Xenofeminismus ist der neue Theorie-Hype

Vom Technonihilismus zum Xenofeminismus?

Als vor Kurzem das xenofeministische Manifest des Kollektivs Laboria Cuboniks im Internet erschien, sorgte es für großes Aufsehen. Nun widmet sich der Merve-Verlag dem neuesten Theorie-Hype.

Unter der Überschrift »Die Notwendigkeit neuer Utopien« beschrieb die Cyberfeministin und Posthumanistin Rosi Braidotti schon 1996 das, was war und heute immer noch ist: »Feminist_innen haben die universalistische Tendenz zurückgewiesen, die darin besteht, die männliche Perspektive mit der ›menschlichen‹ gleichzusetzen und so die ›weibliche‹ auf die strukturelle Position des abgewerteten ›Anderen‹ zu beschränken.« Braidottis Aufsatz ist einer von acht in »Dea ex machina«, dem neuesten Band des unermüdlichen Herausgebers Armen Avanessian, der beim Merve-Verlag unter anderem für die Theorie-Hypes des Spekulativen Realismus und Akzelerationismus zuständig ist. Zusammen mit Helen Hester widmet er sich nun dem Phänomen Xenofeminismus.
Die Relektüre des in den neunziger Jahren entstandenen Cyberfeminismus, die der Xeno­feministin Amy Ireland zufolge dessen »positive Bewertung technologischer Entfremdung ernst nimmt«, stieß bei der Vorstellung des Buches im Berliner Schinkel-Pavillon Ende Mai auf so großes Publikumsinteresse, dass sogar Die Welt, die sonst gerne junge Autorinnen in Schaukämpfen zu Pseudodebatten um die Frage »Feminismus – total eklig oder irgendwie okay?« verheizt, interessiert darüber berichtete.
Dem Xenofeminismus geht es darum, »die Entfremdung als erzeugenden Anstoß« wahrzunehmen, Geschlecht ganz abzuschaffen, biotechnisch und hormonell zu hacken oder zumindest »Hunderte von Geschlechtern blühen« zu lassen, während »essentialistischer Naturalismus« als ein »kruder theologischer Kater« so schnell wie möglich ausgetrieben werden müsse. So steht es in dem Text »Xenofeminimus. Eine Politik der Entfremdung« des Kollektivs Laboria Cuboniks, dem zentralen Text des Buches.
Unter großer öffentlicher Anteilnahme wurde dieses Manifest vor kurzem im englischen Original online veröffentlicht. Es nimmt Bezug auf die »schwindelerregende Wirklichkeit«, lädt Begriffe wie Mutation, Beweglichkeit und Veränderung positiv auf und lehnt Entschleunigung beziehungsweise Reduktion als politische Strategie ab. So wird es als »akzelero-feministische« Erweiterung des Akzelerationismus wahrgenommen, einem bislang hauptsächlich von Männern bespielten Feld.
Damit dient es praktischerweise auch als Legitimationsvehikel für den »#Akzeleration«-Herausgeber Avanessian, der sich in der Einleitung seines neuen Bandes darüber beklagt, dass in Diskussionen über Akzelerationismus dieser »in ersten (reflexhaften Abwehr-)Reaktionen als Projekt eines machistischen Technonihilismus denunziert wurde«.
Da trifft es sich doch gut, wenn sich auf die Schnelle fünf neuere und drei alte Texte, die allesamt auf Englisch bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurden, in einem Extra-Büchlein versammeln lassen, die dem lebhaft widersprechen – und das in der Tat gerne vernachlässigte »emanzipatorische Potential gegenwärtiger Technologien« für eine »gegenwärtige Genderpolitik« beleuchten, so Avanessian. Aber wäre es nicht irgendwie noch »gegenwärtiger« gewesen, diese »techno-feministischen Ansätze«, die ohnehin dem Akzelerationismus nahestünden, von Anfang an in den anderen Publikationen zu berücksichtigen, statt sie nun – nach vehementer Kritik – in einem gesonderten Bändchen nachzureichen und damit doch wieder nur die Partikularität ihrer Positionen zu suggerieren?
Diese Strategie erscheint wie das unheimliche Echo der eingangs zitierten Zustandsbeschreibung Braidottis, die den altbewährten Mechanismus erklärt, der privilegierte männliche Subjekte zu Trägern universalistischer Perspektiven macht, während Frauen ausschließlich, wenn überhaupt, über die Devianz der »Anderen« sprechen dürfen. Zumal unschön auffällt, dass in den älteren Büchern Avanessians stets nur im generischen Maskulinum von »neuen Realisten oder Materialisten« die Rede ist, während in »Dea ex machina« alle Texte brav mit Unterstrich durchgegendert sind. Vielleicht ist dies aber auch der Anfang eines Aufbruchs in ein queereres Zeitalter für Avanessian und sein Stammhaus Merve, dessen Geschichte in der vielrezipierten Verlagsbiographie von Philipp Felsch irreführend als eine primär männliche dargestellt wurde.
Anlass für feministische Auf- und Umbrüche bietet »Dea ex machina« durchaus, auch mit der Wiederveröffentlichung altbekannter Texte von den Ikonen Donna Haraway, Rosi Braidotti sowie der Technologie-Verfechterin avant la lettre, Shulamith Firestone, die im Zuge des derzeitigen Revivals des Cyberfeminismus somit auch noch einmal jüngeren Leserinnen und Lesern zugänglich gemacht werden. Obwohl es selbstverständlich schön gewesen wäre, wenn diese drei 1970 beziehungsweise Mitte der neunziger Jahre entstandenen Texte vor dem Hintergrund derzeitiger Entwicklungen zu den dort problematisierten Feldern wie Gen-, Reproduktions- und Entnaturalisierungstechnologien noch einmal neu gerahmt worden wären.
In »Ein Manifest für das Gynozän« plädieren Alexandra Pirici und Raluca Voinea für den Wechsel vom Anthropozän zu einem »neuen geologischen Zeitalter«, dem Gynozän eben, das auf dem weiblichen Prinzip beruhe – also Komplementarität statt Antagonismus, Fürsorge statt Zerstörung, schwache Unperfektheiten statt starke, normalisierte Körper. Nina Power schreibt erhellend und unter Bezugnahme auf historische Kontexte über die Femininisierung von Noise – über Frauen an der Näh- und Schreibmaschine, vom Einstöpseln von Telefonverbindungen bis zum Eintippen von Computerdaten – und damit über die Inbesitznahme weiblicher Körper durch die »Maschine«, die es nun, wie zum Beispiel bei der Produktion von Noise-Musik, als Prozess endgültig umzudrehen gelte. Lisa Nakamura erklärt die meritokratische Illusion der individuellen Fähigkeit zum »guten Spiel«, die im Kosmos der Computerspiele eben nicht dazu führe, dass Frauen und Minderheiten strukturell weniger diskriminiert würden. Dem »Testo-Junkie« Paul B. Preciado (vormals Beatriz) geht es darum, in diesem Zeitalter der »Pharmapornographie« durch die Einnahme des Hormons Testosteron Teil einer »molekularen Revolution« und nicht etwa Mann zu werden, um die beiden Zustände Mann und Frau als »politische Fiktionen« sichtbar zu machen.
Den Unterschied zum Cyberfeminismus alter Schule markiert im xenofeministischen Manifest die Diagnose, dass das Leben in der digitalen Ära nicht etwa, wie damals gehofft, weniger von Identitätskategorien beherrscht sei. Vielmehr seien diese durch die damals noch nicht absehbare Bildbasiertheit heutiger Medientechnologien geradezu totalitär geworden und hätten zu Scham, Anschuldigungen und Denunziation geführt – was als Schubladendenken vehement bekämpft werden müsse. Im Übrigen ist der Xenofeminismus gegen Technologiefeindlichkeit und für Rationalismus beziehungsweise Naturwissenschaften, gegen Kapitalismus und für Intersektionalität, gegen Heteronormativität und für queere und Trans-Politiken, gegen die ökonomische Vereinzelung innerhalb kleinfamiliärer Strukturen und für die Politisierung des »Häuslichen Realismus«, also privater Räume. Und er plädiert für Geduld und gegen das Warten, wenn es um die Schaffung einer neuen politischen Hegemonie geht. Klingt gar nicht so befremdlich, gar nicht so plakativ »xeno«. Der Weg von einem Transparent mit der Aufschrift »Biology is not destiny« aus den sechziger Jahren zu einem Computerbildschirm mit den Zeilen »Wenn die Natur ungerecht ist, müssen wir eben die Natur verändern!« – dem letzten Satz des xenofeministischen Manifests – ist trotz einiger Umwege eben doch kürzer als gedacht.

Armen Avanessian, Helen Hester (Hg.): Dea ex machina. Merve-Verlag, Berlin 2015, 160 Seiten, 15 Euro