Das Ringen um den Parteivorsitz in der AfD

Der ideelle Gesamtwutbürger

Auf dem Parteitag der »Alternative für Deutschland« (AfD) in der Essener Grugahalle kam es zu tumultartigen Szenen. Der Parteigründer Bernd Lucke hat den Flügelkampf verloren, neue Vorsitzende ist Frauke Petry.

Es zeugt von einer feinen Ironie, dass das griechische Referendum über die Spardiktate der »Institutionen« und der Essener Showdown-Parteitag der »Alternative für Deutschland« (AfD) am selben Wochenende stattfanden. Denn eigentlich könnten die Zeiten für die vom Hamburger Ökonomen Bernd Lucke mitgegründete AfD nicht günstiger sein. Schließlich hat die AfD den inzwischen möglichen Euro-Ausstieg Griechenlands schon lange gefordert. Doch die Gründungszeit der AfD als erfolgreiche Partei der Euro-Kritiker »isch over«, wie Wolfgang Schäuble (CDU) sagen würde. Die Gewichtung der Themen hat sich in der AfD seit dem Bundestagswahlkampf 2013 verschoben. In Essen erhielt beispielsweise die rechtskonservative Europaabgeordnete Beatrix von Storch während ihrer Rede großen Beifall für kulturkämpferische Passagen wie jene, wonach die Politik »keinen Cent für Gender-Mainstreaming« ausgeben soll. Die AfD gleicht gegenwärtig einem Unternehmen, das während der Hochkonjunktur des eigenen Produkts statt der bewährten »Euro-Kritik« die alten Ladenhüter des Konservatismus ins Schaufenster stellt und zugleich seinen Vorstandsvorsitzenden absägt.

Bernd Lucke, der als »Galionsfigur« der AfD galt, hat den Flügelkampf verloren. Bei der Kampfabstimmung um den Parteivorsitz gegen Frauke Petry erhielt er nur 38,3 Prozent der Stimmen. Lucke musste während des chaotisch verlaufenden Parteitags sogar aus dem Saal geführt werden. Die Reaktionen auf den Wandel der AfD geben Auskunft über den Zustand des deutschen Parteiensystems. Und gerade anhand der AfD lässt sich trefflich illustrieren, welche Leidenschaften die rechte Fraktion des deutschen Bürgertums antreiben. Die Berichte von den Essener Saalschlachten gemahnen eher an die Herrschaft des Pöbels denn an die gesitteten Manieren vernunftbegabter Professoren und Pensionäre. Die Tumulte auf dem Parteitag legen den Blick frei auf die Kräfteverhältnisse innerhalb jenes rechten Milieus, für das die AfD den ideellen Gesamtwutbürger darstellt.
Immer deutlicher wurden ab 2014 die Unterschiede zwischen den sogenannten Liberal-Konservativen um Lucke und die Europaabgeordneten Hans-Olaf Henkel sowie Joachim Starbatty und den Nationalkonservativen um Frauke Petry, Alexander Gauland und Marcus Pretzell. Diese Trennung der Lager war immer auch künstlich. Lucke lehnte die Bezeichnung »Liberaler« immer ab, auch »islamkritische« Töne waren ihm nicht fremd. Die politischen Lager in der AfD werden vielmehr von ihren jeweiligen thematischen Obsessionen bestimmt. Lucke sorgt sich um die ordoliberale Lehre, während auf der anderen Seite sogar völkische Kyffhäuserromantik kultiviert wird. Auch die strategische Ausrichtung unterscheidet sich: Lucke verkörperte die Rolle des Professors, der Politikern Zensuren in Sachen Volkswirtschaft erteilt. Gauland, der brandenburgische AfD-Vorsitzende, gefällt sich lieber als Bauchredner der Plebejer.
Die Polarisierung im Parteivorstand setzte sich bis deutlich in die Basis fort. »Petry HEIL? Dies (sic!) Dame hat in der Politik nichts zu suchen«, twitterte ein Mitglied während des Parteitags. Die über 3 500 Teilnehmer entschieden auch über den öffentlichen Habitus der Partei. Während Lucke trocken und geradezu klassisch professoral agierte, sprach Petry das hungrige Herz der revoltierenden Rechtsbürgerlichen an. Sie brachte die Parteibasis rhetorisch gegen diejenigen in Stellung, die unter dem Druck des politischen Mainstreams die AfD stubenrein – und damit überflüssig machen wollen.
Bereits in den vergangenen Wochen hatte sich abgezeichnet, dass das Petry-Lager die Oberhand gewinnen würde. Und seit Teile der AfD nicht nur im Osten immer offener mit den »Abendspaziergängern« der Pegida flirteten, erklärten immer mehr wirtschaftsliberale Mitglieder ihren Austritt. Lucke und seine Mitstreiter gründeten im Frühjahr mit dem »Weckruf 2015« einen Verein, der die »liberalkonservativen« AfD-Mitglieder organisieren sollte. Diese »Partei in der Partei«, wie Kritiker sie nennen, könnte nach der Niederlage des Lucke-Flügels womöglich die Plattform für eine Abspaltung von der AfD werden. Genau diese Frage wird bei dem für den 19. Juli angesetzten Treffen der Unterstützer des »Weckrufs« in Kassel auf der Tagesordnung stehen.

Die AfD ist ein Phänomen für die Parteienforschung. Sie wirkte in den vergangenen Monaten wie eine Selbsterfahrungsgruppe, die allen Unmut an der Bundesregierung »rauslassen« wollte. Nicht zufällig fühlten sich Kommentatoren an die Gründungsphase der Grünen erinnert. Doch die Krise der AfD ist nicht nur Resultat des eigenen Flügelkampfes. Längst haben vor allem die Regierungsparteien auf Phänomene wie den Erfolg der AfD reagiert. Und wer braucht derzeit eine »bürgerliche« Partei der »Euro-Kritiker«, wenn sich führende deutsche Zeitungen und Politiker darin überbieten, faktisch einen regime change in Griechenland zu fordern? Die Politik des Ressentiments findet durch diese Zuspitzung weitaus einflussreichere Propagandisten als in der AfD.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) steht beispielsweise in der internationalen Wahrnehmung für eine konsequente Austeritätspolitik – sowie innenpolitisch für eine gesellschaftspolitische Modernisierung der Union, deren Gegner sich in der AfD versammeln. Merkels Strategie der Debattensedierung ist umstritten, war aber bislang erfolgreich. Die Kanzlerin gilt nach einem Wort des Geschäftsführers des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güllner, als »personifizierter Rettungsschirm«. Lucke wirkte dagegen bei seinen Auftritten in den Medien zuletzt bestenfalls wie ein Knirps. Auch der politische Stil ist verschieden. Merkel, so die Pointe eines umfangreichen Porträts im New Yorker, handelt wie eine Naturwissenschaftlerin, die Versuchsanordnungen überprüft und pragmatisch die Lage sondiert. Ihre Anhänger goutieren allzu große Leidenschaften nicht. Merkels Wirtschafts- und Sozialpolitik folgt auch nicht den starren Gesetzen einer zentralen ökonomischen Schule. Lucke fehlt diese politische Flexibilität. Für Ordoliberale wie ihn kommen die Lehrbücher gleich hinter der Bibel. Gerade Lucke gefiel sich in der protestantischen Pose des Dr. Martin Luther: Hier stehe ich und kann nicht anders. Das kam in den eigenen Reihen an. Der Basis der AfD missfiel aber Luckes Imitation von Friedrich II.: Die Mitglieder sollten nach Lust und Laune räsonieren, aber ihm gehorchen. Dieser autoritäre Stil hat zu seinem Scheitern beigetragen.

Und während Merkel in der öffentlichen Rollenverteilung den good cop darstellt, spielt Sigmar Gabriel die Rolle des »bösen Bullen«. Die Auslassungen des SPD-Vorsitzenden zu Griechenland in der Bild-Zeitung hätten auch vom rechten Rand der AfD stammen können. Die AfD hat vielfach die lautstarke rechte Sperrminorität in Deutschland sichtbar gemacht. Ihre Anfangserfolge hatten Signalwirkung auch für die etablierten Parteien. Gerade in der AfD kommt ein besonderer Unterstrom der politischen Kultur zum Ausdruck: In »germanischen Dörfern« wie Freital und Meißen zeigt sich ein Grad der öffentlichen Enthemmung, der auch den Stil des Parteitags der AfD prägte.
Darauf reagieren nun auch die Parteien, die im Bundestag vertreten sind. Vor allem Gabriel thematisiert die Befindlichkeiten der verrohten Minderheit und macht sie zu Themen des Mainstreams. Der einstige Parteibeauftragte für »Pop-Diskurs«, scheint zu hoffen, dass er diese Leute abholen kann, wo sie stehen – rechts von der Mitte. Die demonstrativen Besuche bei Diskussionen mit Pediga-Demonstranten, die Propagierung eines Nationalbewusstseins sowie das Aufgreifen der »Sorge vor Alltagskriminalität und ›Überfremdung‹« im neuen SPD-Vorstandsbeschluss »Starke Ideen für Deutschland 2025« – all das dient nicht der Zurückweisung des Ressentiments, sondern seiner Legitimierung. Gabriel will einen Teil des Publikums zurückgewinnen, der sich längst vom offiziellen politischen Diskurs verabschiedet hat.
Die AfD bietet derweil eine Karikatur des bürgerlichen Selbstbildes. Von Mitte und Maß, von Vernunft, Ausgleich und gesundem Menschenverstand fehlte nicht nur in Essen jede Spur. Einen Einblick in die interne Debattenkultur von Luckes »Weckruf« konnte man schon vor dem Parteitag erhalten. Auf heimlich mitgeschnitteten Tonbandaufnahmen eines »Weckruf«-Strategietreffens, die als »Lucke-Leaks« im Internet kursieren, wird deutlich, wie sich die Teilnehmenden selbst im Stile alter Honoratiorenparteien als Bannerträger der Vernunft feiern und ihre innerparteilichen Gegner dämonisieren. Doch Lucke verkannte die Macht der politischen Leidenschaften in seiner eigenen Partei. Die AfD sei eine »Anti-Euro- und Pegida«-Partei, so der nordrhein-westfälische Landesvorsitzenden Marcus Pretzell in Essen. Für Lucke waren Töne wie diese bislang eher lästiger Teil der Wahlkampfbegleitmusik seiner ökonomischen Modellrechnungen. Verglichen mit Petrys Ausführungen zum Staatsverständnis des Islam wirkt Luckes Aufforderung, jeder solle »nach seiner Façon selig werden« wie die reinste Gutmenschenprosa. Seine Gegner stimmen nun stramme deutsche Marschmusik an.

Ob Frauke Petry sich über ihren Sieg freuen kann, ist allerdings fraglich. Große Erfolge feiert die AfD vor allem als Ostpartei. Und noch während des Parteitags kündigten auf der Facebook-Seite des »Weckrufes« etliche Mitglieder an, die AfD nun zu verlassen. Henkel hat diesen Schritt bereits kurz nach dem Parteitag vollzogen. Scheitert aber die AfD als bundesweit erfolgreiche Partei, scheitert auf lange Sicht auch der Traum von einer demokratischen Partei rechts von der Union. Schon unter Lucke wollte sich kein Dissident des bürgerlichen Lagers der AfD anschließen. Weder Christdemokraten wie Wolfgang Bosbach und Christsoziale wie Peter Gauweiler noch der libertäre Kreis um Frank Schäffler (FDP) drängten zur AfD.
Zuletzt wurde die AfD häufig mit den frühen Grünen verglichen. Zwar sind die »neuen sozialen Bewegungen«, die die »Anti-Parteien-Partei« einst aus der Taufe hoben, nur bedingt mit dem professoralen Gründerkreis der AfD vergleichbar. Aber die Bundeskongresse der damaligen Grünen waren traditionell immer auch Chaostage. Und dass der Vergleich mit dem alternativen Bürgertum Perspektiven eröffnet, ist auch den AfD-Mitgliedern nicht verborgen geblieben. Die Gegenüberstellung fällt für die unterlegene wirtschaftsliberale Honoratiorenriege um Lucke allerdings nicht schmeichelhaft aus. So bemerkte ein Parteimitglied auf der Facebook-Seite von Bernd Luckes »Weckruf« im Hinblick auf die Abspaltungsgerüchte: »Damals verloren die Grünen in ihren Flügelkämpfen rund ein Drittel ihrer Mitglieder. Herbert Gruhl, Mitbegründer der Grünen, war auch dabei und gründete die ÖDP. Wo die Grünen heute und die ÖDP heute stehen, dürfte ja jedem bekannt sein.«