Der geographische Schwerpunkt der Antideutschen hat sich verschoben

Deutschland ist kein Sonderfall

Die antideutsche Analyse muss ein Vierteljahrhundert später an vielen Punkten ­revidiert werden.

Auch der Verfasser dieser Zeilen war dabei, ebenso wie die Autoren der ersten beiden Beiträge in dieser Reihe, als am 12. Mai 1990 rund 20 000 Menschen in Frankfurt am Main unter dem Motto »Nie wieder Deutschland« gegen die sogenannte Wiedervereinigung von BRD und DDR und ihre erwarteten politischen Folgen demons­trierten. Ebenso wie bei weiteren Folgeereignissen. Erwähnung finden sollten, neben dem Pfingstkongress der Radikalen Linken (RL) und der Demonstration am 3. November desselben Jahres in Berlin, noch der Kongress »Außerparlamentarische Opposition gegen Deutschland«, der am 1. und 2. Dezember 1990 in Hamburg stattfand.
Das besondere Anliegen des auf Kritik und Opposition ausgerichteten Bündnisses, das sich in jenen Monaten herausbildete, haben Detlef zum Winkel und Gaston Kirsche in ihren Beiträgen nur unzureichend auf den Punkt gebracht. Zum Winkel kann man völlig zustimmen hinsichtlich der jüngsten rassistischen Mobilmachung in Tröglitz. Was er ihr allerdings entgegensetzt, ließe sich, wollte man es denn unbedingt auf Kurzformeln bringen, weitestgehend in den Begriffen des »Antirassismus« sowie »Antifaschismus« zusammenfassen. Dies sind absolute Imperative, doch rassistische Pogrome gibt es leider auch in anderen EU- und Nicht-EU-Ländern, was die Sache nicht harmloser, sondern schlimmer macht. Dieser Umstand wirft aber die Frage auf, was der spezifische Begriff »antideutsch« dann bedeutet.
Eine erstmalige Verwendung fand er Anfang 1990 in einem Beitrag für die linke Monatszeitung AK. Unter der Überschrift »Weshalb die Linke anti-deutsch sein muss« – damals noch mit Bindestrich – erschien ein Beitrag von einem gewissen Jürgen Stuttgart. Es handelt sich dabei um die Person, die heute das neurechte Magazin Compact herausbringt und all das, was er damals als Unheil heraufbeschwor, nunmehr selbst als politisches Ideal verfolgt. Herr Stuttgart, aka Elsässer, ist inzwischen zum Rechten geworden und zum stolzen Organisator von Veranstaltungen – etwa vor wenigen Wochen in Tröglitz –, bei denen Vollnazis und Vollverstrahlte zusammenkommen. Der Kern seiner damaligen Aussagen lautete: Die historische Entwicklung in Deutschland verlief anders als etwa in Frankreich und Großbritannien, und zwar deswegen, weil der Nationalstaat hier nicht durch die siegreiche Bourgeoisie – nach der bürgerlichen Revolution gegen Feudalherren, Klerus und Monarchie – verwirklicht wurde, sondern unter Bismarck durch »Blut und Eisen«, vor dem Hintergrund der Niederlage der bürgerlichen Revolution. Der Nationalismus sei in Deutschland besonders gefährlich, weil er das Bündnis zwischen der Elite und einem von ihr mobilisierbaren Mob besiegele, unter Ausschaltung der bürgerlich-demokratischen Etappe. Die Pointe in Elsässers Artikel lautete: Wenn die Nachbarstaaten die deutsche Vereinigung von BRD und DDR hinnähmen, »wer wollte ihnen (den Deutschen) dann noch die Atombombe, die Streichung des Asylrechts aus der Verfassung, die Beteiligung an Militärinterventionen untersagen?«
Die generelle Prognose war damals also, dass eine Zuspitzung der innen- und außenpolitischen Verhältnisse zu erwarten sei, die einen bürgerlich-demokratischen Entwicklungsrahmen sprengen könnte. Manche brachten sie auf die etwas schlichte Formel vom »Vierten Reich«. An vielen Punkten muss die Einschätzung ein Vierteljahrhundert später relativiert werden. Nicht, weil alles gut geworden wäre. Sondern weil die Prognose einer Sonderentwicklung in Deutschland angesichts rassistischer und rechtsextremer Entwicklungen in anderen Ländern ernsthaft diskutiert werden muss.
Mit der berüchtigten »Asyldebatte« in den Jahren von 1991 bis 1993 schienen sich die Warnungen erstmal zu bestätigen: Während der rassistische Mob sich auf den Straßen austobte, zog das politische Establishment mit und schien ihr Recht zu geben. Die SPD beschloss auf dem Petersberg in Bonn im August 1992 ihre Zustimmung zur Einschränkung des Asylrechts und zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr: Keine Parteien mehr, nur noch Deutsche? Eine weitere Eskalation blieb in der Folge jedoch aus, der Staat fuhr vielmehr ab 1993 die rassistische Mobilmachung an der Basis erheblich zurück.

Heute sieht es anders aus. Die offiziellen Reaktionen auf Pegida und Konsorten unterscheiden sich doch erheblich von den Positionen wesentlicher Teile der Parteien sowie der Massenme­dien während der »Asyldebatte« ab 1991. Nicht aus Menschenfreundlichkeit, wohlgemerkt, eher aus wirtschaftlichen Motiven und Rücksichtnahme auf die politischen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Nation.
Nichtsdestoweniger ist festzustellen, dass diese Entwicklung viele Prognosen von vor 25 Jahren dementiert. Nicht die, dass Rassismus eine ernsthafte Gefahr und Nazis eine Bedrohung darstellen – mit Verbindungen auch in den Staat hinein, siehe NSU –, die vordringlich bekämpft werden müssen. Jene hingegen schon, die darauf hinausläuft, dass die bestehenden politischen, institu­tionellen und staatlichen Vermittlungsformen durch eine reaktionäre Massendynamik aufgesprengt werden könnten.
Das Nichteintreffen bestimmter negativer Erwartungen in Hinblick auf Deutschland wurde in manchen Fraktionen der Antideutschen durch eine Verschiebung des geographischen Schwerpunkts kompensiert. Das begann mit der Golfkriegsdebatte 1991. Es war im Kern absolut richtig, die Positionen jener Linken zu kritisieren, die die irakische Diktatur gegen die »imperialistische Aggression« unterstützten.
Die historisch, ideologisch und emotional aufgeladene Erzählung, die damals aufkam, war dennoch falsch. Sie lautete so: Deutsche Firmen haben das Know-how für die C-Waffen an den Irak geliefert, mit dem Hintergedanken, einen neuen Gasmord an den Juden zu ermöglichen. Der Irak droht nun, Israel anzugreifen – was das Regime 1991 tatsächlich tat –, und will dadurch Hitlers Werk vollenden. Wenn gesellschaftliche Kräfte in Deutschland sich den Luftangriffen auf den Irak widersetzen, dann nur, weil sie in Wirklichkeit wünschen, dass Hitlers Werk zu Ende geführt werde. Im Frühsommer 1991 wurde dies in einem Streitgespräch in der Zeitschrift Konkret wie folgt auf den Punkt gebracht: »Wenn Deutschland Kriegspartei ist, dann auf der Seite des Irak.«
Diese Zusammensetzung verschiedener historischer Episoden war jedoch falsch. Ja, westdeutsche Firmen hatten technologische Komponenten für eine C-Waffenproduktion im Irak geliefert, was seit 1984 auch von westdeutschen Linken und Rüstungsgegnern immer wieder angeprangert wurde. Dies stand jedoch in keinerlei Zusammenhang mit Israel, sondern mit dem Iran-Irak-Krieg, in dem alle Großmächte damals den Irak unterstützten. Frankreich lieferte damals Komponenten für Atomwaffen an den Irak, die USA solche für bakteriologische Waffen. Als 1991 das vormalige Bündnis zwischen Irak und den wichtigsten westlichen Großmächten – die ihn zuvor als Bollwerk gegen die »islamische Revolution« dargestellt hatten – zerbrach, stand auch das deutsche politische Establishment mehrheitlich auf Seiten der von den USA geführten Allianz.

Die ideologische Front, die manche damals zu eröffnen suchten – wer bestimmte Militäroperationen im Nahen Osten ablehnt, steht im Schatten Adolf Hitlers –, wurde seitdem vielfach reproduziert. Nicht nur von jener Fraktion der Antideutschen, die sich in ihrem Emblem auf ein Steuerfluchtparadies in der Karibik bezieht. Das Aufpfropfen der Schablone des Zweiten Weltkriegs und des NS-Regimes auf Konflikte im ­Nahen und Mittleren Osten liefert jedoch keine verlässlichen historischen Erkenntnisse.
In arabischen Gesellschaften existiert sicherlich eine auf einen Territorialkonflikt projizierte chauvinistische Konfliktideologie – in die mitunter importierte Versatzstücke aus europäischen antisemitischen Ideologien inkorporiert werden, man denke an die zeitweilige Popularität des Holocaust-Relativierers Roger Garaudy –, deren Grundlagen jedoch nicht für den modernen europäischen Antisemitismus seit etwa 1870 repräsentativ sind. Er nahm die Juden keinesfalls als Staatsvolk wahr, sondern als internationales »zersetzendes Prinzip«, das hinter der Spaltung der Gesellschaft in Klassen stehe. Würde man ­jedoch heute eine repräsentative Stichprobe von Arabern befragen: »Welches Volk lebt über alle Grenzen und Länder verstreut, ist im Handel tätig und bereichert sich überall?«, dann käme als Antwort zweifellos: »Klarer Fall! Libanesen!«
Bei manchen antideutschen Fraktionen hat sich die ideologisierte Wahrnehmung dieses Konflikts jedoch längst verselbständigt. Ihr Eifern hat mit dem ursprünglichen kritischen Anliegen nur noch wenig zu tun. 1990 ging es vor allem darum, warnend darauf hinzuweisen, dass nicht nur – wie in manchen damals verbreiteten linken Weltbildern auf platte Weise angenommen wurde – »die bösen Herrschenden« einer grundsätzlich guten Masse der Gesellschaft gegenüberstehen. Sondern dass es eine gefährliche Massenzustimmung zu reaktionären, nationalistischen oder anderen regressiven Ideen geben kann und dass Antisemitismus gerade deswegen brandgefährlich ist, weil diese Variante des Rassismus die Besonderheit aufweist, als vermeintlich rebellische Denunziation der Inhaber von Macht und Geld aufzutreten.
Es ging damals nicht darum, jeden Krieg des Staates Israel rechtfertigen zu müssen. Noch übrigens um das heute mitunter zu beobachtende Händereichen mit konservativen Kräften, die – wie die CDU nach 1945 – mehrheitlich begriffen haben, dass eine philosemitisch wirkende Selbstdarstellung ihr bestes Ausweispapier darstellt, um historische Kritik an der Rolle der Rechten vor dem Machtantritt der NSDAP abzubügeln.