Die Rettungsprogramme retten Griechenland nicht

Krise als Dauerzustand

Die griechische Regierung hofft, bis Ende Juni eine Übereinkunft mit ihren Gläubigern zu erzielen. Ansonsten droht wieder einmal die Insolvenz. Ein Weg, um ein Abkommen zu erreichen, könnte die Drohung mit dem Austritt aus dem Euro sein.

Es sollte der Tag der Entscheidung sein, der Wendepunkt, an dem sich endgültig erweist, ob Griechenland weiterhin den Euro behält oder pleitegeht. Auch wenn der erwartete Showdown Ende vergangener Woche faktisch ausfiel, kann man zumindest eines konstatieren: Der Begriff der Krise wird im Fall Griechenlands bedeutungslos. »Krise« bezeichnet den Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung, die demnach entweder in eine Katastrophe mündet oder sich zum Besseren wendet. Was aber, wenn weder das eine noch das andere geschieht? Wenn auf das vermeintlich »allerletzte Angebot« bald ein neues folgt? Die Krise ist schon lange nicht mehr Ausnahme, sondern Dauerzustand, was den inflationär benutzten Begriff jeden Sinnes beraubt.
Die Entscheidung ist jedenfalls wieder einmal vertagt, diesmal auf Ende Juni. Erst dann will die griechische Regierung die im Juni fälligen Rückzahlungen in Höhe von 1,6 Milliarden Euro an den Internationalen Währungsfonds (IWF) auf einmal begleichen. Bis dahin hofft sie, ein Abkommen mit ihren Gläubigern zu erzielen. Kommt keine Einigung zustande, ist eine Insolvenz Griechenlands wohl unausweichlich, was wiederum fatale Folgen nach sich ziehen könnte. Aber selbst wenn eine Einigung erreicht werden sollte, droht bereits die nächste Frist. Bis Jahresende sind weitere Verbindlichkeiten, rund 20 Milliarden Euro, fällig.
Schon die aktuellen Rückzahlungen sind ohne weitere Hilfen von Europäischer Zentralbank (EZB), EU-Kommission und IWF von der griechischen Regierung nicht zu leisten. Seit geraumer Zeit haben die Gläubiger die Auszahlung eigentlich zugesagter Kredite aus dem zweiten Rettungsprogramm in Höhe von rund zwölf Milliarden Euro ausgesetzt. Weitere Mittel gibt es erst, wenn die Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras jene Auflagen erfüllt, unter denen das Geld einst bewilligt wurde.
Die Gläubiger verlangen unter anderem Kürzungen im Sozialbereich. Die griechische Regierung soll demnach unter anderem drei Milliarden Euro bei den Renten einsparen und die Mehrwertsteuer erhöhen. Zudem soll der griechische Staat einen Haushaltsüberschuss vor Zinszahlungen von drei Prozent des Bruttosozialprodukts erzielen. Damit entfiele fast jeder Spielraum für Sozialprogramme.

Die Regierungskoalition wurde jedoch wegen ihres Versprechens gewählt, genau solche Vorgaben künftig nicht mehr zu akzeptieren. Und zumindest Teile von Tsipras’ Parteienbündnis Syriza sind auch gewillt, sich dem Drängen der Gläubiger zu widersetzen. Die von den Gläubigern geforderten Rentenkürzungen und eine Steuererhöhung würden die Ärmsten treffen und seien »extreme Sparmaßnahmen«, schimpfte der Parteisekretär von Syriza, Tasos Koronakis. Es sei »eine neoliberale Schocktaktik, die nicht Grundlage einer Einigung sein kann«. Das vorgelegte Paket sei nichts anderes als ein Versuch, Griechenland »Neokolonialismus« aufzuzwingen, sagte Sozialminister Dimitris Stratoulis in einer Parlamentsdebatte. »Wenn die Regierung diesen Vorschlag akzeptiert hätte, wäre das ein ungeordneter Rückzug und eine Vereinbarung zur Unterwerfung gewesen.«
Tatsächlich ist die Bilanz der bisherigen »Rettungsprogramme« mehr als zweifelhaft. Griechenland hat als Folge der harten Sparauflagen rund ein Viertel seiner Wirtschaftskraft eingebüßt. Die Realeinkommen der privaten Haushalte sind durchschnittlich um ein Drittel zurückgegangen, die Arbeitslosenquote hat sich mit 27 Prozent mehr als verdreifacht. Und trotz des größten Schuldenschnitts in der jüngeren Wirtschafts­geschichte sind die Verbindlichkeiten heute viel höher als zu Beginn des Hilfsprogramms: 2009 betrug die Schuldenquote noch 127,1 Prozent des griechischen Bruttosozialprodukts. Sechs Jahre und etliche Rettungs- und Sparprogramme später liegt die Quote bei 175 Prozent, was rund 313 Milliarden Euro entspricht. Besonders bitter stößt den Griechen auf, dass sie von den bereits ausgezahlten Mitteln so gut wie nichts erhalten haben. Sie dienen fast vollständig dazu, Altschulden abzulösen, Zinsen zu zahlen oder die maroden griechischen Banken zu kapitalisieren.
Auch international wird die Kritik an der Sparpolitik lauter. »Mehr Wachstum durch Austerität zu erzielen, ist die am wenigsten plausible Variante der Wirtschaftspolitik«, sagte der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers kürzlich auf einem Treffen der Finanzminister der sieben führenden Industrienationen. Der deutsche Ansatz sei völlig verfehlt. Erst vergangene Woche forderten 26 bekannte Ökonomen, darunter der US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, in einem offenen Brief die europäischen Regierungschefs dazu auf, das »Spardiktat« zu beenden. »Die Zukunft Europas ist in Gefahr«, lautet der erste Satz des Schreibens.
In Deutschland zeigt man sich indes von der Kritik wenig beeindruckt. Hier hält man im Wesentlichen an der bisherigen Sparpolitik fest. Unterstützt wird die Bundesregierung dabei auch von den meisten Euro-Staaten. Die Regierungen in Spanien und Portugal haben wenig Interesse an Erfolgen Syrizas. In beiden Ländern formieren sich oppositionelle Parteien, die sich an dem Kurs von Syriza orientieren und die den amtierenden Regierungen gefährlich werden können. Schließlich haben diese gegen große Proteste eine vergleichbar harte Sparpolitik in ihren Ländern durchgesetzt. Osteuropäische Euro-Staaten wie Slowenien oder Estland durchliefen in ihrer jüngsten Vergangenheit rigorose Austeritätsprogramme, die teilweise selbst griechische Maßstäbe übertrafen. Auch hier ist das Verständnis für die griechische Position sehr begrenzt. Finnland, die Niederlande und Österreich unterstützen schon seit langem die deutsche Haltung.
Unter den Euro-Ländern kann die Bundesregierung daher auf Unterstützung zählen, doch das heißt noch lange nicht, dass sie auch mit den anderen Gläubigern einig ist. So pocht der IWF zwar auch auf die strikte Einhaltung der bisherigen Vereinbarungen. Weil Griechenland diese ­offensichtlich nicht erfüllen kann, drängt er allerdings konsequent auf einen weiteren Schuldenschnitt. Nur so erhalte das Land wieder eine wirtschaftliche Perspektive – und nur wenn eine ­realistische Aussicht besteht, dass sich ein Land wieder erholen kann, darf der IWF überhaupt weitere Kredite vergeben.

Ein Schuldenschnitt ist wiederum eine Option, die die Bundesregierung auf jeden Fall vermeiden möchte. Bislang hat sie nur Bürgschaften für Griechenland gewährt, die im ersten Hilfspakt von der staatlichen KfW-Bankengruppe ausgezahlt wurden, und im zweiten Hilfspaket gegenüber dem Rettungsfonds EFSF. Insgesamt bürgt Deutschland für knapp 54 Milliarden Euro und hat bislang sogar an der sogenannten Rettung verdient. Seit 2010 hat der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble Zinsen in Höhe von 360 Mil­lionen Euro aus Athen erhalten. Falls Griechenland jedoch pleitegeht oder einen weiteren Schuldenschnitt erhält, sind die Bürgschaften ganz oder zumindest teilweise verloren.
Auch die Haltung der Europäischen Zentralbank ist zumindest widersprüchlich. Einerseits drängt sie vehement auf die Einhaltung der Spar­auflagen und schließt andernfalls weitere Kredite für Griechenland kategorisch aus. Anderseits bewilligt sie der Regierung sogenannte Notfallkredite, damit die Banken überhaupt überleben können. Ohne diese Hilfszahlungen, die sich mittlerweile auf rund 100 Milliarden Euro summieren, wäre das griechische Finanzsystem schon längst kollabiert.

Ein Kompromiss, um wenigstens die kommenden Monate zu überstehen, könnte in einer Verlängerung der Laufzeiten für Kredite und Zinszahlungen bestehen. Faktisch käme dieses Vorgehen einem Schuldenschnitt gleich, ohne dafür jedoch den Begriff zu gebrauchen. Die Gläubiger könnten einen niedrigeren primären Haushaltsüberschuss akzeptieren. Im Gegenzug müsste die griechische Regierung, wenn sie die Mehrwertsteuer auf Strom oder Medikamente nicht erhöhen will, andere Leistungen verteuern.
Ob Tsipras in den kommenden Wochen doch noch ein Abkommen mit allen Beteiligten erreichen kann, weiß er vermutlich selbst nicht. Er muss den Gläubigern mit einem Euro-Austritt drohen. Darin unterscheidet er sich auch explizit von den vorherigen Regierungen, die einen solchen Schritt nie ernsthaft in Erwähnung zogen und deswegen über so gut wie keine Verhandlungsmacht verfügten. Anderseits muss er alles dafür unternehmen, um den Euro zu behalten. Eine Wiedereinführung der Drachme würde Griechenland in die Steinzeit katapultieren, warnte kürzlich Finanzminister Yanis Varoufakis. Zugleich muss Tsipras den Kritikern in seiner Partei ent­gegenkommen, ohne sich ihre Forderungen nach einem Euro-Austritt zu eigen zu machen.
Wie paradox die Situation ist, zeigte sich Ende vergangener Woche im griechischen Parlament. Dort zog Tsipras über die Vorgaben der Gläubiger her und bezeichnete sie als »eine bösen Über­raschung« – um anschließend zu betonen, dass man einer Einigung so nahe sei wie noch nie. Vielleicht gelingt es Tsipras mit seiner Taktik, die drohende Staatspleite noch abzuwenden. Aber nach der Krise ist vor der Krise: Er kann sich sicher sein, dass der nächste Showdown nicht lange auf sich warten lässt.