Der Islamische Staat breitet sich im Nordkaukasus aus

Vom Emirat zum Kalifat

Jihadisten des »Emirat Kaukasus« haben einen Treueid auf den Anführer des »Islamischen Staats« geschworen. Im Nordkaukasus und in Russland sind islamistische Gruppen bereits seit längerem tätig.

Immer seltener gerät der islamistische Untergrund im Nordkaukasus in die Schlagzeilen. Ist dies dennoch der Fall, wie Anfang Dezember vergangenen Jahres, als Islamisten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny völlig unerwartet mit einer Besetzungsaktion auf sich aufmerksam machten, schlägt die Nachricht ein wie eine Bombe. Ende Juni war es wieder soweit. In einem auf Youtube veröffentlichten Video wurde behauptet, dass alle Warlords des »Emirat Kaukasus« einen Treueschwur auf Abu Bakr al-Baghdadi, den Anführer des »Islamischen Staates« (IS) geleistet haben. Der IS reagierte darauf prompt mit der Absichtserklärung, eine Untergruppe im Nordkaukasus einzurichten. Ein Anführer ist bereits ernannt, nämlich der Kommandeur der dagestanischen Islamisten, Abu Muhammad, mit bürgerlichem Namen Rustam Asilderow.
Russland steht längst auf der Agenda des IS, doch bislang konzentrierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Anziehungskraft, die der ausufernde jihadistische Kampf in Syrien und im Irak auf radikale Salafisten weltweit ausübt. Niemand weiß genau, wie viele Jihadisten aus Russland sich tatsächlich dem »Islamischen Staat« angeschlossen haben. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB geht inzwischen von bis zu 1 700 russischen Staatsbürgern aus, die auf Seiten des IS kämpfen. Vor zwei Jahren lag die Zahl russischer Jihadisten im Nahen Osten nach Einschätzung des FSB lediglich bei 200 Personen. Die tschetschenische Regierung vermutete damals schon, dass allein die IS-Beteiligung tschetschenischer Islamisten bei maximal 1 700 Kämpfern liege, allerdings fallen darunter auch Tschetschenen mit Wohnsitz in der Türkei oder der Europäischen Union. Unter dem Kommando des Tschetschenen Abu Umar al-Schischani kämpfen mehrere Hundert Kaukasier in Syrien, wobei nach dessen Worten Anfang 2014 bereits 500 kaukasische IS-Jihadisten ums Leben gekommen waren.

Auch Dagestan dient als bevorzugte Nachschubbasis, wobei aus den meisten Kaukasusrepubliken detaillierte Informationen fehlen. Schenkt man den Angaben der Regierung Inguschetiens Glauben, kämpfen in Syrien lediglich 14 Jihadisten aus der kleinen Nordkaukasusrepublik. Diese Zahl nannte deren Präsident Junus-bek Jewkurow unlängst in einem Interview für den Radiosender Echo Moskwy. Dass vom islamistischen Untergrund in Inguschetien, der vor zehn Jahren noch durch spektakuläre Aktionen von sich Reden machte, heute kaum etwas zu vernehmen ist, liegt wohl vorrangig an ihm selbst. Ende 2008 wurde Jewkurow zum Präsidenten Inguschetiens ernannt. Anstatt sich auf die gängigen, harten staatlichen Methoden zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus zu beschränken, versuchte er, das häufig brutale Vorgehen des lokalen Sicherheitsapparates einzudämmen. Dazu gehörten auch Strafverfahren, die die Möglichkeit beinhalteten, Jihadisten vor einer Haftstrafe zu bewahren, sollten sie sich keines schweren Vergehens schuldig gemacht haben. Ungeachtet angebrachter Skepsis führte diese Taktik zu sichtbaren Erfolgen. Das russische Menschenrechtszentrum Memorial verzeichnete zwischen 2009 und 2011 einen Rückgang von in Inguschetien verübten Terroranschlägen auf weniger als ein Siebtel. Dass seit 2013 die Zahl der Todesopfer bei den russischen Sicherheitskräfte im gesamten Nordkaukasus deutlich gesunken ist, erklärt Memorial wiederum mit dem Abzug lokaler Jihadisten nach Syrien.
Dem IS schließen sich jedoch auch Männer und Frauen aus der Wolga-Region und selbst aus den russischen Metropolen an. Für Aufsehen sorgte Ende Mai die Moskauer Studentin und Jihad-Aspirantin Varvara Karaulova. Die Eltern meldeten das Verschwinden ihrer Tochter umgehend der Polizei, so dass die junge Frau in der Türkei am geplanten Grenzübertritt nach Syrien gehindert werden konnte. Im Herbst vergangenen Jahres hatte sie begonnen, an der Moskauer Staatsuniversität Arabisch zu lernen und sich für den Islam zu interessieren. Doch niemand in ihrem familiären Umfeld hatte auch nur die leiseste Ahnung davon, welche Konsequenzen dies nach sich ziehen könnte.

Mit der Ausweitung der Aktivitäten des IS auf russischem Staatsgebiet dürfte der islamistische Untergrund im Nordkaukasus neuen Auftrieb erhalten. »Die Situation kann sich grundlegend verändern«, sagte Varvara Pakhomenko, Expertin der International Crisis Group für den Nordkaukasus, der Jungle World. »In erster Linie ist das eine Frage der Führung und der Methoden. Ebenso kann nun aber auch die Finanzierung auf eine neue Basis gestellt werden. Früher erfolgte sie durch Erpressung von Beamten und Geschäftsleuten, nun haben die Kämpfer die Möglichkeit, Geld direkt vom IS zu beziehen. Der verfügt über reichlich Mittel. Außerdem ist eine Internationalisierung der Zusammensetzung der Kämpfer im Nordkaukasus denkbar«, so Pakhomenko. Früher schon, als in Tschetschenien noch Kriegszustand herrschte, hat es einzelne Jihadisten aus arabischen Ländern in die Konfliktregion gezogen, jetzt aber könnte deren Beteiligung noch größere Dimensionen annehmen.
Ende November vergangenen Jahres hatten zunächst islamistische Anführer in Dagestan, danach in Kabardino-Balkarien und Inguschetien und im Juni diesen Jahres auch in Tschetschenien, einen Eid auf den IS geschworen. Welchen Einfluss die deklarierte Loyalität der kaukasischen Warlords zum IS auf den inneren Zusammenhalt ausüben wird, ist jedoch unklar. Bislang verbanden sich jihadistische Gruppen im Nordkaukasus im Rahmen des »Emirat Kaukasus«, aber eine wirkliche Einheit bildeten sie nicht. »Man kann beim islamistischen Untergrund im Nordkaukasus kaum von einer hierarchischen Unterordnung sprechen und im letzten Jahr hat diese Tendenz weiter zugenommen«, sagte Pakhomenko.
Verstärkt hat sich diese Verselbständigung der jeweiligen Gruppen nach dem Tod Doku Umarows im September 2013. Er hatte über sechs Jahre lang den Posten des Emirs inne. »Kommandeure wechseln ständig, weil sie getötet werden«, so Pakhomenko. »Nach Umarows Tod haben die lokalen Anführer zuerst einen Eid auf Kebekow geschworen. Später, Ende 2014, hat einer nach dem anderen einen Rückzieher gemacht.« Umarows Nachfolger Aliashab Kebekow hatte den IS für dessen Methoden und die aus seiner Sicht fragwürdige Prozedur der Ausrufung des Kalifats scharf kritisiert. Im April wurde er während eines Sondereinsatzes gegen Jihadisten getötet, was den Anhängern des IS im kriselnden »Emirat Kaukasus« offenbar gelegen kam. Erst mit dem Treueid aus Tschetschenien durch dessen Emir Aslan Bjutukajew mit dem Beinamen Chamsat wurde ein formaler Konsens erreicht, der alle Jihadisten im Nordkaukasus auf eine neue Linie einschwören soll.

Womöglich hat ein rein pragmatisches Kalkül dazu geführt, dass sich kaukasische Warlords nun geschlossen am »Islamischen Staat« orientieren oder zumindest versuchen, von ihm zu profitieren. Der Kaukasusexperte Achmet Jarlykapow vom Staatlichen Moskauer Institut für internationale Beziehungen (MGIMO) sieht deutliche Anzeichen für einen Konkurrenzkampf zwischen Anhängern des IS und dem »Emirat Kaukasus«. Er vermutet, dass das besagte Video vornehmlich zur Anwerbung junger Kämpfer dient. Es soll zeigen, dass anstelle des ausgedienten »Emirats Kaukasus« eine neue, viel schlagkräftigere Struktur entstanden ist. Dass der bewaffnete Kampf Faszination auf junge Salafisten ausübt, ist kein Geheimnis. Dabei scheint auch der Zerfall sozialer Strukturen diese Haltung zu verstärken. Die russische Regierung setzt indes weiterhin klassische Methoden im Kampf gegen Islamisten ein und sucht Rat bei Autoritäten des traditionellen Islam. Diese finden zwar Gehör im Kreml, nicht jedoch bei Salafisten.