Die Wirtschaftskrise in Brasilien

Sparen für den Aufschwung

Brasilien steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise. Ein umstrittenes Sparprogramm soll diese beenden.

So hatte sich Brasiliens Präsidentin Dilma Rous­seff den Beginn ihrer zweiten Amtszeit wohl nicht vorgestellt. Im vergangenen Jahr war die Kandidatin der Arbeiterpartei (PT) voller Optimismus mit dem Slogan »Mehr Veränderungen, mehr Zukunft« in den Wahlkampf gezogen und knapp wiedergewählt worden. Nach einem halben Jahr im Amt sieht die Bilanz düster aus. Einer Studie des Statistikinstituts IBOPE zufolge erwarten nur noch 21 Prozent der Bevölkerung eine positive Zukunft für Brasilien – zu Beginn der ersten Amtszeit Rousseffs 2011 waren es noch 73 Prozent. Grund für den Pessimismus ist vor allem die wirtschaftliche Schwäche. Die einst stärkste Wirtschaftsmacht Lateinamerikas gerät immer weiter in eine Krise.
Experten rechnen für das Jahr 2015 mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 1,2 Prozent. Dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge würde damit Indien im weltweiten Vergleich an der bislang noch siebtgrößten Nationalökonomie vorbeiziehen. Die Inflation ist mit 8,47 Prozent so hoch wie seit 2003 nicht mehr. Auch die Autoindustrie, wichtiges Standbein der Wirtschaft Brasiliens, schwächelt, die Produktion ist im Vergleich zum Vorjahr um 19,1 Prozent zurückgegangen. Wegen der Korruption und bürokratische Hemmnisse kehren immer mehr Investoren Brasilien den Rücken.

Als Reaktion auf die Krise kündigte die Regierung an, den Bundeshaushalt um umgerechnet 20,8 Milliarden Euro zu kürzen. Ende Mai verabschiedete der Senat eine Reihe von Maßnahmen, die unter anderem die Gewährung von Arbeits­losengeld und Gehaltszulagen erschweren sollen. Auch Einschnitte im Gesundheits- und Bildungssektor, bei Infrastrukturprogrammen sowie im staatlichen Wohnungsbauprogramm »Mein Haus, mein Leben« werden erwartet. Das Ziel der Etatkürzungen ist ein Haushaltsüberschuss von 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. »Der Einschnitt muss hart sein, damit wir wieder wachsen können«, verteidigte Rousseff die Maßnahmen. Kritiker befürchten indes eine erhebliche Beschneidung von Arbeitnehmerrechten. In einem Schreiben wendet sich ein Bündnis aus Gewerkschaften, der Landlosenbewegung MST und Intellektuellen gegen die Sparpolitik. »Es ist nicht gerecht, dass die Ärmsten die Rechnung für die Krise zahlen sollen«, heißt es darin.
Die Austeritätspolitik der Regierung ist auch innerhalb des PT nicht unumstritten. Der PT-Senator für den Bundesstaat Rio de Janeiro und ehemalige Studentenführer, Lindbergh Farias, sagte, die Regierung spiele »mit dem Feuer« und setze aufs Spiel, was in den vergangenen zwölf Jahren erreicht worden sei. Paul Singer, Sekretär für Solidarische Ökonomie im Arbeitsministerium, fand klare Worte für den Kurs der Regierung: Die Sparprogramme bezeichnete er als »gewalttätig« und »unnötig«. Der in Österreich geborene ehemalige Gewerkschaftsfunktionär warnt nun sogar vor einer Spaltung der Partei. Auch der dem PT nahestehende Gewerkschaftsverband CUT übt ungewohnt scharfe Kritik. »Die Regierung hat sich für eine Kurswende in der Wirtschaftspolitik entschieden, mit Angriffen auf die Arbeiternehmerrechte und ohne den Dialog mit den Gewerkschaften zu suchen«, heißt es in einem Schreiben der CUT. Auf dem Parteitag des PT, der vom 11. bis 13. Juni in Salvador da Bahia stattfand, übertönten die Durchhaltparolen der Führungsriege allerdings die Kritik der Basis.

Der Handlungsspielraum der Arbeiterpartei ist wegen fehlender Mehrheiten im Parlament begrenzt. Das Sparprogramm wurde maßgeblich von Finanzminister Joaquim Levy vom Koalitionspartner, der Mitte-Rechts-Partei PMDB, auf den Weg gebracht. Dieser erklärte bei seinem Amtsantritt im Januar, er wolle die brasilianische Wirtschaft »aufräumen«. Dafür seien Opfer notwendig, betonte der als neoliberaler Hardliner geltende Politiker und ehemalige Banker. Seine Partei stellt im Zweikammersystem neben den meisten Senatoren auch die Präsidenten von Senat und Abgeordnetenkammer und konnte kürzlich den wichtigen Posten des Ministers für politische Artikulation, der zwischen Regierung und Parlament vermittelt, ergattern. Viele sprechen bereits von einer Machtübernahme durch den PMDB. Die Partei, die außer ihrer strikt wirtschafsliberalen Ausrichtung kein klares ideologisches Profil aufweist, macht zusammen mit anderen konservativen Parteien immer mehr ihren Einfluss im Parlament geltend. Im April verabschiedete die Abgeordnetenkammer, trotz Gegenstimmen des PT und linker Oppositionsparteien, den umstrittenen Gesetzesentwurf 4330/04. Das Projekt, das seit elf Jahren die Instanzen der Gesetzgebung durchläuft, sieht eine Freigabe der Nutzung von Personalverleihern und des Outsourcings für Unternehmen vor. Kritiker befürchten Lohndumping und eine Ausweitung prekärer Beschäftigung.
Die sogenannte bancada da bala (Fraktion der Kugel), eine Gruppe Abgeordneter, die der Waffenindustrie nahesteht und sich vor allem aus ehemaligen Polizisten und Militärangehörigen zusammensetzt, kämpft außerdem für eine Verfassungsänderung, mit der das Strafmündigkeitsalter von 18 auf 16 Jahre gesenkt werden soll.

Soziale Bewegungen, Gewerkschaften und große Teile der linken Opposition mobilisieren seit Wochen gegen die rechte Offensive im Parlament. »Wir werden nicht zulassen, dass die Arbeiter durch Kürzungen der Sozialausgaben und Outsourcing-Projekte geschädigt werden, während die Jugend durch die Herabsenkung des Strafmündigkeitsalters attackiert wird«, sagte Pedro Henrique Freitas von der Jugendbewegung »Levante Popular da Juventude« der Jungle World. Am 29. Mai gingen in ganz Brasilien Zehntausende gegen die Gesetzesvorhaben auf die Straße. Mehrmals versuchten linke Aktivisten, Sitzungen im Parlament zu blockieren. Noch in diesem Jahr soll es einen landesweiten Generalstreik geben. Trotz ihrer Entschlossenheit, die wirtschaftsliberale Agenda zu verhindern, haben die Proteste bei weitem nicht das Ausmaß der Massenproteste rechter Kräfte, die in den vergangenen Monaten im ganzen Land stattfanden. Hunderttausende gingen im März und April gegen Rousseff und ihren »korrupten PT« auf die Straße (Jungle World 3/2015). Viele deuten die jüngste Politik daher auch als Zugeständnis an die rechten Demonstrierenden.
Neben der rigiden Sparpolitik präsentierte Rousseff Anfang Juni ein Investitionsprogramm in Milliardenhöhe. Im Zuge des als historisch bezeichneten »Konzessionsplans« sollen bis 2018 umgerechnet fast 20 Milliarden Euro in den Ausbau der Infrastruktur investiert werden. Dadurch sollen wieder Investoren ins Land gelockt werden. Strukturelle Reformen, wie sie soziale Bewegungen seit Jahren fordern, sind nicht in Sicht. Vor allem eine Steuerreform wäre jedoch unabdingbar, um der sozialen Ungleichheit entgegenzuwirken. Einer Studie der Universität von Brasília zufolge ist diese trotz zwölf Jahren PT-Regierung und Sozial- und Transferleistungsprogrammen praktisch gleich ausgeprägt geblieben.
Die Partei, die vor 35 Jahren mit einem sozialistischen Programm angetreten war, um die verstaubte Parteienlandschaft zu reformieren, steht vor ihrer schwersten Krise. Dass der PT sich auf seine einstigen Ideale rückbesinnt, glauben nur noch wenige Brasilianerinnen und Brasilianer. Ob es einer anderen Partei wie der linken PSOL gelingen wird, sich als »Alternative von unten« zu etablieren, bleibt abzuwarten. Für die Arbeiterpartei soll wieder einmal Luiz Inácio Lula da Silva antreten. Der Vorgänger und Mentor von Rousseff gilt als sicherer Kandidat für die Wahl 2018. Doch kann sich die Partei nicht allein auf ihre »Wunderwaffe Lula« verlassen, zu sehr hat der PT durch Korruptionsskandale und den Abbau von Sozialleistungen das Vertrauen großer Teile der Bevölkerung verloren.