Laurie Penny im Gespräch über Geschlechterrollen, die romantische Liebe und alltäglichen Sexismus

»Der Status quo ist unglaublich sexistisch«

Im Juni stellte die britische feministische Bloggerin und Autorin Laurie Penny in Deutschland ihr von Anne Emmert aus dem Englischen übersetztes Buch »Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution« vor, erschienen in der Edition Nautilus. Mit der Jungle World sprach Penny über Feminismus, Geschlechterrollen, die romantische Liebe und sexistische Kontrollmechanismen.

In Ihrem neuen Buch gehen Sie mit dem Mainstream-Feminismus hart ins Gericht. Was verstehen Sie darunter und was sind Ihre Hauptkritikpunkte?
Es gibt heutzutage viele verschiedene Formen des Feminismus. Mainstream sind diejenigen, über die die Medien am meisten schreiben und die daher von den politischen Eliten die meiste Aufmerksamkeit bekommen. Mainstream sind die Ideen von konservativen Feministinnen, die hauptsächlich von weißen Frauen sprechen, von reichen Frauen, von Businessfrauen, von heterosexuellen und Cisgender-Frauen. Deren Probleme zählen, aber sie repräsentieren nicht die Erfahrungen aller Frauen. Ich plädiere für einen Feminismus, der sehr viel mehr intersektional ist, also mehr Frauen einbezieht.
Sie stellen auch das feministische Leitbild der Karrierefrau in Frage.
Es ist nicht so, dass ich Frauen vorwerfe, wenn sie Karriere machen. Suspekt ist mir vielmehr ein Feminismus, dessen Hauptfragestellung lautet, wie man für eine kleine Zahl von Frauen an der absoluten Spitze der ökonomischen Struktur eine bessere Work-Life-Balance erreichen kann. Und sogar für diese Frauen bedeutet Work-Life-Balance Work-Work-Balance. An ihrem bezahlten Arbeitsplatz arbeiten sie für Geld, zu Hause für Mann und Kinder. Es ist also eine endlose Plackerei. So sieht Frauenemanzipation heute aus. Ich denke, es ist an der Zeit zu fragen, ob es auch andere Arten zu leben gibt, für die wir vielleicht kämpfen sollten. Wir müssen uns nicht nur dafür einsetzen, dass Frauen ein eigenes Einkommen haben, sondern auch dafür, dass sie ihre menschlichen Möglichkeiten voll entfalten können. Der Neoliberalismus macht uns weis, dass unsere ganze Identität um die Arbeit kreisen sollte. Ich denke, die menschliche Identität ist vielfältiger. Deshalb müssen wir auch über Feminismus auf eine sehr viel umfassendere Art und Weise sprechen.
Sie sagen auch, die Regeln für soziales Verhalten seien für Männer wie Frauen eine Zwangsjacke. Aber für Frauen seien sie sehr viel strenger.
Menschen, die die Gesellschaft als Frauen betrachtet, müssen sehr viel mehr arbeiten, um akzeptiert zu werden. Ob das Schönheitsarbeit oder Gefühlsarbeit ist. Die ganze Zeit nett sein zu müssen und sich vorteilhaft zu präsentieren, für die Menschen zu Hause und am Arbeitsplatz zu sorgen – an jedem Teilstück der weiblichen Existenz muss permanent gearbeitet werden. Nicht zuletzt auch daran, wie andere eine sehen. Das führt dazu, dass sich Frauen die ganze Zeit selbst kritisieren. Ich glaube nicht, dass sich Männer keine Gedanken um ihr Äußeres machen. Aber man kann das nicht vergleichen. Vielleicht findet ein Mann Daniel Craig gut, er sieht aber nicht aus wie er und fühlt sich deshalb manchmal ein bisschen schlecht. Aber er wird nicht den ganzen Tag von Bildern von Daniel Craig verfolgt, die ihn von jedem Produkt entgegenstarren, das er kauft.
Warum ist das Aussehen von Frauen so viele Jahre nach dem Beginn der zweiten Frauenbewegung immer noch so wichtig?
Wenn man das Aussehen von Frauen kontrolliert und Regeln vorgibt, wie Frauen aussehen sollen, ist das eine Möglichkeit, das Leben von Frauen zu kontrollieren. Das gilt sowohl im Westen wie auch in Afghanistan. In Ländern mit einer Religionspolizei ist das sehr offensichtlich. Dort gibt es Menschen, die herumgehen und sagen: »Wisch deinen Lippenstift ab!«, oder: »Setz dein Kopftuch auf!« Freundinnen aus dem Nahen Osten haben mir vom täglichen Kampf um solche Dinge erzählt. Hier läuft das viel subtiler. Es geht hier eher darum, wie du auf Grundlage deines Aussehens behandelt wirst. Wenn du nicht gepflegt und hübsch aussiehst, wird niemand die Polizei auf dich hetzen, aber vielleicht wirst du nicht befördert, vielleicht findest du keinen Partner. Auch in Deutschland lastet ein großer Druck auf Frauen, Geld für ihr Aussehen auszugeben. Der Anteil des Einkommens, den Frauen für ihr Aussehen ausgeben, ist sehr viel höher als bei Männern. Und das gilt für alle Frauen, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit. Ich habe ein paar Freundinnen, die vor kurzem ihr transsexuelles Coming-out hatten. Sie haben mir erzählt, wie wichtig all diese Dinge sind, wenn man für eine Frau gehalten werden will. Eine sagt immer: »Mein Gott, es ist alles so teuer! Make-up, Haarschnitt, ich hatte keine Ahnung!«
An einer Stelle Ihres Buches schreiben Sie, Hunger sei die größte Sünde der Frauen. Warum ist es in der Ära des Neoliberalismus so wichtig, dass Frauen dünn sind?
Es geht mir dabei nicht nur um körperliche Schlankheit. Wenn ich über Hunger spreche, dann spreche ich über alle Arten von Hunger: Hunger nach Essen, Hunger nach Sex, Hunger nach Macht, nach Geld, nach Liebe, nach Aufmerksamkeit, nach Zuwendung. Das sind alles Dinge, die Frauen für andere herstellen sollen. Frauen konsumieren kein Essen, sondern sie stellen es her, Frauen verlangen nicht nach Sex, sie sind Sex, Frauen sollen keine Liebe brauchen, sondern welche geben. Ich denke, es gibt eine große Missbilligung von Frauen, die Bedürftigkeit und Begehren aussprechen, obwohl Bedürftigkeit und Begehren fundamentale menschliche Dinge sind. Und es wird uns in einem sehr jungen Alter eingebläut: »Nimm nicht das letzte Stück Kuchen!«, »Sei nicht zu ehrgeizig!«, »Vögle nicht herum, sonst bist du eine Nutte!« Es ist endlich Zeit, all dies Botschaften in Frage zu stellen.
Warum ist das Begehren von Frauen für Männer so bedrohlich?
Es geht darum, Frauen unter Kontrolle zu bringen. Das ist für die Gesellschaft wichtig, um so bleiben zu können, wie sie ist. Der Status quo ist einfach unglaublich sexistisch. Es gibt zwar keine Gesetze, die sagen, Frauen müssen in Beziehungen passiv bleiben, aber es gibt einen großen kulturellen Druck. Wir werden nicht mit Gefängnis bedroht, wenn wir uns nicht an die Regeln halten, aber mit Liebesverlust. Wenn man Frauen sagt: »Du wirst keinen Partner finden, du wirst einsam enden«, werden sie fast alles tun, um das zu verhindern. Die Furcht, alleingelassen zu werden und ohne Freunde und Partner dazustehen, ist ein machtvolles Mittel der sozialen Kontrolle, auch für Männer. Männer dürfen aber, wenn sie erwachsen sind, eine eigene Persönlichkeit haben und ihren Weg gehen. Dagegen können sich Frauen nur auf sehr enge und restriktive Weise ausdrücken. Und in Beziehungen fühlen sich Männer von starken und ehrgeizigen Frauen bedroht.
Sie betrachten die romantische Liebe ohnehin als eine Art Glaubenssystem für das gilt, was Karl Marx über die Religion gesagt hat: Sie ist das Opium des Volkes. Warum klammern sich so viele Menschen an dieses Modell, obwohl es sie offensichtlich unglücklich macht?
Es ist wichtig, sich genau anzusehen, was Marx über die Religion gesagt hat. Marx meinte damit nicht nur, dass Menschen abhängig werden. Als Marx das schrieb, war Opium auch ein Mittel, das Menschen verwendeten, um ihren Schmerz zu lindern, wie Heroin heute. Menschen nehmen es, weil sie einen Ausweg suchen. Und auch romantische Liebe ist nicht nur einfach Suchtverhalten. Sie soll Menschen eine Zuflucht vor dem Stress und der Mühsal des modernen Lebens bieten. Sie soll alles in deinem Leben in Ordnung bringen, und wenn sie das nicht tut, suchst du nach einem neuen Partner. Und speziell Frauen, die nach romantischer Liebe mit Männern suchen, werden darauf schon in jungem Alter konditioniert. Sie haben immer im Hinterkopf, dass sie versagen, wenn sie nicht den perfekten Partner finden. Ich bin eine große Romantikerin, ich denke, alle Arten von Liebe, die romantische eingeschlossen, können wunderschön sein, aber wenn es eine Pflicht ist, wenn du nach diesem perfekten Partner suchen musst, weil dein Leben sonst als Katastrophe gilt, dann wird es zur Unterdrückung. Natürlich wird romantische Liebe auch hochgehalten, um ökonomische Interessen durchzusetzen. Man kann den Druck der romantischen Liebe benutzen, um Menschen dazu zu bewegen, private Haushalte zu bilden, die traditionellen Eigentumsverhältnisse fortzuführen und die Kindererziehung auf traditionelle Weise zu organisieren. Heutzutage hat der Kult der romantischen Liebe den Kult des Christentums in vielen Ländern ersetzt. Ich sage nicht, dass das immer falsch ist, sondern dass wir das hinterfragen sollten, wie jede Religion. Ich bin halb jüdisch und ich bewundere die Art und Weise, wie Juden ihre Religion praktizieren, indem sie sie immer wieder in Frage stellen. Man kann Romantikerin sein und trotzdem die romantische Liebe hinterfragen.
Sie beschreiben, wie auch progressive und linke Männer romantische Liebe benutzen, um Frauen in ein genderkonformes Verhalten zu zwingen. Wie lässt sich das erklären?
Ich glaube nicht, dass jeder Typ, der sich sexistisch verhält, bewusst Frauen unterdrücken will. Wie ich schon sagte, die Drohung, allein zu bleiben, ist ein ungeheuer mächtiges Instrument, um Menschen dazu zu bringen, zu funktionieren. Und Männer werden in unserer Kultur dahingehend konditioniert, dass sie eine ganz bestimmte Art von Partnerin brauchen, um ihren Status als Mann zu bestätigen. Das unterscheidet sich oft von dem, was sie wirklich wollen. Aber sogar in linken Kreisen glauben sie, sie brauchen diese Art von Freundin, die ein Statussymbol darstellt. Und ich sehe viele Frauen, besonders junge Frauen, die alles tun, um diese perfekte Partnerin zu sein, ein Liebesobjekt. Wir sprechen über Frauen als Sexobjekte, aber nicht über Frauen als Liebesobjekte. Ich glaube, das ist mindestens genauso wichtig. Man hat auf der einen Seite die Vorstellung von der idealen sexy Frau, aber es gibt auch die Idee von der idealen Freundin, die sich selbst zum Liebesobjekt macht. Und Männer werden ermutigt, zu erwarten, für das geliebt zu werden, was sie sind. Frauen lernen dagegen, dass das, was sie sind, nicht ausreicht. Du musst all diese anderen Eigenschaften auch noch haben und kannst nicht wirklich die sein, die du bist, weil sich andere dadurch bedroht fühlen.
Trotzdem äußern Sie in Ihrem Buch die Hoffnung, dass Männer ihr sexistisches Verhalten aufgeben. Warum sollten sie?
Ich glaube, dass Männer eine ganze Menge vom Feminismus profitieren können. Im Feminismus werden auch die Männer vom Druck der Geschlechterrollen befreit. Sie werden dazu befreit, ihre Gefühle auszudrücken, nicht immer das Alphamännchen sein zu müssen. Sie könnten eine andere Art von Arbeit machen. Für jede Frau, die ihre Karriere am Arbeitsplatz verfolgt, gibt es einen Mann, der lieber zu Hause bleiben würde. Ein Mann könnte es zum Beispiel auch leid sein, immer dominant sein zu müssen. Gewalt ist so sehr ein Teil männlicher Identität – ich kenne viele Männer, die es einfach hassen, immer den harten Kerl spielen zu müssen, um akzeptiert zu werden. Viele Männer wären froh, von dieser Last befreit zu werden. Männer, die es schön finden, sanft zu sein und Vertrautheit mit Männern und Frauen zu genießen. Das wäre wunderbar.