Der Streit über die muslimische Kleiderordnung für Frauen

Beim Rock des Propheten

Wie Frauenmode von Islamisten politisiert wird: Mehrere Kampagnen in Nordafrika und Frankreich beschäftigen sich mit der Frage, was Musliminnen tragen dürfen.

Nun geht es nicht mehr nur um Kopftücher, sondern auch um Röcke. In Frankreich durfte eine muslimische Schülerin das Schulgebäude in der Kleinstadt Charleville-Mezières nicht betreten, weil ihr Rock zu lang war. Das soll auch andernorts vorgekommen sein. Insgesamt 130 Mal sollen dem »Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich« (CCIF) – dessen Statistiken allerdings umstritten sind – zufolge im vorigen Jahr Mädchen wegen zu islamischer Kleidung drangsaliert oder gemaßregelt worden sein. Nicht wegen des Kopftuchs, das ist an Schulen sowieso verboten. Nach dem letzten Vorfall im Mai entstand das Twitter-Hashtag #JePorteMaJupeCommeJeVeux (Ich trage meinen Rock, wie ich will).
Diesem Hashtag könnte sich wohl auch eine Gruppe Tunesierinnen auf der anderen Seite des Mittelmeers anschließen, wenn auch mit entgegengesetztem Ziel. Sie riefen für den 6. Juni den weltweiten »Minirock-Tag« aus. Damit antworten sie einem BBC-Blog zufolge auf eine Facebook-Kampagne in Algerien, die forderte: »Sei ein Mann und lass deine Frauen nicht in entblößender Kleidung auf die Straße.« Die Facebook-Seite ist inzwischen abgeschaltet, aber dem BBC-Blog zufolge wurden dort die unter Salafisten beliebten Bilder von Lollis bemüht: Eine Frau ohne Kopftuch ziehe die Ameisen an wie ein Lolli ohne Plastikumhüllung. Dass Salafisten offenbar billige Lollis bevorzugen an Stelle von anständigen Süßigkeiten wie dem gänzlich unverhüllt in Schaufenstern ausgestellten Baklava, Basbusa oder Kenefe, ist nur eine der Absurditäten dieser Politisierung von Frauenmode.

Als die Salafisten nach den ersten freien Wahlen in Ägypten 2011 mit fast 30 Prozent der Stimmen ins Parlament einzogen, hatten sie angesichts der Wirtschaftskrise und sprunghaft gestiegener Kriminalität nichts Besseres zu tun, als erst einmal ein Bikini-Verbot an Ägyptens Stränden zu fordern. Die Muslimbrüder profilieren sich schon seit den siebziger Jahren erfolgreich mit der Forderung nach dem Kopftuch. Der Hijab ist eine islamistische Modeschöpfung: fest anliegend, die Brust bedeckend, weiß, beige oder dunkel, aber nie pink oder grün. Traditionelle Kopftücher sehen anders aus. Gerade in der Mittelmeerregion trugen die meisten Frauen ihr Kopftuch diesseits wie jenseits des Mittelmeers als Sonnenschutz bei der Feldarbeit. Noch in den siebziger Jahren erkannte man in Deutschland am Kopftuch nicht zuerst die Türkin, sondern die Aussiedlerin.
Aber die Islamisten schafften es, die weibliche Kopfbedeckung zum Parteisymbol zu machen beziehungsweise in Zeiten, in denen ihre Organisationen verboten waren, zum Ausdruck ihrer kulturellen Hegemonie. Die Uniformierung der Frauen begann in den siebziger Jahren, Ende der achtziger Jahre prägte die Frau im Hijab fast gänzlich das Bild der Städte in islamischen Ländern. Nun bedrängen viele Islamisten die Frauen, den Niqab (Gesichtsschleier) zu tragen.
In den fünfziger und sechziger Jahren hatten die meisten Frauen in den Städten Nordafrikas und des Nahen Ostens ihre Kopftücher abgelegt. Das Bild auf den Straßen glich dem in Europa und man hätte denken können, dass sich hier jenseits aller Religionen schlicht die Entwicklung zur modernen urbanen Gesellschaft in der Mode vollzog. Die neue Frauenmode war dabei auf beiden Seiten des Mittelmeers umstritten. Als die britische Designerin Mary Quandt 1965 den Minirock auf den Markt brachte, empfanden viele das Kleidungsstück als skandalös. In Frankreich verbot man 1967 den weiblichen Angestellten des Senats, im Minirock zur Arbeit zu kommen. Der Papst urteilte, der Minirock entwerte die Weiblichkeit. In Griechenland verbot man den Minirock und auch in Tunesien verhängte Staatschef Habib Bourguiba eine allgemeine Minirock-Sperre. Unaufgeregt gab man sich übrigens dagegen in Deutschland, wo dem Spiegel zufolge nicht einmal Ordensschwestern oder NPD-Abgeordnete etwas am Mini auszusetzen hatten und ein Leiter des Sittendezernats in Mainz sehr deutsch zusammenfasste: »Das gesunde Volksempfinden toleriert den Minirock.«
Hierzulande dauerte es noch einige Jahre, bis Feministinnen anfingen, am Mini rumzumäkeln. Aber von denen trugen auch einige kurze Röcke. Und so wurde zwar viel über Frauenmode diskutiert, aber zum politischen Symbol taugte sie nicht besonders.

Der Unterschied zwischen Diskussionen über ein politisches Symbol und solchen darüber, was sich schickt und was nicht, ist entscheidend, wenn man die Debatte um Kopftuch, lange oder kurze Röcke bei Musliminnen verstehen und bewerten will. Die Politisierung des weiblichen Körpers im Islamismus ist etwas anderes als konservativ-spießige Ansichten darüber, wie Frauen sich zu kleiden haben. Der Islamismus verteidigt keine traditionellen Werte und Modevorstellungen, er will auch nicht, wie er vorgibt, zurück in die Zeit des Propheten. Die eine Stelle des Koran, die eine weibliche Kopfbedeckung erwähnt, lässt vermuten, dass es sich dabei um ein locker um den Hals geschlagenes Tuch handelt, das beim Verlassen des Hauses über den Kopf gezogen werden soll. Also etwas völlig anderes als der strenge islamistische Hijab. Der Hijab ist eine Abgrenzung vom Westen. Darum musste er auch anders aussehen als herkömmliche Kopftücher. In der islamistischen Ideologie dient die Abgrenzung vom Westen, ein religiöser Antiimperialismus, als Ersatz für andere politische Konzepte. Allerdings haben die Islamisten diese Abgrenzung nicht erfunden. Briten und Franzosen geißelten als Kolonialherren das Kopftuch der muslimischen Frauen als Zeichen mangelnder Zivilisation und brachten dadurch schon Anfang des 20. Jahrhundert Kopftuchgegner und -befürworter in politische Frontstellung.
Wenn nun in Frankreich Schuldirektoren Schülerinnen nach Hause schicken, weil ihre Röcke zu lang sind, dann wiederholen sie diese Politisierung und schaffen ein neues Symbol, das sich allerdings kaum dafür eignet. Lange Röcke sind immer wieder auch in Europa Mode gewesen. In der Süddeutschen Zeitung behauptete der Autor Klaus Simon 1990, ob die Mode gerade lange oder kurze Röcke bevorzuge, ließe Rückschlüsse über die wirtschaftliche Lage zu. »Rutscht der Rocksaum nach oben, steigt der Börsenindex.« Sicherlich wollten die französischen Schuldirektoren aber nicht einfach der schwächelnden französischen Wirtschaft auf die Beine helfen. Bei Frankreichs Muslimen führte das Langrock-Verbot sogleich zu Solidarisierungen. Gruppen von Musliminnen ohne Kopftuch und in ganz und gar unislamisch anmutenden, aber sehr langen Röcken fotografierten sich und forderten, dass man sie bei ihren Modeentscheidungen in Ruhe ließe.

Doch während noch vor wenigen Jahren die französische Debatte zu weltweiten Muslima-Pride-Aktionen geführt hätte, nehmen derzeit Musliminnen außerhalb Frankreichs kaum Notiz von der Posse. Das liegt auch daran, dass der Diskurs anderswo ganz anders läuft. Die Salafisten haben den Niqab und auch den Bart zum Symbol erhoben. Dass man nun also über Bartlängen diskutieren könnte, scheint man in Frankreich verpennt zu haben. Auf der anderen Seite stellen immer mehr Frauen in Nordafrika die mit dem Islamismus über sie gekommene Mode in Frage. Schon 2012 rief eine Gruppe ägyptischer Frauen zu einer Demonstration auf, bei der sie die schicken Kostüme ihrer Mütter aus den fünfziger Jahren tragen wollten. Daraus scheint nichts geworden zu sein. Ebenso wenig folgte jemand dem Aufruf des Journalisten Sherif al-Choubachi Mitte April zu einer Entschleierungsdemonstration auf dem Tahrir-Platz. Demonstrationen werden in Ägypten derzeit mit hohen Gefängnisstrafen geahndet. Da verwundert es nicht, dass niemand kam.
Wohl aber, bemerkt der Intellektuelle Hani Shukralla in al-Ahram Online, legten viele im persönlichen Umfeld das Kopftuch ab. Sie verbinden das nicht mit einer politischen Botschaft, wie es beispielsweise Feministinnen zuvor getan haben. Auch scheint sich darin keine Distanz zur Religion auszudrücken. Das Ablegen des Kopftuchs ist eine eher stille Ablehnung. Nicht nur die Muslimbrüder, auch die dem Regime unterstehende Universität al-Azhar, als einzige noch erlaubte religiöse Instanz, stellen das Kopftuch als unangreifbaren Befehl Gottes dar. Wer lesen kann, weiß, dass das nicht stimmt. So begreifen inzwischen manche, dass das Kopftuch schon lange kein religiöses Symbol mehr ist, sondern Markenzeichen der verhassten Muslimbrüder und des ebenso verhassten Regimes.