Der Film »Victoria« von Sebastian Schippers

Zwischen Nacht und Tag

Der 140-Minuten-Rausch aus Gangsterfilm, Lovestory, Buddymovie und Berliner Nachtleben war ein Höhepunkt der Berlinale. Jetzt kommt Sebastian Schippers »Victoria« ins Kino. Der Film ist eine Sensation.

Unter den Titeln liegen elektronische Beats. Dann unscharfe Silhouetten im nebeligen Stroboskopgewitter. Die Kamera wandert über einen ranzigen Dancefloor und bleibt wie zufällig an einer tanzenden jungen Frau hängen. Sie bindet sich die Haare zusammen, ein letzter Euphorieschub, dann schert sie aus. Aber sie kann sich nicht losreißen, noch nicht, ein letzter Schnaps, ein schlecht getimter Flirtversuch mit dem Barkeeper, die Toilettenschlange ist zu lang, dann erst verlässt sie den Club. Eigentlich ist die Nacht für die titelgebende Hauptfigur vorbei.
»Victoria« erzählt die Geschichte eines Bankraubs, und von zwei schicksalhaften Stunden zwischen Berliner Nacht und Tag, die auf diesen Prolog folgen. Die junge Frau trifft vor dem Eingang auf vier Jungs, die an der Tür gescheitert sind, »real Berlin guys«, wie sie sich selber vorstellen, und treibt mit ihnen durch die Straßen. Sie klauen Zigaretten und Bier in einem Spätkauf und hängen später auf irgendeinem Dach herum. Man erfährt, dass die Spanierin Victoria neu in der Stadt ist und in einem Café arbeitet, und sieht, wie Sonne, einer der Typen, und sie miteinander flirten. Und dann sitzen alle vier gemeinsam in einem geklauten Auto und fahren zu einem Banküberfall.
Man ahnt, wie das ausgehen wird – aber an diesem Punkt ist man den Figuren bereits so verfallen, dass man jede Wendung der durchaus unwahrscheinlichen Handlung willenlos mitgeht. Es gibt viele Momente in »Victoria«, die sich ins Gedächtnis einbrennen, aber selbst gemessen an diesem Maßstab haben die ersten 45 Minuten eine eigene Qualität. Der neugierige, scheue Blick der spanischen Schauspielerin Laia Costa in ihrer ersten Hauptrolle und das Charisma von Frederick Laus Berliner Vorstadthalunken sind schlicht atemberaubend. Und wie Victoria auf ihrem Heimweg immer wieder amüsiert innehält, wie ihr das laute Werben der Jungs schmeichelt und sie sich beinahe verwundert über sich selber darauf einlässt, wie Sonne ungelenk schwankt zwischen ehrlicher Zuneigung und Loyalität zu dem groben, gleichsam empfindsamen Jungmännergehabe seiner Clique – Franz Rogowski, Burak Yiğit und Max Mauff –, das gehört zu dem Wahrhaftigsten und Aufregendsten, was man im deutschen Film seit langer Zeit gesehen hat. So viel Ambivalenz ist selten geworden im Kino.
Die Entstehungsgeschichte des Films ist genauso erstaunlich wie das Ergebnis. Man muss zurückgehen bis zu dem Spielfilmdebüt des Regisseurs Sebastian Schipper, »Absolute Giganten« von 1999, der für viele zum Kultfilm wurde und seinen Schauspielern unvergessliche Rollen schuf, allen voran dem viel zu früh verstorbenen Frank Giering. Bis heute hat Schipper nur zwei Spielfilme nachgelegt, »Victoria« ist erst seine vierte Regiearbeit, und in den vergangenen Jahren war er als Schauspieler – unter anderem in Tom Tykwers Beziehungsreigen »Drei« und als feste Rolle im NDR-Tatort – präsenter denn als Regisseur.
Es waren auch diese langen Distanzen zwischen seinen Filmen, die Schipper erklärtermaßen dazu gebracht haben, die erstarrten Produktionsrituale des Filmemachens hinter sich zu lassen und sich ganz dem Moment anzuvertrauen. »Victoria« ist in einer einzigen Kameraeinstellung gedreht und erzählt seine Geschichte in Echtzeit ohne Schnitt. Unter der Prämisse, dass selbst der langweiligste Banküberfall, bei dem ein paar schlecht organisierte Typen ein paar tausend Euro aus einer Bank herausholen, das Spannendste sein könnte, was einem im Leben widerfährt, schrieb Schipper ein nur zwölfseitiges Drehbuch und überließ es nach dreimonatiger Probenarbeit seinen Schauspielern, die Dialoge während der Aufnahme zu improvisieren. Der dritte von drei möglichen Versuchen, zwischen denen jeweils eine Woche lag, ist dann zu dem Film geworden, der nun in die Kinos kommt.
Von der ersten Sekunde an heftet sich die Handkamera von Kameramann Sturla Brandth Grølen an die Figuren und folgt ihnen über zwei Stunden, in Fahrstühle, auf Dächer und in Tiefgaragen, bei diversen Autofahrten und durch die verschiedenen Lichtstimmungen der Berliner Dämmerung. »Victoria« ist erst der zweite Spielfilm, der in nur einer Einstellung gedreht wurde, entzieht sich aber im Gegensatz zu dem saturierten »Russian Ark« von 2002 (Regie: Alexander Sokurow), entstanden in der Eremitage in Sankt Petersburg, der in der Filmherstellung üblichen Kontrolle. Der Durchschnittszuschauer mag sich in manchen absichtsvoll unchoreographierten Momenten nach der mittelmäßigen Übersichtlichkeit seiner Fernsehkrimis sehnen, aber die formale Konsequenz lässt ihn an jedem Vorgang der Figuren, an jedem ihrer Erlebnisse, mit großer Nähe teilhaben.
Das Ergebnis ist von beklemmender Intensität. Man meint, die latente Möglichkeit des Scheiterns, die absurde Waghalsigkeit und physische Anstrengung des Unterfangens im Spiel der Schauspieler zu spüren. Selbst die weniger plausiblen Wendungen des Plots stellt man nicht infrage, weil man doch unmittelbar dabei ist: Wenn die Figuren es in diesem Moment erleben, wie könnte man als Zuschauer daran zweifeln? Der inszenatorische Ansatz funktioniert so gut, dass man sich fragt, warum eigentlich nicht schon mehr Filme auf diese Weise entstanden sind, seit die digitale Filmaufzeichnung es ermöglicht.
Zu Beginn des Films fungieren die Beats von DJ Koze als Taktgeber. Ein gleichmäßiger Rhythmus, typisch für die Berliner Nacht, der auch später unhörbar unter den Bildern liegt. Aber »Victoria« ist kein Clubfilm, und als er noch einmal dorthin zurückkehrt, nimmt Schipper die Beats dann auch zugunsten der Score-Musik von Nils Frahm zurück – es gehört zu den magischsten Augenblicken des Films, wenn seine Helden sich in einem letzten retardierenden Moment noch einmal feiern, bevor sie mit der schmerzhaften Konsequenz antiker Tragödien einem furiosen Finale entgegensteuern. Der eigentliche Rhythmus aber ist die improvisierte Sprache, diese radebrechende Melodie aus Deutsch und Englisch, die sich mit den Bildern und der Musik zu einem Sound verbindet, der bislang ungehört im deutschen Film war. Dieser Sound klingt so cool, sexy und aufregend, dass man kaum glauben mag, dass »Victoria« in der hiesigen Gremienlandschaft aus Filmförderungen und Senderredaktionen entstanden ist.
Nicht nur wegen des Genres und der Geschichte muss man an den legendären »Außer Atem« denken. Jean-Luc Godards Debütfilm von 1960, der als Begründer der französischen Nouvelle Vague gilt, war Verbeugung und Abgesang auf das Genrekino Hollywoods gleichermaßen. Und so wie Godard damals alle formalen Konventionen eingerissen und lustvoll durcheinandergewirbelt hat, so hat auch Schipper sie mit seinem one take gesprengt und durch eine inszenatorische Haltung ersetzt, die in ihrer Konsequenz filmisches Neuland betritt. Laia Costa und Frederick Lau kommen einem vor wie Jean Paul Belmondo und Jean Seberg von Berlin: er der kleine, erfolglose Gangster mit der notorischer Kippe im Mundwinkel und sie das Mädchen von nebenan, so attraktiv, dass einem die Sprache wegbleibt. Am Ende von »Außer Atem« war Jean Paul Belmondo zum Star geworden und am Ende von »Victoria« ist auch Frederick Lau endgültig zu dem Star aufgestiegen, der er eigentlich immer schon war, so wenig kann man sich an seinem Spiel sattsehen.
»Victoria«, diese irre Tour de Force, ist paradoxerweise nicht deshalb so kraftvoll, weil die Produktion mit den Mitteln des Films zu überwältigen versucht, sondern gerade weil sie darauf verzichtet. »Victoria« ist idealistisches Kino in reinster Form, eine emotionale Achterbahnfahrt, die einen hoffen lässt, dass der Film niemals enden möge.
Eine Woche nach dem Kinostart wird der deutsche Filmpreis verliehen und verdientermaßen ist »Victoria« siebenmal nominiert – darunter in den Hauptkategorien bester Spielfilm, beste Regie, beste weibliche und männliche Hauptrolle sowie beste Kamera, Musik und Tongestaltung – und wird wohl nicht wenige davon auch gewinnen. Es fällt nicht schwer vorherzusagen, dass er Spuren hinterlassen wird, auch international. Selten war das einem deutschen Film so zu gönnen wie diesem.

Victoria (D 2015). Regie: Sebastian Schipper. Darsteller: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski. Kinostart: 11. Juni