»Der Tödliche Pass« feiert Geburtstag

Nichts für klassische Kurvensteher

Das Fußballmagazin Der Tödliche Pass feiert seinen 20. Geburtstag. Eine Gratulation.

Viele Fußballjournalisten träumen von einem zweistündigen Exklusiv-Interview mit Pep Guardiola, ein paar vielleicht auch von einem Angelausflug mit U21-Nationaltrainer Horst Hrubesch. Stefan Erhardt dagegen träumt davon, Peter Handke auf einem Dorfbolzplatz zu treffen und mit ihm darüber zu reden, warum »sowohl in seiner Prosa als auch in seinen Theaterstücken immer wieder Fußball auftaucht – als konkrete Szene, Metapher oder Motiv«.
Erhardt ist einer von drei Redakteuren und Verlegern des Fußballmagazins Der Tödliche Pass, das in diesen Tagen seinen 20. Geburtstag feiert, und von den meisten Fußballjournalisten unterscheidet er sich schon einmal dadurch, dass er seinen Lebensunterhalt nicht als Berichterstatter verdient. Hauptberuflich ist der Anhänger der Frankfurter Eintracht in München in der Lehrerausbildung tätig, er schreibt nebenbei. Letzteres gilt auch für die anderen beiden Macher von Der Tödlichen Pass: Johannes John, Fan von FC Bayern und Bob Dylan (pro Heft mindestens ein Songtextzitat), ist Philologe und Redakteur der historisch-kritischen Ausgabe des Gesamtwerks Adalbert Stifters. Claus Melchior (1860 München) ist Buchhändler.
Die drei sind also Fußballfans, die in ihrer Freizeit eine Zeitschrift herausbringen, aber ein Fanzine ist Der Tödliche Pass deshalb noch lange nicht. In diese Kategorie wurde Der Tödliche Pass hin und wieder gesteckt, weil er lange im DIN A5-Format erschien. Die Zielgruppe der Münchner war aber nie der klassische Kurvensteher und tendenzielle Allesfahrer. In der aktuellen Ausgabe der Vierteljahreszeitschrift nahm man den Terroranschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo zum Anlass, sich mit der Haltung des Satiremagazins zum Thema Fußball zu beschäftigen. »Meine liebsten Fußball-Hasser« lautet die Überschrift. Autor des Textes ist der in Frankreich lehrende Sportsoziologe Albrecht Sonntag. Ein anderer Mitarbeiter aus dem universitären Milieu schreibt nicht unter seinem bürgerlichen Namen: Der Mann, der beim Tödlichen Pass Bruno Laberthier heißt – bei der Wahl des Pseudonyms ließ er sich also von einem Trainer inspirieren, der dem Labern nicht abgeneigt ist –, arbeitet sonst als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Uni Wuppertal.
Was fließt ein in die Produktion der Kleinstzeitschrift, die 350 Abonnenten hat? Im Interview spricht Erhardt kurz von Lewis Mumfords Buch »Mythos der Maschine – Kultur, Technik und Macht«, er erwähnt es, weil er es hilfreich findet, um den FC Bayern zu beschreiben. Mit dem Begriff »Marke« werde man dem Klub kaum noch gerecht, Erhardt spricht eher von einer »Maschine«, die betrieben werde von »Besessenen« wie Guardiola, der Erhardt an »das Tier aus der Muppet-Show« erinnert, und »Springteufel« Sammer. Der Redakteur aus München verweist »besonders auf den zweiten Teil, ›The Pentagon of Power‹, in dem die Moderne als Entwicklung hin zu einer ›Megamaschine‹ skizziert wird, auch im Bereich Kultur, dabei Religionen mit einbeziehend«.
Dass hinter dem Blatt, das sich dem Untertitel zufolge der »näheren Betrachtung des Fußballspiels« verschrieben hat, Akademiker stehen, stellen die Macher bereits im Impressum heraus: John und Melchior firmieren hier mit ihrem Doktortitel. Am Anfang sei das auch eine Art Marketing-Gag gewesen, sagt Stefan Erhardt. Zum Zeitpunkt der Magazingründung sei es ungewöhnlich gewesen, dass sich Promovierte mit Fußball beschäftigen. »Inflationär wurde das ja erst Ende der neunziger Jahre.« Jeder Intellektuelle, der zum Fußballfan geworden war oder angesichts des sich wandelnden Zeitgeists nun meinte, sich dazu bekennen zu können, glaubte, nun auch über Fußball schreiben zu können. »Das war nicht alles schlecht«, was im Zuge dieser Entwicklung erschienen sei, sagt Erhardt, aber es seien auch viele Beiträge darunter gewesen, die die Reflexion über Fußball nicht vorangebracht hätten.
Der Name der Zeitschrift ist eine Reaktion auf die teilweise martialische Sprache im Fußball-Milieu. Vor einigen Jahren brachten die Münchner einmal ein Porträt jenes Mannes, dem man nachsagte, die Kunst des tödlichen Passes besonders gut zu beherrschen: Uwe Bein. Gelegentlich erscheint die Rubrik »Der tödlichste Pass«, eine Chronik von Todesmeldungen, die etwas mit Fußball zu tun haben.
Die Liebe zur Literatur, die in Erhardts Wunsch nach einem Treffen mit Handke zum Ausdruck kommt, schlägt sich auch direkt im Heft nieder. Gerald Wenge beschrieb kürzlich in einem Artikel, warum er bei Bewegungen Karim Bellarabis immer an Ilkay Gündogan denken müsse, und zwar, so seltsam das klingen mag, wegen dessen genau gegenteiliger Körperhaltung. Verfasst ist der Text im Stil des österreichischen Schriftstellers Wolf Haas, und das liest sich dann so: »Der Gündogan immer so kerzengerade, wenn er nicht grad im Spital liegt, quasi Besenstiel, und der Bellarabi ganz gebeugt, Klappmesser Hilfsausdruck. Wie ein aufgescheuchtes Huhn rennt der da vorne hin und her, doch der Sprecher vom Privaten immer nur: ›Schnell ist er‹ und ›Toll!‹ und ›Bellarabi!‹, schon der Name hat’s ihm angetan, und du denkst die ganze Zeit, du willst dem Klose sein Kadaver zurück, der Bellarabi ist dir zu aufgeregt.«
Von anderen Fußballtiteln und sogar generell von fast allen anderen Zeitschriften hebt sich Der Tödliche Pass durch den hohen Anteil der Buchbesprechungen ab. 17 Textseiten sind in der aktuellen Ausgabe Rezensionen von Neuerscheinungen gewidmet, fast 20 Prozent des Heftes. Buchveröffentlichungen seien ein Anlass, »ein Thema in den Vordergrund zu rücken«, meint Erhardt. Er selbst hat eine umfangreiche Rezension über »Tempel der Körper« geschrieben, eine »Ketzerschrift« des Sportsoziologen Peter Kühnst. In der Besprechung finden sich Sätze wie »Die Transzendenz der individuellen Bedeutungslosigkeit, das ist das Geschäft der Religionen, aber auch des Sports.« Erhardt sagt, er habe über die Parallelen von Religionskult und Fußballkult ja schon viel gelesen, aber noch nie auf so erhellende Weise wie bei Kühnst. Zu Beginn der nuller Jahre hat sich Der Tödliche Pass mit dem Thema auch mal in einer längeren Geschichte befasst: Titelzeile damals: »Jesus lebt. Aber geht er auch ins Stadion?«
In Anlehnung an »Fußball wie noch nie« – ein Dokumentarfilm über den 2005 verstorbenen George Best, in dem die Kameras 90 Minuten ausschließlich auf den Protagonisten gerichtet sind – könnte man sagen, dass Der Tödliche Pass Fußballjournalismus wie sonst nie bietet. Das gilt auch für die Optik: Die reduzierte Schwarz-Weiß-Gestaltung lenkt die Aufmerksamkeit auf die Texte. Es gebe oft Fotos, »die wenig bis gar nichts mit Fußball zu tun haben«, aber sie hätten immer einen Bezug zur Jahreszeit oder zum Heftinhalt, sagt Erhardt. Mit dieser Art der Gestaltung habe man auch ein Gegengewicht setzen wollen gegen die Opulenz von kurzlebigen Fußballmagazinen wie Rund oder Player.
Im kommenden Jahr soll, nicht ganz pünktlich zum Jubiläum, ein Best-of-Band in Buchform erscheinen. Der Schwerpunkt wird die Entwicklung der Fußball-Berichterstattung in den vergangenen 20 Jahren sein. Der Arbeitstitel: »Fußballkritik«, angelehnt an die Zeitschrift Sportkritik, die zwischen 1992 und 1994 erschien. Der Titel bilde »in nuce das ab, um was es uns geht«, sagt Erhardt. Beim Tödlichen Pass versteht man Fußballkritik als Disziplin wie die Literatur- oder Filmkritik, als ein Genre, das eigene Beurteilungskriterien herausgebildet hat. Fußballkritik in diesem Sinne ist dann schon etwas anderes als ein »kritischer« Artikel über RB Leipzig.
Welcher Fußballfreund hat die Muße, Texte zu lesen, die von einer gewissen wissenschaftlichen Ambition oder literarischem Ehrgeiz geprägt sind? Man erlebe es immer wieder, dass Leserinnen und Leser, die ihr Abo kündigen, sagen: »Tolles Heft, aber wir kommen mit dem Lesen nicht mehr nach.« Die Redakteure hören das von Bekannten, die eine Tageszeitung und eine Musikzeitschrift und vielleicht auch noch ein internationales Magazin abonniert haben.
Zu den »Lesern der ersten Stunde«, wie Erhardt sagt, gehöre Günther Koch. Der hat einmal über den Tödlichen Pass gesagt, er müsse den einen oder anderen Artikel zweimal lesen, so komplex seien die. Nun sind im Journalismus nicht wenige Menschen, die in Schweiß oder in Tränen ausbrechen, wenn ihnen Leser sagen, sie hätten ihre Artikel zweimal lesen müssen. Erhardt indes hat anders reagiert: »Ich habe ihm gesagt, dass ich das als Kompliment auffasse.«