang Herrndorf gelesen, das könnte auch ein englischer Roman sein. Ansonsten bin ich ein bisschen faul mit Deutsch lesen. Fernsehen geht mittlerweile wie in England, aber lesen … Ich glaube, mir sind die Sätze manchmal etwas zu lang.
Streckenweise beschreiben Sie die totale Verzweiflung. Orientierungslosigkeit wird zwanghaft mit Sex bekämpft, was nur begrenzt funktioniert. Dabei ist die Sprache des Buches unglaublich rabiat. Woher kommt das?
Ich komme aus der britischen Arbeiterklasse, da wird viel geschimpft. Zu viel. Es ist so schlimm. Und man gewöhnt sich daran. Es hat sogar dazu geführt, dass ich Schimpfworte schön finde. Ich finde »Fotze« hört sich zum Beispiel nicht schlimm an. Das klingt so niedlich. Wie heißt dieses Wasser, ein bisschen?
Pfütze.
Das hört sich doch fast genauso an.
Buch-Jacinta bezeichnet ihr Kind als Scheißkind …
Ist das schlimm?
Hat Ihr Sohn das Buch schon gelesen?
Nein.
Vielleicht sitzt er deswegen später beim Therapeuten.
Ich werde ihm sagen, das war nicht so gemeint. Auch das ist übrigens britischer Humor. Wir sagen: »Oh, that little bastard«, wenn wir was Nettes über unsere Kinder sagen. Das geht in England, das ist sozialer Standard, auch wenn es eigentlich voll die Beleidigung ist. Aber Engländer machen sich auch immer sehr lustig darüber, wenn sich ihre Kinder wehtun. Wenn die hinfallen, lachen wir richtig. Zugegeben, das ist in Deutschland nicht okay.  Ich bin ein bisschen behindert auf Deutsch. Jetzt lernen die Deutschen das kennen.
Jacinta sitzt in einem zubetonierten Stadtteil und wartet, dass sie abends in die Kneipe kann. Es gibt keinen Strauch und keine Tiere in diesem Buch. Waren Sie eigentlich schon mal spazieren oder im See schwimmen?
Ich fahre gern nach Brandenburg, in die Badelandschaft »Tropical Island«.
Sind die Orte, an denen Sie arbeiten, ähnlich speziell?
Virginia Woolf würde sich im Grab umdrehen: Ich arbeite im Zimmer meines Sohnes, am Küchentisch, im Flur, ich arbeite überall, nur nicht in einem Arbeitszimmer. Ich bin auch voll die Alleinerziehende. Meine Lesebühnenfreundinnen sagen, dass sie zum Schreiben Ruhe brauchen. Aber ich kann auf dem Spielplatz schreiben. Während des Kindergeburtstags in Läden, wo die Kinder mit Bällen in Käfigen werfen. Ich kann im Legoland schreiben, im »Tropical Island«. Dort schreibe ich meine traurigsten Geschichten, ich mag es da, es gibt dort etwas sehr Trauriges. Mein Exfreund hat gesagt, irgendwann wird es überall Tropical Islands geben – Habitate, weil die Umwelt im Eimer ist. Und so fühle ich mich da auch: als wäre die Welt schon untergegangen.
An wen richtet sich das Buch?
An alle Menschen. Bei der Buch-Premiere waren 70 Prozent Frauen.
Sie schreiben, das Buch sei eine Therapie für sie, man müsse es nicht lesen.
Ich habe nie eine echte Therapie gemacht, nur mal zwei oder drei Stunden. Kunst ist eine Therapie. Auch Björk hat ihre letzte Platte über eine Trennung gemacht. Und Shakespeare hat ein Jahr nachdem sein Sohn Hamnet gestorben ist, Hamlet geschrieben. Therapie ist eigentlich nur eine komische Form von Kunst, die zwischen zwei Menschen stattfindet. Das Buch will etwas lösen, Therapie will etwas lösen.
Die Erzählerin teilt mit: »Ich bin eine selbstzufriedene Fotze, die sich selber hasst.« Was wird die Zukunft bringen?
Ob ich noch Lust habe, mit 60 zu ficken oder »ficken« zu sagen, werden wir sehen.
Wie würden Sie das Buch zusammenfassen?
Das Leben wird nicht besser. Aber es geht weiter.

Jacinta Nandi: Nichts gegen blasen. Ullstein-Verlag, Berlin 2015, 288 Seiten, 12,99 Euro

Jacinta Nandi wurde 1980 in Ost-London geboren und kam mit zwanzig als Studentin nach Berlin. Die Lesebühnenkünstlerin wurde mit ihrer Kolumne »Amok Mama« im englischsprachigen Stadtmagazin Exberliner und Texten für verschiedene Tageszeitungen bekannt. Sie ist Mitglied der Lesebühnen »Rakete 2000« und »Die Surfpoeten«.
Nandi schreibt einen einzigartigen Mix aus Englisch und Deutsch, den sie mit starkem Akzent vorträgt. In ihren Texten stellt sie, oft im fiktiven Diskurs mit Freunden, Verwandten oder ihrem Sohn, den Alltag in Berlin auf den Kopf. Ihre Prosa ist voller Umkehrungen, Redundanzen, Sprachschöpfungen. Und vor allem voller Flüche, Beschimpfungen und sexueller Eindeutigkeiten, deren Ursprung die Sprache der englischen Arbeiterklasse ist. Thematisch geht’s oft um Beziehungen – auch in ihrem jetzt erschienenen Buches »Nichts gegen blasen«, dessen Titel Programm ist: ein Anti-Liebesroman, der – es liegt im Trend – kein Paar, sondern eine alleinerziehende Mutter ins Zentrum stellt.
Romantisch gestimmt verbringt die Heldin Jacinta mit ihrem Freund Peter einen Nachmittag auf einer Hochzeit. So schön war seine Rede als Trauzeuge, dass es anschließend auf der Toilette Oralsex gibt, dann macht sie ihm einen Heiratsantrag und er Schluss. »Ich habe mir nie eine Zukunft mit dir vorgestellt, ich habe immer nur erlaubt, dass es weiterging, jeden Tag.«
Die Protagonistin sagt: »Das ist wie mit der ersten Erinnerung oder als ob diese Worte Teil meiner Knochen, vielleicht sogar meiner DNA geworden wären. Manchmal denke ich, dass ich diesen Blowjob für den Rest meines Lebens bereuen werde.«
Was folgt, ist eine 300seitige Tour de Force durch Online-Dating-Portale, durch die eigene Familiengeschichte, die des Rassismus, der Migration und des Fußballs in England. Mutter hat Multiple Sklerose und wird zum Pflegefall, Vater wäre fast der erste indische Premiere-League-Spieler geworden. Und der Stiefvater wird zur transsexuellen Tante werden.
Und es geht um Nandis Berlin: Ihr Buch erzählt auch die Geschichte des bindungslosen Partylebens der Berlin-Zuzügler aus der Europäischen Union und von anderswo, der Entwurzelung, der tiefen Verzweiflung, der eigenen Irrtümer und falschen Vorstellungen. Durch Drogen kompensiert und am Thema Sex entlang erzählt. Auf der Suche nach großer Liebe, die unmöglich geworden ist, weil alles immer perfekt sein soll, genau das, worauf es in Berlin früher nie ankam.
»Das Schlimmste an Trennungen ist, wie engherzig man wird«, sagt Nandi: Ein moderner Groschenroman über jene junge Generation in Europa, die sich mit der fehlenden Zukunftsperspektive herumschlägt, mit prekären Jobs über Wasser hält und am besten jeden Abend wegknallt.
Beziehung und Glück sollen her, aber woher sie kommen sollen, weiß keiner. Nur eines steht fest, sagt die Autorin: »Wir haben nicht mehr so viel Zeit.«