Der Streit um die Braunkohleindustrie in Berlin-Brandenburg

Vereint im Kohledreck

Die Elektrizitätsgewinnung aus Kohle ist ökologisch kaum vertretbar. Gegen einen auch nur leicht beschleunigten Ausstieg aus der Kohleverstromung gibt es jedoch großen Widerstand von verschiedenen Landesregierungen und Konzernen. Selbst Gewerkschaften warnen mit übertriebenen Zahlen vor Arbeitsplatzverlusten.

Die Spree verockert seit Jahren, schön ist die neue Farbe nicht gerade. Außerhalb Berlins ist der Fluss an etlichen Stellen durch Eisenhydroxid, ein Abfallprodukt des Kohletagebaus, braun gefärbt. In der Hauptstadt selbst ist die Verockerung nicht sichtbar, weil die Brühe sich vorher absetzt, doch mittlerweile wird auch in Berlin Alarm geschlagen. Das Stadtmagazin Zitty widmete dem Thema Wasserverschmutzung Mitte Juni seine Titelgeschichte: Sulfate, Verbindungen aus Schwefel und Sauerstoff, ein weiteres Abfallprodukt der regionalen Braunkohletagebaue, bedrohen das Trinkwasser. Messungen gleich neben dem zweitgrößten Wasserwerk Berlins ergaben bereits im vergangenen Jahr, dass der Grenzwert von 250 Milligramm Sulfat pro Liter immer wieder überschritten wurde, im Durchschnitt liegt er aber noch darunter. Die Umweltorganisation BUND forderte im Dezember in einer Pressemitteilung Gegenmaßnahmen und wies darauf hin, dass der Anstieg der Sulfatkonzentration seit 1996 zu beobachten sei. »Zwischen 2020 und 2025 wird die Qualität der Spree nicht mehr zur Aufbereitung des Trinkwassers ausreichen«, sagte der Gewässerexperte des BUND, Winfried Lücking, im Mai der Zeitung Neues Deutschland.
Auch in vielen Orten Brandenburgs übersteigt die Sulfatkonzentration Grenzwerte oder nähert sich diesen stark an. Sulfat führt zwar erst in höherer Konzentration zu Durchfall und Erbrechen, aber die Verschlechterung der Wasserqualität offenbart ein strukturelles Problem. Seit Jahren weigern sich Brandenburger Regierungen, die Braunkohle in der Erde zu lassen. Noch am 19. Juni sagte der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) vor dem Unternehmerverband Brandenburg-Berlin, auf die Braunkohle könne mittelfristig nicht verzichtet werden, sie dürfe nicht zum Opfer ideologischer Schnellschüsse werden. Dieses seltsame Vokabular zeigt, dass der Konflikt um die Kohleverstromung mit harten Bandagen ausgetragen wird.

Verstärkt in der Öffentlichkeit geführt wird dieser Kampf, seit Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) Anfang April vorschlug, den Ausstoß der Braunkohlekraftwerke ab 2017 zu begrenzen. Jedes Kraftwerk dürfte demnach nur noch eine Höchstmenge Kohlendioxid pro Jahr emittieren und müsste dann entweder pausieren oder für weiteren Ausstoß zahlen. Einige alte und deshalb besonders klimaschädliche Anlagen wären so weniger oder gar nicht rentabel und stünden entweder eine Zeitlang still oder würden geschlossen. Gabriels Vorschlag traf auf eine bemerkenswert große Front von Gegnern. Deutschlands großer Dreckschleuderklüngel bekämpft den mittlerweile auch ökonomisch gebotenen Rückzug aus den fossilen Brennstoffen, indem er vermeintliche kurzfristige Vorteile herausstellt.
Dabei hatte Gabriel nur die deutschen Klimaschutzziele im Sinn. 2020 soll 40 Prozent weniger Kohlendioxid als 1990 ausgestoßen werden – derzeit beträgt diese Ersparnis nur 27 Prozent. Gabriels Vorschlag wurde von den Grünen zwar als zaghaft bezeichnet, aber gelobt. Doch mittlerweile ist von dieser Deckelungsidee so gut wie nichts mehr übrig, von vielen Seiten gab es ​Widerstand.
Nicht überraschend war der Aufschrei der großen Unternehmen und von Politikern aus CDU/CSU und FDP. Obwohl der G7-Gipfel und mit ihm das globale Klima-Thema anstand, wollte Bundeskanzlerin Angela Merkel sich Anfang Juni nicht zum Plan ihres Stellvertreters Gabriel bekennen. Auch der Widerstand aus den Bundesländern, in denen Kohle gefördert wird, war erwartbar. Die SPD-geführten Regierungen in Nordrhein-Westfalen und Brandenburg sowie das von CDU und SPD regierte Sachsen wollen keine Beschleunigung des langsamen Kohleausstiegs. Dass sich auch die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) in den Kampf für die Kohleverbrennung stürzt, ist ebenfalls nicht neu. Sie bangt um die Arbeitsplätze in der Branche.

Überraschend war hingegen die Intervention Frank Bsirskes. Er ist Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi), mit Kraftwerken hat diese fast nichts zu tun. Deshalb, und auch weil Bsirske Mitglied der Grünen ist, war es erstaunlich, dass er kurz nach der Bekanntgabe von Gabriels Plan behauptete, dadurch würden 100 000 Arbeitsplätze gefährdet. Viele große Zeitungen druckten die Zahl, als sei sie ernst zu nehmen. Doch ist sie höchstens ein Ausweis des Niveaus, auf das die gewerkschaftliche Argumentation schon gesunken ist. Bsirske kann diese Zahl nicht begründen. »Bis heute ist die Gewerkschaft trotz mehrfacher Nachfrage nicht in der Lage, die Zahl ihres Chefs zu erklären«, schrieb die Taz am 15. April.
Anfang Mai erhielt der Autor des vorliegenden Textes nach über zwei Wochen und mehrmaligen Nachfragen folgende Antwort von Verdi: »RWE müsste 17 von 20 Kohlekraftwerken schließen. Nach unseren Berechnungen würde die Kohle-Abgabe 40 000 Jobs direkt in den Kraftwerken und im Tagebau sowie indirekt in den Kohlerevieren massiv infrage stellen. Der Bundesverband der Industrie rechnet damit, dass als Folge der zu erwartenden Strompreissteigerungen weitere 50 000 Jobs bedroht sind.« Das ergibt immerhin 90 000 Arbeitsplätze. Der Bezug auf RWE ist wohl damit zu erklären, dass Bsirske dort stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats ist. Die mittlerweile 200 000 Euro, die er dafür jährlich bekommt, spendet er zum allergrößten Teil der Hans-Böckler-Stiftung, wie es Verdi solchen Gremienmitgliedern vorschreibt. Die Behauptung, dass 17 Kraftwerke schließen müssten, ist genauso erklärungsbedürftig wie die Zahl von 100 000 Arbeitsplätzen.
Die Zahl 40 000 erinnert an das Vorgehen des Brandenburgischen Wirtschaftsministers Albrecht Gerber (SPD). Der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) hatte bereits Ende März, nach Vorarbeit des Umweltverbands Grüne Liga Brandenburg, nachgewiesen, dass Gerbers Angaben übertrieben sind. Dieser hatte von 30   000 Arbeitsplätzen gesprochen, die in der gesamten Lausitz durch den Kohleausstieg gefährdet seien. Statt auf eine vom eigenen Haus in Auftrag gegebene Studie zur wirtschaftlichen Bedeutung der Arbeitsplätze im Kohlesektor berief er sich dabei auf Zahlen einer 2011 erstellten, von Vattenfall bezahlten Studie, die von über 33 000 Arbeitsplätzen sprach, die von der Braunkohle abhängen, allerdings in ganz Ostdeutschland. Darin schätzte die Forschungsfirma Prognos, dass auf die 11 180 direkten Braunkohle-Beschäftigten rund 16  700 weitere indirekte Arbeitsplätze durch Auftragsvergabe und rund 5 500 induzierte, also vom Konsum der Mitarbeiter abhängende, kommen. 2005 hatte Prognos sowohl die Zahl der direkten Arbeitsplätze als auch ihre wirtschaftliche Bedeutung noch deutlich geringer eingeschätzt – ebenfalls in einer Studie für Vattenfall.
Nach ihren eigenen Angaben beschäftigte die Braunkohleindustrie Ende Februar deutschlandweit 21 000 Menschen, davon 5 400 in den Kraftwerken. Allein das lässt die Zahl von 40 000 bedrohten Arbeitsplätzen mehr als fragwürdig erscheinen. Zumal der negative Effekt auf den generellen Konsum entfiele, wenn die Kohle-Beschäftigten andere Arbeitsplätze hätten. Auch das Umweltbundesamt kritisierte Bsirskes Zahl wenige Wochen nach Bekanntgabe von Gabriels Plan. Einer Studie der Behörde zufolge würden im Braunkohlesektor sowie damit verbundenen Wirtschaftsbereichen 4 700 Arbeitsplätze verloren gehen.
Bleibt der dritte Satz der Verdi-Stellungnahme, in dem es unter Bezug auf den Bundesverband der Industrie um Arbeistplatzverluste durch Strom­preiserhöhungen geht. Dazu teilte der Sprecher des von Stiftungen getragenen Forschungs- und Beratungsunternehmens Agora Energiewende dem Autor dieses Textes schriftlich mit: »Die Zahl 50 000 scheint uns zu hoch gegriffen. Die vom Bundeswirtschaftsministerium erarbeitete Regelung für eine Minderung der Kohlekraftwerks­emissionen ist gerade so angelegt, dass sie den Strompreis nicht in die Höhe treiben soll. Zudem muss unter dieser Regelung kein Kraftwerk notwendigerweise schließen. Von größeren Arbeitsplatzverlusten aus diesen Gründen ist also nicht auszugehen.«
Verdi gibt also lieber eine dubiose Erklärung heraus, anstatt zuzugeben, dass Bsirske sich irgendwie vertan hat. Noch bizarrer trieb es aber die IG BCE, die von 800 000 in Deutschland gefährdeten Arbeitsplätzen sprach und der Taz zufolge eine Studie darüber von einer US-amerikanischen Investmentbank verfassen ließ. »Es ist schon bezeichnend, dass die Gewerkschaft in Deutschland offensichtlich kein Institut gefunden hat, das seine Reputation durch eine derartige Quatschrechnung aufs Spiel stellt«, hieß es in einem Kommentar der Taz vom 24. April.

Doch die Gewerkschaften und die anderen Gegner des Kohleausstiegs haben sich durchgesetzt. Schnell kürzte Gabriel die durch die Maßnahme geforderte Emissionseinsparung um über ein Viertel. Seit Wochen melden Medien, die Maßnahme werde gar nicht umgesetzt, doch Gabriel kündigte die endgültige Entscheidung für den 1. Juli an. Er sagte dabei, die Kritik an seiner Idee werde von nachvollziehbaren Argumenten getragen. Nun soll sich ein Vorschlag der IG BCE und des Bundesverbands der Industrie durchgesetzt haben: Kraftwerke sollen heruntergefahren und als Reserve gehalten werden, was den Firmen bezahlt wird. Das passe aber nicht zu den deutschen Klimazielen und erhöhe den Strompreis weiter, stellte sogleich das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft in einer Studie für Greenpeace fest. Demnach würden sogar Kraftwerke von dieser Regelung profitieren, die in den kommenden Jahren ohnehin abgeschaltet werden.
Auch der Vorsitzende der Brandenburger Fraktion der Linkspartei und ehemalige Wirtschaftsminister, Ralf Christoffers, unterstützte die Proteste gegen Gabriels Plan. Die mitregierende Partei »Die Linke« wagt es in Brandenburg nicht, sich wirklich mit den Kohle-Verteidigern anzulegen.
Ganz anders die Lage in Berlin. Hier geht es um die grüne Metropole der Zukunft, E-Mobility mit in der Stadt verteilten Stromtankstellen und dergleichen. Alle Parlamentsparteien der Hauptstadt sind gegen die vorgesehene Ausweitung der Kohle-Tagebaue in Brandenburg. Die Region könnte in Sachen Energiewende Modellcharakter haben und 2050 klimaneutral wirtschaften, ist die einhellige Meinung, doch dafür müssen die beiden Bundesländer endlich ein gemeinsames Energiekonzept verfolgen. Die Regierung Brandenburgs sperrt sich in dem Punkt ebenso wie gegen Auflagen zur Eindämmung der Sulfatfracht aus dem Tagebau Welzow Süd.