Die Gründe des Erfolgs des Islamischen Staates

Barbarei ist Alltag

Weniger seine große militärische Überlegenheit als vielmehr die Uneinigkeit seiner Feinde macht den IS auch ein Jahr nach der Einnahme von Mossul und der Ausrufung des Kalifates zu einem starken Gegner.

Diplomatische Vertretungen unterhält der »Islamische Staat« (IS), trotz seines Namens, bislang noch keine. Er kann jedoch auf unzählige Botschafter zurückgreifen, die für das Kalifat nur allzu gerne ihr Leben lassen. Zum Ramadan 2015 hatte Abu Mohammed al-Adnani, Sprecher des IS, alle Muslime aufgerufen, den heiligen Monat weltweit mit Anschlägen auf Ungläubige und Feinde des wahren Islam zu begehen. An nur einem Tag wurde dem Aufruf in Tunesien, Frankreich und Kuwait blutig Folge geleistet. Es sind nicht mehr minutiös geplante Terroranschläge, wie sie noch Ussama bin Ladens alte al-Qaida durchführte, sondern ebendiese Lone Wolf-Aktionen, die zum Markenzeichen des IS außerhalb seines Kerngebietes im Irak und Syrien werden. Jeder, der willens ist und in der Lage ist, sich eine Waffe zu besorgen, kann solchen Aufrufen zum Jihad Folge leisten.
Nun dürfte nicht nur der Ramadan Auslöser der Terrorattacken gewesen sein, sondern auch die jüngsten militärischen Rückschläge für den IS im Norden Syriens. Dort hatten Einheiten der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), Milizen des syrischen Ablegers der PKK also, jüngst gemeinsam mit Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) und unterstützt von der amerikanischen Luftwaffe den strategisch wichtigen Ort Tel Abiyad eingenommen und damit die Hauptstadt des IS, Raqqa, von der türkischen Grenze und der Nachschubroute abgeschnitten.
Der Terror auf drei Kontinenten scheint auch eine Reaktion auf diese Niederlage gewesen zu sein. Zur selben Zeit richtete nämlich ein IS-Selbstmordkommando in der symbolträchtigen kurdischen Stadt Kobanê ein blutiges Massaker an. Die Botschaft lautet: Es gibt kein ruhiges Hinterland, der IS kann weiterhin jederzeit und überall zuschlagen, ist keineswegs geschwächt oder in der Defensive. Während er in den Gebieten, die nunmehr seit über einem Jahr seiner unmittelbaren Kontrolle unterstehen, in der Tat staatsähnliche Gewalt ausübt, die zwar vornehmlich auf Terror und Angst fußt, aber doch dafür Sorge trägt, dass Millionen von Menschen zumindest rudimentär versorgt werden, tritt er anderswo das Erbe islamischer Terrorgruppen an. Erst kürzlich veröffentlichte die IS-Pressestelle eine Art Jahresrechenschaftsbericht, in dem minutiös die Tausenden von Exekutionen, Sprengstoffattacken und Anschlägen aufgelistet wurden, die bislang auf sein Konto gingen.
Als im vergangenen August die USA eine Allianz gegen den IS ins Leben riefen, glaubten die wenigsten, dass neun Monate später das Kalifat, trotz einiger territorialer Verluste, weiter über große Teile des Westirak und Nordsyrien herrschen würde. Der IS kontrolliert heute sogar größere Gebiete als zu Beginn der Luftschläge. Im Mai fiel ihm mit Ramadi zusätzlich die strategisch wichtige Hauptstadt der irakischen Provinz Anbar fast kampflos in die Hände.
Dabei zeigen die jüngsten militärischen Erfolge von YPG und FSA, dass die Kämpfer des IS, auch wenn sie gut ausgebildet und hoch motiviert sind und größtenteils von erfahrenen Offizieren der alten irakischen Armee Saddam Husseins angeführt werden, auf dem Schlachtfeld besiegbar sind. Der Erfolg des Islamischen Staates liegt, erklärte der ehemalige israelische Verteidigungsminister Ehud Barak kürzlich, nämlich weniger an seiner eigenen Stärke, als an der Schwäche und Uneinigkeit seiner Gegner. Mit seinen 30 000 bis 40 000 Kämpfern sei er eigentlich, motivierte Bodentruppen vorausgesetzt, relativ leicht besiegbar. Nur gerade die sind nicht in Sicht. Im Herzen des Kalifats, in den von sunnitischen Arabern besiedelten Gebieten des West- und Nordiraks sowie Nordostsyriens, ist der Islamische Staat unangefochten und seine Herrschaft wird dort, anders als in jenen Grenzregionen, in denen Kurden oder Schiiten leben, von niemandem ernsthaft bedroht.
Faktisch besitzt weder die in der UN vertretene irakische noch die syrische Regierung die Hoheitsgewalt über ihre eigenen Territorien. Sie und ihre nationalen Armeen, falls sie überhaupt noch einsatzfähig sind, erinnern inzwischen selbst an Bürgerkriegsparteien, die sich nur noch mit äußerer Unterstützung, vor allem des Iran, an der Macht halten. Auf den unterschiedlichen Schlachtfeldern des Mehrfrontenkrieges, der inzwischen die ganze Region erfasst hat, kämpfen auf allen Seiten und mit internationaler finanzieller Unterstützung Milizionäre, Jihadisten, Freiwillige und Söldner aus Dutzenden Staaten. Welche Miliz dabei wem unterstellt ist, wissen häufig nur noch Experten zu sagen.

Während der Islamische Staat mit einem Zentralkommando ein einigermaßen zusammenhängendes, inzwischen weitgehend konfessionell homogenisiertes Territorium kontrolliert, könnten seine Gegner disparater nicht sein: Offiziell legitimiert das zunehmend in Bedrängnis geratene syrische Regime Bashar al-Assads sich und seine massenmörderische Vorgehensweise mit dem »War on Terror« gegen den IS, auch wenn das Regime in Wirklichkeit mindestens ebenso oft mit den Jihadisten kooperiert, wie es sie bekämpft. Gleichzeitig bekriegen unterschiedliche syrische Rebellengruppen das Regime und den IS. Teils gehören sie zur so genannten moderaten Opposition, teils zu islamistischen, al-Qaida nahestehenden Organisationen. Obwohl sowohl in Syrien als auch im Irak kurdische Einheiten gegen die Jihadisten des Kalifats kämpfen, sind sie sich untereinander alles andere als wohlgesonnen. Und im Irak haben schiitische Milizen längst mehr Einfluss als die Armee. Ihr Schutzpatron, das Regime in Teheran, engagiert sich indes mit immer mehr eigenen Truppen in Syrien, dem Irak, Libanon und dem Jemen. Der IS ist dabei bestenfalls einer, bei weitem aber nicht der wichtigste Gegner des Iran.
Da all diese Akteure auch untereinander verfeindet sind, mangelt es ihnen nicht nur an Koordination. Es fehlt jedwede gemeinsame Strategie, von Visionen ganz zu schweigen. Zudem fürchten sie, dass auf ihre Kosten der jeweils andere einen Sieg gegen den IS erringen könnte. Die Golfstaaten, die sich inzwischen sogar weitgehend aus Obamas Allianz gegen den IS zurückgezogen haben, betrachten eine Expansion des Iran als weit größere Bedrohung als den IS, mit dem etwa Saudi Arabien zumindest die gleichen sunnitisch-islamistischen Wurzeln teilt und damit auch die Abneigung gegen Schiiten und ihre Schutzherren in Teheran.
Die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) fürchtet ebenfalls einen Machtzuwachs des Iran, vor allem aber der PKK in Syrien. Vertreter der KDP werden deshalb nicht müde, die PKK für ihre Nähe zu Teheran zu kritisieren und verfolgen die militärischen Gewinne der PYD keineswegs mit Begeisterung, teilen sogar eher die Sorgen der türkischen Regierung vor einem von der PKK dominierten kurdischen Selbstverwaltungsgebiet in Syrien. Die PYD sei schlimmer als der IS, titelten dann auch der regierenden AKP nahestehende Zeitungen in der Türkei.
Einzig arabische Sunniten könnten effektiv das Kalifat bekämpfen, heißt es immer wieder aus Washington. Nur unternehmen die von den USA als irakische Regierung unterstützten Schiitenparteien in Bagdad alles in ihrer Macht stehende, um die irakischen Sunniten zu schwächen und weiter zu marginalisieren und Institutionen im Restirak ihrer konfessionellen Kontrolle zu unterwerfen. Da die US-Regierung an den Iran gebunden ist, stellen gerade die schiitischen Milizen jedoch einen Großteil jener Bodentruppen, die man selbst nicht entsenden möchte. Folglich bleibt es bestenfalls bei verhaltener Kritik am Vorgehen der irakischen Regierung. Die Regierung Obamas hofft weiter, komme man dem Iran nur genügend entgegen, verwandele er sich aus dem größten Unterstützter unzähliger Terrogruppen in einen Partner, der irgendwie helfen könnte, die Region zu befrieden.
Für die Bewohner Mossuls, Ramadis und anderer Städte, die sich unter Kontrolle des Kalifates befinden, ist allerdings die Vorstellung, von schiitischen Milizionären »befreit« zu werden, kaum ein Anreiz, sich unter Lebensgefahr gegen den IS aufzulehnen. Von IS-Herrschaft zurückeroberte irakische Städte, wie Tikrit oder Jalaula geben einen Vorgeschmack auf das, was auch sie erwarten dürfte: Heute sind es leere und zerstörte Städte, kontrolliert von Milizionären, die den ehemaligen Bewohnern eine Rückkehr unmöglich machen. Seit Monaten mehren sich Berichte von Übergriffen und Terror gegen Sunniten im Irak, die pauschal als Sympathisanten des IS behandelt werden.

Anders allerdings als kurdische Einheiten erweisen sich diese schiitischen Milizen als wenig effektiv. Außer vollmundigen Ankündigungen und Treueschwüren auf den iranischen Revolutionsführer Ali al-Khamenei können sie bislang wenig vorweisen, die angekündigte Erstürmung Ramadis blieb jedenfalls aus. Wenig spricht dafür, dass sie in Zukunft erfolgreicher sein werden. Schon häufen sich deshalb die Stimmen, die vermuten, dass es dem Iran eigentlich gar nicht um eine Rückeroberung der Gebiete gehe, die der IS kontrolliert, sondern nur darum, die eigene Machtbasis im Restirak und in der Region auszuweiten. In Teheran könne man sich durchaus eine Koexistenz von Islamischem Staat und Islamischer Republik vorstellen, solange der IS nicht den Iran unmittelbar bedrohe.
Auf der internationalen Agenda finden Terrorismus und die Ereignisse im Nahen Osten kaum noch Erwähnung, selbst wenn in den vergangenen zwölf Monaten dem Terror mehr Menschen zum Opfer gefallen sind, als in der ganzen Dekade zuvor. Bei zahlreichen Gipfeltreffen redet man lieber über das Weltklima und die Jugendarbeitslosigkeit, bestenfalls noch über Flüchtlinge und wie man sie abwehren kann: Die UN gehen übrigens inzwischen von 15 Millionen Flüchtlingen und Binnenvertriebenen im Nahen Osten aus. Eine Idee, was man tun könnte oder sollte, hat niemand mehr. Von Transformation und Demokratisierung, ja selbst von Stabilität, dem Zauberwort bisheriger Nahostpolitik, ist längst keine Rede mehr. Die Barbarei ist zum Alltag geworden.
Bestenfalls spricht man noch vom kleineren Übel. Denn das hat der Islamische Staat zum Nutzen und Vorteil aller anderen Akteure erreicht: Im Vergleich zu ihm wirken sie alle, samt und sonders, von Assad über das iranische Regime bis hin zu al-Qaida eben genau so – wie das kleinere Übel. Ein Jahr nach Ausrufung des Kalifats sieht es also ganz danach aus, als könne der Islamische Staat ungestört noch einige Jubiläen in Mossul feiern.