Die Taliban sind in Afghanistan weiter aktiv

Geeint im Misstrauen

Die Bemühungen um eine dauerhafte Befriedung Afghanistans scheinen fast 14 Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes gescheitert. Während Gesprächsversuche kritisch beäugt werden, sind die Taliban vielerorts militärisch aktiv und ihre Verbündeten richten ihr Augenmerk auf Zentralasien.

Kurz nach Beginn der Parlamentssitzung manifestierte sich das Ausmaß der Bedrohung, als die Explosion einer Autobombe das Gebäude in Kabul erschütterte. In der am Montag vergangener Woche live übertragenen Sitzung brach Chaos aus, Rauch füllte den Saal, Schreie und Schüsse waren zu hören. Es sollte eigentlich der große Tag des designierten afghanischen Verteidigungsministers Mohammed Masoom Stanikzai werden, der seine Antrittsrede vor den Abgeordneten halten wollte. Der geplante Auftritt sollte einen deutlichen Schlussstrich unter das fast neunmonatige Zerren um die Besetzung des wichtigen Ministerpostens ziehen und geeinte Stärke demonstrieren. Doch es zeigte sich wieder einmal, dass selbst die Hochsicherheitszone nur trügerischen Schutz bietet. Wie es den sieben Attentätern gelang, trotz mehrerer Checkpoints im Viertel so nah an das Parlamentsgebäude zu gelangen, ist ungeklärt.
Die afghanischen Sicherheitsbehörden vermuten das sogenannte Haqqani-Netzwerk hinter dem Anschlag. Es ist zwar mit den afghanischen Taliban verbündet, jedoch im Gegensatz zu ihnen auch in den pakistanischen Stammesgebieten militärisch aktiv, da seine Kämpfer vorrangig aus lokalen paschtunischen Clans im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet stammen.
Der paschtunische Politiker Stanikzai, der bisher dem Hohen Friedensrat vorsaß, soll sich im Mai in Ürümqi in der nordwestchinesischen Provinz Xinjiang zu Gesprächen mit drei Vertretern der sogenannten Quetta-Shura um den untergetauchten obersten Taliban Mullah Omar getroffen haben. Offiziell lehnen die Taliban Verhandlungen mit Vertretern der afghanischen Regierung ab, die sie in ihren Statements gerne als »Sklaven der Amerikaner« bezeichnen. Das Treffen soll der pakistanische Militärgeheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) organisiert haben. Es gilt als offenes Geheimnis, dass sich Pakistan insbesondere mithilfe der im Jahr 2001 dorthin geflüchteten Taliban-Führung in die Belange Afghanistans einmischt. Die pakistanische Regierung und hochrangige Militärs hatten dem afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani seit dessen Amtsantritt im Herbst 2014 mehrfach aktive Vermittlungsbemühungen versprochen.

Die Wahl eines Ortes in der VR China, zumal in der muslimischen Provinz Xinjiang, in der Teile der turkstämmigen Bevölkerungsgruppe der Uiguren ihrerseits gegen die chinesische Regierung opponieren, mag ungewöhnlich wirken. Allerdings verfolgt die Volksrepublik eine zunehmend aktive Diplomatie in der Region, da sie ein starkes Sicherheitsinteresse an Afghanistan wie auch an Zentralasien hat. Ein wichtiger Baustein ist dabei die sogenannte Allwetter-Freundschaft mit Pakistan. Zudem plant China seit dem vorigen Jahrzehnt große Investitionen in den afghanischen Rohstoffsektor und hat sich dafür bereits Schürfrechte gesichert.
Für die pakistanische Seite hat Ürümqi als Gesprächsort den Vorteil, dass sie dort weitgehend abgeschirmt tagen kann, die chinesische Seite offenbar gerne ihrer Expertise vertraut und sich selbst im Hintergrund hält. So behalten die Vertreter der pakistanischen Regierung Einfluss – anders als bei den Gesprächen in Katar, im Iran und in Norwegen. Zudem besteht bei diesen Treffen die Möglichkeit, hochrangige Taliban-Vertreter direkt einzubinden. Denn bislang sah man sich bei Verhandlungen häufig gezwungen, auf teils seit vielen Jahren im Exil weilende Mittelsmänner mit fragwürdigem Ruf, aber angeblich sehr guten Beziehungen zurückzugreifen, die zum Beispiel als Geschäftsleute in den arabischen Golfstaaten leben. So verwundert es auch nicht, dass es bei bisherigen Gesprächen stets nur um die Anbahnung von Friedensverhandlungen, jedoch nie um den Frieden selbst ging.
Seit dem Beginn der Frühjahrsoffensive wird in 26 von 34 Provinzen Afghanistans gekämpft. Der Fall der nördlichen Provinzhauptstadt Kunduz, aus der die deutsche Bundeswehr im Oktober 2013 abgezogen war, konnte bislang nur mit großer Mühe verhindert werden. Es wäre die erste Großstadt in der Hand der Taliban. Vielleicht wollen sie somit die Taktik des sogenannten Islamischen Staats (IS) im irakischen Mossul adaptieren und hoffen auf die Eroberung schwerer Waffen sowie einen Dominoeffekt. Allerdings kämpft die Afghanische Nationalarmee (ANA) bisher schlagkräftiger als befürchtet und konnte etliche Distrikte, aus denen sie vertrieben worden war, zurückerobern. Jedoch ist sie erheblich träger als die Einheiten der Taliban. Ein Risiko stellen die lokalen Milizen dar, deren Loyalität von ihrer Bezahlung, ethnischen Zugehörigkeit und der Gefolgschaft gegenüber einem Warlord abhängt.
Auch die deutsche Bundeswehr ist noch immer an Ort und Stelle beteiligt, denn im Rahmen der Operation Resolute Support sind derzeit 698 Angehörige der Bundeswehr im Norden Afghanistans und 110 in Kabul stationiert. Aufgrund der Sicherheitslage kündigte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf dem Nato-Ministertreffen am Donnerstag vergangener Woche an, dass das deutsche Ausbildungs- und Unterstützungskontingent nun erst im Jahr 2016 vom Norden nach Kabul verlegt werden soll.

Vehement verteidigen die afghanischen Taliban bislang ihren Führungsanspruch in der Region gegen den IS. In einem offenen Brief der Taliban-Führung an den IS-»Kalifen« Abu Bakr al-Baghdadi betonten sie zwar die »religiöse Brüderlichkeit«, aber »baten« zugleich den IS sehr deutlich, sich nicht in die Angelegenheiten in ihrem Bereich einzumischen. Nachdem mehrere kleine Taliban-Fraktionen Ende vorigen Jahres dem IS ihre Gefolgschaft schworen, sind die Taliban erfolgreich gegen diese Abspaltungen vorgegangen. Nur in der Provinz Nangarhar mit der wichtigen Khyber-Pass-Fernstraße, die Kabul mit der pakistanischen Großstadt Peshawar verbindet, bekämpfen sich noch Taliban und die Anhänger des »Islamischen Staats in Khorasan« (ISK).
Gegenüber der Islamischen Bewegung Usbekistans (IMU) und mehreren kleineren Gruppen, die sich dem IS offiziell unterstellt haben, lassen die Taliban dagegen pragmatische Milde walten – solange diese sich zu ihrer Allianz mit den Taliban bekennen. Die IMU und ihre Verbündeten scheinen eine stärkere Anziehungskraft auf tadschikische, usbekische und turkmenische Kämpfer aus Afghanistan und den Ländern Zentralasiens auszuüben als die traditionell paschtunisch dominierten Taliban. Dem pakistanischen Autoren und Taliban-Experten Ahmed Rashid zufolge kooperieren die Taliban mit ihnen vorrangig im Norden Afghanistans, wo diese Gruppen in den Grenzprovinzen zu Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan und der VR China aktiv seien und einen regen Zulauf an ausländischen Kämpfern genössen. Inzwischen hätten sich bis zu 5 000 Zentralasiaten, darunter auch Uiguren, Kasachen und Kirgisen, ihnen angeschlossen. Rashid warnt vor einem Übergreifen der Kämpfe auf das angrenzende Tadschikistan.
Besteht also Grund zu Pessimismus hinsichtlich der Zukunft Afghanistans und der angrenzenden zentralasiatischen Region? Soll man lieber mit den Taliban und ihren Verbündeten verhandeln, ihnen weitgehende Zugeständnisse machen und sie an der Macht beteiligen, um Schlimmeres zu verhindern? Zu Recht sind viele Afghanen gegenüber Verhandlungen mit den Taliban skeptisch. Die Bewegung der einstigen Koranschüler hat an Strahlkraft eingebüßt, nur wenige Menschen wünschen sich eine Rückkehr der Lebensbedingungen, wie sie zu Zeiten des Taliban-Regimes herrschten. Sie haben ihr Saubermann-Image verloren, sie gelten als nicht weniger korrupt als andere Milizen. Sie drangsalieren die Bevölkerung in ihren Einflussgebieten mit willkürlicher Gewalt, sie erpressen und rauben. Ihre Terroranschläge verbreiten Horror. Viele Kämpfer sind unberechenbar und drogenabhängig – und unterscheiden sich damit nicht von den Söldnern anderer Warlord-Milizen.
Militärisch haben die Isaf-Truppen sich bislang eine blutige Nase geholt, für militärische Fehlentscheidungen haben aber hauptsächlich Afghanen den Blutzoll bezahlt. Warlords wurden im Anti-Terror-Kampf wieder bewaffnet und müssen sich bis heute nicht für ihre Kriegsverbrechen verantworten. Milliarden an Hilfs- und Wiederaufbaugeldern sind in dunkle Kanäle abgeflossen, einige Menschen konnten sich dank mangelnder Kontrolle und systematischen Fehlern in der Entwicklungszusammenarbeit hemmungslos bereichern. Es gibt Massen von Geisterlehrern und Geisterpolizisten auf den Gehaltslisten. Wenn es gelänge, die demokratischen Strukturen und Kontrollmechanismen zu stärken, ließen sich Korruption und Machtmissbrauch bekämpfen und dringend benötigte Investitionen könnten realisiert werden. Viele Afghanen haben ihren Mut und den Willen zu demokratischen Akten trotz Bedrohungen bewiesen – erinnert sei zum Beispiel an jene, denen die Taliban nach der Stimmabgabe ihre mit Tinte markierten Fingerglieder abschnitten. Afghanistan wird noch lange von finanzieller Unterstützung abhängig sein, wahrscheinlich auch von militärischer Unterstützung.