Die todsichere Hitmaschine von Ableton

Von Maschinen geküsst

Die Software-Firma Ableton entwickelt nicht nur eines der gegenwärtig populärsten Musikprogramme, sondern verlegt nun auch einen Kreativitätsratgeber. So irdisch wie heutzutage war die Inspiration noch nie. Und dermaßen auf Technik fixiert auch nicht.

Was lässt einen eigentlich glauben, weder Leonard Cohen noch Laurie Anderson hätten jemals Kreativitätsratgeber benutzt? Oder David Bowie? Schreibblockaden sind sie sicherlich alle im Laufe ihrer künstlerischen Laufbahn begegnet. Und jeder von ihnen wird schon in der Komposition festgesteckt haben mit dem Gefühl, einen Song niemals vollenden zu können. Das gehört praktisch zum Job des Künstlers dazu. Genauso allerdings wie Strategien zur Überwindung solcher Krisen. Trotzdem traut man es den musikalischen Großkünstlern nicht zu, sich in die Niederungen der Selbstüberlistung – und was sollten Kreativitätstechniken anderes sein? – zu begeben. Aber mal im Ernst: Wie gut wäre »Pet Sounds« von den Beach Boys eigentlich geworden, wenn Brian Wilson noch ein bisschen ­fokussierter und systematischer vorgegangen und ihm die Musik zu allen Zeiten seines Lebens leicht aus der Feder geflossen wäre? Allein die Frage kommt einem anmaßend vor.
In Wahrheit nämlich sind der Glaube an den Kuss der Muse mit all seinen spinnerten Facetten und der Wunsch danach, Talent und Begabung könnten so etwas wie angeboren sein, nach wie vor selbst unter den ärgsten Zweiflern wirksam. Ein kleines bisschen zumindest. Die einen nehmen die entlastende Wirkung der von irgendeinem höheren Wesen oder der Natur gegebenen Fähigkeiten gern in Kauf: Weil mir die Begabung nicht in die Wiege gelegt wurde, muss ich gar nicht erst zum Federkiel greifen, um ein Notenblatt damit zu besudeln. Und die anderen, vielleicht könnte man sie der Einfachheit halber Durchschnittsmusiker nennen, glauben am liebsten an sich selbst. Und wenn selbst das nicht hilft, vertrauen sie auf die Inspiration aus der Steckdose. Vielleicht können die zahllosen Geräte zur Musikproduktion helfen. Kunst ist machbar – alles eine Frage der Technik. Und der richtigen Tipps.
»Ich bin der Musikant mit Taschenrechner in der Hand« sangen Kraftwerk 1981. Der Stellenwert von Technik im Produktionsprozess insbesondere elektronischer Musik ist seitdem unaufhaltsam gewachsen. Der Markt ist unüberschaubar, ständig findet irgendwo eine Messe statt, um die jüngsten Errungenschaften zu präsentieren. Gefeiert werden sie in unzäh­ligen Special-Interest-Medien, die sich vorgeblich den technischen, sehr häufig digitalen, Verfahrensweisen des Komponierens und Aufnehmens widmen. Parallel wird das halbe Internet vollgeschrieben und mit Filmen überflutet, die jede Kleinigkeit, alle Feinheiten jeder Software, jedes soeben auf dem Markt erschienene Instrument vorführen und erklären. Und immer kennt sich einer noch besser aus und gibt seinen Senf dazu ab. Inzwischen könnten diverse Firmen praktisch auf ihr Marketing verzichten, immer gibt es schon Leute, die sich im heimischen Hobbykeller dabei gefilmt haben, wie sie das neueste Gerät ausprobieren. Ein gearhead zu sein ist schon lange nichts Verwerfliches mehr.
Dabei scheint sich die Nachfrage nach den passenden Instrumenten zusammen mit der technischen Entwicklung verschoben zu haben. War der Durchschnittsmusiker vor Jahren noch auf der Suche nach dem geeigneten Werkzeug, um die munter zusammengeklaubten Einzelteile seiner Musik und seines Studios zu montieren, erwartet er mittlerweile einen Ikea-Bausatz, der den Treibstoff zur Fertigung gleich mitliefert: Kreativität. Vor wenigen Tagen warb die Firma Native Instruments, einer der großen Player auf dem Markt digitaler Musik-Soft- und -Hardware, mit einer Weiterentwicklung eines ihrer Bestseller-Geräte: »Machen Sie Musik mit einem Instrument des 21.Jahrhunderts.« Das Gerät sei nicht nur »leicht zu bedienen«, es sei auch ein »vielseitiges, fortschrittliches Kreativwerkzeug«.
Davon stehen dem Musiker von heute viele zur Verfügung. Das Nervenzentrum beinahe jeder Musikproduktion aber stellt die sogenannte Digital Audio Workstation, kurz DAW, dar. Vereinfachend gesagt handelt es sich dabei um ein komplexes Computerprogramm zur Aufnahme, Anordnung und Manipulation von Sounds. Neben zahlreichen kostenfreien Programmen sind es vor allem Apple mit einer DAW namens Logic, Avid mit Pro Tools, Steinberg mit Cubase und Ableton mit Live, die sich durchgesetzt haben. Die Musikinstrumente von Ableton, einem in Berlin und Pasadena angesiedelten Unternehmen, kommen wegen ihrer Eigenheiten sowohl im Studio als auch auf der Bühne zum Einsatz, vorwiegend im Bereich elektronischer Musiken. Entwickelt wurde Live von zwei Musikern: Robert Henke und Gerhard Behles. Henke ist außerdem als Professor für Sounddesign an der Universität der Künste Berlin tätig. Nicht zuletzt diese Konstellation – inklusive des ausgeklügelten Firmendesigns – dürfte zumindest in Deutschland mitverantwortlich dafür sein, dass Ableton Live einen guten Ruf besitzt.
Dieser Tage hat Ableton einen entscheidenden Schritt getan und ein Buch veröffentlicht: »Making Music. 74 Creative Strategies for Electronic Music Producers« lautet der Titel, verfasst wurde es von Dennis DeSantis, der seiner Selbstauskunft zufolge klassische Komposition, Musiktheorie und Perkussion studiert hat und heute primär als Produzent von Techno und House tätig ist. Es ist, der Titel legt es nahe, ein Ratgeber und Kompendium, das gängige Probleme in schwierigen Phasen des Produktionsprozesses verzeichnet und passende Lösungsmöglichkeiten vorschlägt. Und zwar relativ genre-unabhängig. »Wenn Sie Musik mit Computern machen und jemals damit zu kämpfen hatten, ein Musikprojekt zum Abschluss zu bringen, ist ›Making Music‹ für Sie geschrieben.« DeSantis will auch diejenigen, die lediglich über ein begrenztes Vorwissen verfügen, zu ihrem Ziel führen: dem fertigen Song. Probleme stehen auf jeder linken Buchseite, Lösungen auf der rechten. Entweder wird in die Psychologie eingestiegen: Sie starren einen leeren Bildschirm an und wissen nicht, wie Sie beginnen sollen? Wie wäre es, alle Sounds aus einem einzigen Sample zu basteln? Oder technisch: Sie schrauben stundenlang an einer Kick-Drum und kommen nicht voran? Treten Sie einen Schritt zurück und achten Sie weniger auf Perfektion als auf Potential! Oder experimentell: Ihr Schlagzeug klingt statisch? Versuchen Sie es mit Anwendung X oder Y und wundern Sie sich, was geschieht! Und so geht es, piekfein im Firmengrau Abletons eingebunden, über 340 wunderbar verschwenderisch gelayoutete Seiten. John Cage kommt auch darin vor.
Also: Wäre »Pet Sounds« noch besser geworden, wenn Brian Wilson ein solches Buch zur Hand gehabt hätte? Oder müsste man mehr fragen: Hätte ihm ein solcher Ratgeber eher ins Handwerk gepfuscht, ihn zu einem Künstler unter vielen gemacht, sein Werk normiert, den kreativen Schaffensprozess eines musikalischen Genies kontaminiert mit technischen Erwägungen und Entscheidungsfindungen? Letzteres geschieht, nebenbei erwähnt, mehr oder weniger bewusst seit Jahrzehnten: die ideale Radio-Nummer ist auch heute selten länger als vier Minuten, weil eine Single-Seite in grauer Vorzeit nicht mehr Platz bot. Und selbst Igor Stravinsky, das war so ein Klassik-Heini, soll die Crescendi und Decrescendi seiner »Serenade for Piano« so angelegt haben, dass sie auf zwei Plattenseiten passte.
Abgesehen davon, dass es zur ästhetischen Normierung im Pop-Bereich keines Ratgebers bedarf, besteht die Stärke des Buches darin, zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit den Produktionsmitteln zu verführen. Weil mit der Demokratisierung der Produktionsmittel im Musikbereich DAWs unter Musikern in etwa so verbreitet sind wie Schreibmaschinen unter Schriftstellern, ist »Making Music« genauso gut wie jedes Creative-Writing-Seminar. Und wer das Buch mit seinem Instrumentarium auf die richtige Weise nutzt, indem er, wie DeSantis empfiehlt, hier und da hineinstöbert, um sich Anregungshäppchen zu holen, hat gute Chancen, tatsächlich Neuland zu betreten. Zumindest subjektiv empfundenes. Denn formale Pop-Standards lässt DeSantis außer Acht, sein Buch ist eben auch eine Aufforderung, das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine auszuloten.
In seinem Song »Computerfreak« stellte Heinz Strunk 2003 die Frage nach diesem Verhältnis auf seine pointiert-blöde Weise: »Wer regiert hier wen?« Im Bereich elektronischer Musik gilt seit langem: irgendwie regiert keine der beiden Seiten. Mark Fell, Autor ebenso ex­perimenteller wie gelungener elektronischer Musik aus Großbritannien, begnügt sich nicht mit der gängigen These, die Musikgeschichte hätte einen anderen Verlauf genommen, wenn andere Maschinen entwickelt worden wären. In einem Artikel des britischen Musik-Magazins Wire rückt er die Nutzungsweisen von Technik in den Mittelpunkt des kreativen Prozesses. So sei Acid House etwa eher zufällig entstanden, weil Künstler zu einem verstaubten Synthesizer griffen, mit dessen technischer Struktur sie nur bedingt vertraut waren. Sie drückten und probierten, worauf das Gerät Geräusche von sich gab, von denen die Musiker so begeistert waren, dass sie weiter damit arbeiteten. Im Englischen gibt es den schönen Begriff serendipity, der in ähnlichen Fällen gebraucht wird. Leo.org bietet als Übersetzung die wenig griffige Formel an: »die Gabe, zufällig glückliche und unerwartete Entdeckungen zu machen.«
Entscheidend ist, dass Acid House nicht die perfekte Umsetzung einer Vision genialischer Künstlerhirne war, sondern seinen Ursprung in der Interaktion mit einer Maschine hatte. Von Muse keine Spur, diese Musiker wurden sozusagen von der Maschine geküsst. Und der Limitierung. »Eigenmächtige Beschränkung« listet DeSantis als eine seiner Techniken auf: Es gibt endlose Möglichkeiten? Verengen Sie den Blick!
Und wenn es sein muss, auf Ihre eigene Mittelmäßigkeit, möchte man hinzufügen. Den Gedanken gar nicht erst aufkeimen lassen, man könne beispielsweise an der eigenen Perfek­tion zerschellen. Über sowas hat jemand wie Balzac in »Das unbekannte Meisterwerk« geschrieben, und das war schließlich im frühen 19. Jahrhundert! Denn auch diese Botschaft hält DeSantis für seine Leser bereit: Nicht können gibt’s nicht. Und nicht vollenden erst recht nicht. Ihr Werk ist nur das Ergebnis planvoll verwalteter Fähigkeiten und beliebig verschiebbarer Klangereignisse – Sie können es schaffen! So wie Pharrell Williams vielleicht, der täglich wahrscheinlich 50 Songs in seinen Programmen zurechtbastelt. Mit dem Unterschied allerdings, dass 49 in der Tonne landen und der 50. »Happy« heißt.
Diese Anrufung bereitet ein gewisses Unbehagen. Tatsächlich spart »Making Music« die Möglichkeit des Scheiterns – und sei es am eigenen Anspruch – so großzügig aus, wie jeder andere ernstgemeinte Ratgeber. Aber ein Erziehungsprogramm zur Selbstkritik zu liefern war auch nicht seine Aufgabe. Den Mythos vom Musenkuss anzugehen hingegen schon. Und so macht DeSantis den kreativen Prozess zu etwas sehr Irdischem, zerlegt ihn in seine Bestandteile, rationalisiert ihn sozusagen und verfolgt die Ideologie der Machbarkeit mit gera­dezu beängstigender Konsequenz. Sein Ratgeber kommt beinahe ohne musikalische Traditionen aus, ohne Lehren, ja, erklärtermaßen ohne Können und Wissen. Weil die Tracks sich nicht darum scheren, ob jemand in Harmonielehre aufgepasst hat. Oder jemals eine Ahnung hatte, was es mit der Befreiung der Dissonanz und diesem ganzen Zeug aus dem vergangenen Jahrhundert auf sich hatte. Ob DeSantis sich seiner Verantwortung bewusst ist, dass vorsichtig geschätzt Millionen äußerst mittelmäßiger Skizzen demnächst abgeschlossen und über das Internet auf uns einprasseln werden, ist eine andere Frage. Aber eigentlich kommt es auf Millionen nicht mehr an. Ein weiteres »Pet Sounds« wird wohl nicht dabei sein.

Dennis DeSantis: Making Music. 74 Strategies for Electronic Music Producers. Berlin 2015, Ableton, 340 Seiten, 25 Euro