Detlev Schneider im Gespräch über Heiner Müller

»Amalgam aus Pathos und Lakonie«

Heiner Müller wollte seine Stücke dem interpretativen Zugriff der Regie entziehen und entwickelte seine eigene Inszenierungsmethode. Mit der Angst des Dramatikers vor dem »Kannibalismus der Einfühlung« und seiner Auffassung über das Verhältnis von Theater und Politik beschäftigt sich der Kulturwissenschaftler Detlev Schneider.

In Ihrem Buch »Theater ist kontrollierter Wahnsinn« stellen Sie die Äußerungen Heiner Müllers zum Theater zusammen. Wie ist die Idee zu dem Buch entstanden?
Ich hatte eine Inszenierung von Müllers »Lohndrücker« aus dem Jahre 1958 gemacht, die keine Inszenierung im herkömmlichen Sinne war, sondern der Versuch, auf Müllers Quellen und Anfänge zu rekurrieren, nämlich das Hörspiel in den fünfziger Jahren. Eine weitere Überlegung war, dass ich mir diese Texte nicht mehr vorstellen konnte als einen dramatischen Spielanlass, weil der Gegenstand ein historischer ist. Die einzige Analogie, die mir einfiel, war, dass damals die Funktionäre der Einheitspartei meinten, die Arbeiter müssten für das gleiche Geld mehr arbeiten, sonst würde das System kaputtgehen, und heute die Funktionäre von McKinsey das Gleiche sagen. Diese Analogie fand ich zwar politisch interessant, aber das wäre für mich kein künstlerischer Anlass gewesen, das Stück zu inszenieren.
Was interessierte Sie an einer zeitgenössischen Interpretation von »Lohndrücker«?
Was mich interessierte, war die Sprache von Müller, die damals schon den Müller-Sound hatte, dieses Amalgam aus Pathos und Lakonie. Ich habe »Lohndrücker« inszeniert auf dem Dach des Theaters an der Parkaue als ein Hörspiel. Ich hatte zwei Spieler, die sämtliche Rollen spielten und diese Kunstsprache auskosteten, nicht zwei Schauspieler, die immer die Neigung haben, Rollen zu verkörpern und die Texte anzureichern mit sich selbst als Fleisch, was zum »Kannibalismus der Einfühlung« führt, wie Müller immer beklagte. Der eine ist Puppenspieler, und für Puppenspieler gibt es das Einfühlungsdilemma nicht, weil der Text und die Puppen getrennt sind. Der andere ist Lyriker. Und mit den beiden war ich zwei Tage im Tonstudio, wir haben eine Collage erstellt und die auf dem Dach gespielt. Rundherum war die Stadt mit den urbanen Geräuschen, das Bühnenbild waren die Bürohochhäuser und die Wohnmaschinen aus der DDR-Zeit. Ein weiterer Tonkanal war ein Megaphon, aus dem Müller selbst mit reflektierenden Texten zum Theater zu hören war.
Die Aufnahmen stammten aus den »Lohndrücker-Gesprächen«?
Aus den Gesprächen, aber auch aus Notaten, die während der Proben und der Dramaturgiesitzungen entstanden sind, als Müller »Lohndrücker« 1988 am Deutschen Theater in Berlin inszeniert hat. Er sah 1988 scharf und klar, dass er damals, Ende der fünfziger Jahre, einen Text geschrieben hatte, von dem er dachte, er würde dem Aufbau des Sozialismus nützlich sein, aber realisierte, dass er schon einen Geburtsfehler des Staates beschrieben hatte, der zur tödlichen Krankheit werden sollte. Solche reflektierenden Texte über Theater und sein Verhältnis zu Geschichte, Politik, anderen Künsten und Technologien kamen aus dem Megaphon. Dann kam Alexander Wewerka, der Chef des Alexander-Verlages, gleich nach der Vorstellung auf mich zu und fragte, ob ich das nicht erweitern und daraus ein Buch machen wolle.
Wie kam die Auswahl der Texte für das Buch zustande? Und wie wurden sie angeordnet?
Ich hatte überlegt, thematisch zu sortieren. Hier Shakespeare, da Brecht, dort Reflexionen über Beckett – das war die erste Idee. Das habe ich schnell verworfen, weil mir wichtiger schien, es strikt chronologisch zu machen, da es auf diese Weise gleichzeitig ein Parcours durch die Theaterentwicklung der letzten 40 Jahre des 20. Jahrhunderts ist, gesehen durch das Medium Heiner Müller. Das schien mir reizvoll.
Gegenstände, die früh in Müllers Werk auftauchen, Brechts »Fatzer« zum Beispiel, verändern sich über die Jahre, man kann eine Entwicklung der Gegenstände bei Müller sehen.
Müllers Denken bewegt sich in Kreisformen, in Spiralformen, aufsteigend. Es gibt Leitmotive bei Müller, die nach 20, 30 Jahren wiederkehren. Interessant ist, wie das Denken Permuta­tionen erfährt, wie sich Akzentsetzungen verschieben, wie etwas Neues wichtig wird. Brutal chronologisch wollte Müller seine Gesamtausgabe haben. Dieser Wunsch Müllers wurde nicht befolgt und man hat die klassischen Kategorien, Drama, Lyrik, Prosa, Aufsätze, Gespräche, bedient; das war das Problem zwischen Müller und Suhrkamp. Ich bin froh, dass ich diesem Wunsch bei meinem Buch nachkommen konnte.
Wie ist Ihre Beschäftigung mit Müller verlaufen?
Ich lernte Müller persönlich erst 1989 kennen. Zu DDR-Zeiten herrschte eine Konkurrenz zwischen Peter Hacks und Heiner Müller wie zwischen den Beatles und den Stones, da musste man sich entscheiden. Und ich war für Hacks, weil ich das eleganter fand, seine dialektischen Denkfiguren, das lag mir sehr viel näher. Müller kam mir schwerfällig vor, ich hatte mich damit wenig beschäftigt. Das fing erst schlagartig an, als die sogenannte Wende kam, also der Zusammenbruch der DDR, und die andere Wirklichkeit einbrach und es plötzlich ernst wurde mit all den Dingen, die Müller antizipiert hatte. Der Ernst der Verhältnisse brachte mir die Bedeutung von Müller bei.
Und die Heiterkeit von Hacks empfanden Sie als anachronistisch?
Die Heiterkeit von Hacks wirkte plötzlich etwas harmlos. Ich lernte Müller kennen und ich habe versucht, ihn zu überzeugen, im Festspielhaus Hellerau, das ich zu der Zeit leitete, eine Arbeit zu machen. Ich hatte vorgeschlagen, »Mommsens Block«, was auch die Geschichte von Müllers Schreibblockade nach 1989 ist, in eine szenische Form zu bringen, eine Art medialer Lesung, und dazu den Mitschnitt eines Grand Slam an die Wände zu projizieren. Dieses Top-Tennisturnier mit den körperlichen Exerzitien, den retardierenden Bewegungsfiguren dieses exklusiven Sports der Schönen und Reichen, dies zu konfrontieren mit einer schmerzhaften Schreibblockade. Leider starb Müller 1995, bevor wir das machen konnten.
Sie interessiert die Freiheit des Texts, der nicht mehr gebunden ist an die Szene. Schon die frühen Stücke von Müller sind ein vielstimmiger Chor, die Sprache hat eine faszinierende Spannung zwischen Umgangssprache und Kunstsprache, dem Vers.
Das hat einen epischen Charakter, keinen dramatischen mehr. Das bereitete Müller Unbehagen, wenn er sah, wie das auf dem damaligen Theater umgesetzt wurde. Das Theater war auf dramatische Szenen ausgerichtet, auf Protagonisten, die in Rede und Widerrede die dramatische Handlung vorantreiben, und die Kunsthaftigkeit der Texte war zweitrangig. Das hat Müller immer fürchterlich geärgert und deswegen suchte er neue Formen. Das war einer der Gründe, weshalb er so beeindruckt war, als er Pina Bausch erlebte, ein Theater ohne Text. Er sah weit und breit im deutschen Theater, in Ost wie West, keine zeitgenössischen Bilder des Tragischen und dann fand er diese Bilder in dem Theater der Pina Bausch. Es gibt diesen wunderbaren Satz von ihm: »Im Theater der Pina Bausch ist das Bild ein Dorn im Auge, die Körper schreiben einen Text, der sich der Publikation verweigert, dem Gefängnis der Bedeutung.« Und Müller fing selbst an inszenieren, weil es nicht nicht abzusehen war, dass seine Texte auf der Höhe ihrer ästhetischen Qualität auf der Bühne realisiert würden. Er fing an, da war er schon über 50 Jahre alt. Holprig am Anfang zwar, aber mit großer Verve. Das erste Stück war »Der Auftrag« im dritten Stock der Volksbühne 1980. In der zentralen Szene, »Der Mann im Aufzug«, ein intellektuelles Resümee dessen, was er meint, in surrealer Verdichtung und Verknappung, ließ er Jürgen Holtz auftreten. Der gesamte Raum, der Zuschauerraum und der Bühnenraum, fiel in totale Dunkelheit – ich glaube mich zu erinnern, dass sogar die Hinweise auf die Notausgänge ausgeschaltet waren –, und dann die Stimme von Holtz, der den Text, diese Partitur, so sprach, dass sich im Zuschauer selbst die Bilder herstellten, was immer ein Traum von Müller war, dass die Bilder nicht vorweggenommen werden; ein Moment von Spontaneität.
Müller stellte sich die Frage, wie man neben der Schauspielkunst auch die Zuschaukunst entwickeln könnte. Er versuchte die Autonomie des kunstgenießendes Subjekts zu entwickeln und damit die ästhetische Urteilskraft.
Es ist die politische Aufgabe von Kunst, die Urteilskraft, das Denken zu schulen und zu stärken, so dass der Zuschauer, der Leser, der Hörer, der Betrachter als Individuum ermächtigt wird, seine eigenen Bilder zu entwickeln, dass er nicht bevormundet wird. Das ist Müllers Kunstbegriff, das ist der Glutkern seines Theaterbegriffs. Das interessierte ihn auch an Robert Wilson. Wilson war jemand, der sicher nicht diese subtile politische Argumentation hatte. Müller hat in dem Theater von Wilson eine Möglichkeit gesehen, über das bürgerliche Theater hinauszukommen. In Europa war das Theater immer ein verkapptes Erziehungsins­trument gewesen, seit das Bürgertum aufkam, sich der Bühne bemächtigte, um sich mittels des Theaters seiner selbst als aufstrebende Klasse zu vergewissern. Und so kam auch der Schauspieler auf als verkörpernder, rollenspielender Mime, der ein Bürger war wie das Publikum. Das waren keine Kunstfiguren, wie noch im griechischen Theater. In der Antike wäre es niemanden eingefallen, Ödipus oder Elektra sein zu wollen, das war ein Sakrileg. Es wäre Totenschändung gewesen, weil Theater Toten­beschwörung war. Lebendige Personen zu imitieren war die Methode des Bürgertums vor allem seit August Wilhelm Iffland, gegen den sich aber schon im 18. und zu Beginn des 19. Jahr­hunderts die Besten gewehrt haben. Bei Schiller, auch bei Lessing, gibt es ein Unbehagen an der Theaterentwicklung. Und Goethe hat so etwas in seinem Weimarer Hoftheater erst gar nicht aufkommen lassen.
Was faszinierte Müller an der Theaterarbeit Robert Wilsons?
Müller hat fasziniert, dass Wilson die Texte als Texte stehen ließ. Wilson griff die Texte nicht an, für ihn waren die Texte ein Element, wie auch die Musik ein Element war. Er moderierte, statt zu inszenieren, damit die einzelnen Elemente mit gleichem Recht zur Geltung kommen; das war das frühe Theater von Wilson. Und das begeisterte Müller, weil es die Entgegnung war auf ein Theater, das alle Elemente zu einem harmonischen Ganzen fügte, in dem jedes einzelne für sich an Qualität verlor. Ich habe Müller einmal gefragt, was ihn eigentlich an Wilson interessiert, weil die Unterschiede zwischen den beiden auch offensichtlich waren, und er sagte: »Was uns verbindet, ist, was uns trennt. Der Bob versteht meine Texte nicht, aber er hat eine Ahnung, was sie sind und er benutzt sie wie Felsblöcke, im Ganzen. Und ich verstehe seine surrenden Bildlandschaften nicht zur Gänze. Wir wissen das voneinander.« Die Texte und die Bilder stehen nebeneinander und dazwischen tut sich ein Raum auf, in den der Zuschauer eintreten kann.
Wie ist das Verhältnis von Müller zum Film, denn im Film werden zumeist die Elemente miteinander vermengt?
Mit dem Film hatte er große Probleme. Er fand einzelne Filmemacher wie Jean-Luc Godard wichtig und inspirierend, aber zum Gros des Kinos hatte er ein distanziertes Verhältnis. »Blade Runner« war einer seiner Lieblingsfilme. Filme, die mit medialen Mitteln arbeiteten, die das Theater nicht hat, interessierten ihn. Theater ist zum Beispiel ein sehr langsames Medium, man kann nicht mit schnellen Schnitten arbeiten, da gibt es technische Limitierungen. Solche technischen Sachen interessierten ihn am Film, aber als Kunst interessierten ihn nur ausgewählte Filme. An Godard schätzte er die Technik, ab und zu schwarze Unterbrechungen, überdehnte Schnitte, einzusetzen, um den Filmschnitt zu einem wirklichen Schnitt zu machen, um das Kontinuum des Films zu unterbrechen. Er erzählte begeistert, dass er in New York ein Kino besuchte, das die ganze Woche nur Godard-Filme zeigte.
Müller nimmt immer wieder Bezug auf Brecht und dessen Versuch, vom epischen zum dialektischen Theater zu kommen und den Realismus neu zu fassen. Nach dem Verbot der »Umsiedlerin«-Aufführung 1961 sagte er: »Es geht eben nicht mit Realismus.« Wie ist Müllers Verhältnis zum Realismus?
Brecht wollte von dem Realismus der klassischen Prägung auch schon weg, es gelang ihm aber nicht. Müller sah das und reagierte darauf. Er sagte später einmal: »Das Theater kann sein Gedächtnis für die Wirklichkeit nur wiederfinden, wenn es sein Publikum vergisst. Der Beitrag des Schauspielers zur Emanzipation des Zuschauers ist seine Emanzipation vom Zuschauer.« Es kann nicht um das Bekannte gehen. Wirkung erzielt man, wenn man auf Erfolg verzichtet, wenn man verzichtet, in bekannten Formen zu arbeiten. Müller insistierte auf dem Theater als Kunstform und nicht als Vermittlungsform von außerästhetischen Zwecken durch künstlerische Mittel. Deswegen auch sein klares Verhältnis von Kunst und Politik. Müller sah die Konflikte der Wirklichkeit und war sich der Pflicht bewusst, auf diese einzuwirken, aber er sah es nicht als Aufgabe der Kunst, diese Konflikte schlicht zu bebildern. Kunst befähigt uns, die Urteile über die Wirklichkeit zu korrigieren, in dem wir mit anderen Denkweisen und anderen Wahrnehmungsformen konfrontiert werden. Wenn man Kunst und Politik in eins setzt, vergisst man, dass beide eine unterschiedliche Zeit, einen unterschiedlichen Raum haben, also die Kunst eine eigene Wirklichkeit hat. Wenn man der Kunst keine eigene Wirklichkeit zugesteht, büßt sie all ihre Wirkung auf die Wirklichkeit ein; und damit ihre wirkliche Subversivität.
Bei Müller gibt es in der Bearbeitung des Materials einen ästhetischen Zentralbegriff, den des Schönen. Welche Rolle spielt das Schöne bei Müller, warum ist es eine politische Kategorie bei ihm?
In dem letzten der intensiven Gespräche Müllers mit Alexander Kluge kommt er auf die schöne dialektische Volte, in der Kunst mit Schönheit politische Wirkung erzielen zu wollen. Die Schönheit kommt in der Wirklichkeit immer weniger vor, und deshalb ist sie die größte Provokation. Durchgearbeitete, geformte Schönheit, – nicht gefällige. Sie ist der schmerzhafteste Affront gegen diese Wirklichkeit, die nur Planloses kennt. Sie erfülle so die politische Aufgabe der Kunst, die Wirklichkeit unmöglich zu machen.

Heiner Müller: Theater ist kontrollierter Wahnsinn. ­Herausgegeben von Detlev Schneider. Alexander-Verlag Berlin, 2015, 262 Seiten, 19,90 Euro

Detlev Schneider ist Theater- und Kulturwissenschaftler und Kurator. Nach seinem Studium in Leipzig und Berlin publizierte er über über Szenographie und theatrale Grenzbereiche, kuratierte Ausstellungen und arbeitete am Festspielhaus Hellerau in Dresden. Derzeit arbeitet er an verschiedenen Projekten im Bereich Performance und Musiktheater. Detlev Schneider lebt in Berlin.